Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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ein »Hereinfall« und ein Vertrag ein »Dreh«. Aber der Argwohn weckte Respekt, Schlauheit Achtung, Beziehungen erregten Furcht, und in einem ewigen Wechsel sich zu halten war leichter als in einem ständigen langsamen und sichern Sterben. Wenn man das Leben so genau und bitter sah wie Erna, konnte man beim Film leichter eine »Position« erringen als beim Theater.

      Der kleinbürgerlichen Primitivität der Branche-Männer galt es zu imponieren: Durch Schönheit? – Sie hatten einen merkwürdigen Geschmack. Durch gespielten Adel der Seele? – Sie wußten nicht, was es ist. Durch einen vornehmen Ton? – Sie überhörten ihn im Lärm, den sie selbst erzeugten. Durch kuriose Allüren? – Sie ahmten sie nach. Durch ein Verhältnis mit einer »Kapazität«? – Das gab es schon. Durch Ausschweifung? – Das war zu leicht verständlich. Durch Talent? – Das hatte jede. Es gab einen Ausweg: alle Mittel zu mischen, zu komponieren und sie je nach Bedarf anzuwenden – und – was niemals schaden konnte – ein wenig »pervers« zu werden. Es hielt die unerträglichen langweiligen Männer fern und gab immer einen Gesprächsstoff. Schließlich führte es so weit vom elterlichen Haus weg, von der Mutter, vom Vater, vom eigenen Blut, daß man fast sicher war, nie mehr in die eigene Vergangenheit zurückzufallen.

      So bekam Erna eine Freundin, zwei, drei Freundinnen.

      Frühere Heiratsvermittler, die zu der Branche gekommen waren, ehe sie selbst wußten, warum, schüttelten den Kopf und erwogen in Gedanken, wie eine so hübsche Frau zur Normalität bekehrt werden könnte. Im Grunde überlegten es alle Männer, sogar die Intellektuellen, die ja mit der Erscheinung vertraut waren. Ihnen gefiel Erna ausgezeichnet. Ihnen gefiel diese Koketterie, die doch an Männer nutzlos verschwendet zu werden schien und eben deshalb die Männer reizte; diese Klugheit, die den schwierigen Gedanken folgen konnte; diese kollegiale Einfachheit, die keine Mühe machte; diese Grazie, die so krank und verloren war; dieses »außergewöhnliche Talent«, dem der »ungewöhnliche Intellekt« nicht schadete, diese ewige Bereitschaft Ernas, sich hinzugeben – aber keinem Mann; die Aussichtslosigkeit, ihr gefallen zu können, und das Bedürfnis, das sie verriet, trotzdem umworben zu werden. Man schätzte sie hoch, wie alles Unerreichbare, vor das die Natur selbst Schranken gelegt hat.

      War Erna mit Geschäftsleuten von der Branche zusammen, so benahm sie sich anders: sie machte die Intellektuellen lächerlich und ihre »Weltfremdheit«. Sie gab zu erkennen, daß diese Zeit Männer der Tat brauche und daß Geldmachen eine größere Kunst sei als Theaterspielen. Sie schwärmte von Amerika und erzählte, daß sie schon als Kind dort gewesen sei. Sie verbreitete Legenden über ihre armselige Abstammung und behauptete, so viel Geld verdienen zu müssen, weil sie noch Eltern und Geschwister auszuhalten habe, die im dunkelsten Stadtteil von Wien lebten. Das hinderte sie freilich nicht, ungarische Grafen zu kennen. Sie verlor keinen Augenblick die Überlegenheit eines Künstlers, obwohl sie vorgab, Talent nicht zu schätzen, am wenigsten ihr eigenes. Sie benahm sich wie ein Aristokrat, der keine Vorurteile zu kennen vorgibt, unter Bürgern, die ihn verehren – nicht, weil er keine Vorurteile hat, sondern weil er ein Aristokrat ist, der keine hat.

      Sie sprach von oben herab und von gleich zu gleich.

      »Sie ist charmant!« sagte Herr Prinz von der Alga GmbH.

      »Ob sie charmant ist!« bestätigte der Herr Direktor Natanson.

      Und beide luden sie – ohne daß einer vom andern wußte – zu einer Spazierfahrt ein.

      Sie ging mit einem, sie ging mit dem andern, ließ jeden von ihnen ihre scheinbare schüchterne Wehrlosigkeit auskosten, jeden die Hoffnung hegen, daß er und gerade er sie zu einem »normalen Leben« zurückzuführen imstande wäre, wenn dieser ersten Fahrt ein paar noch intimere folgen könnten, und bekam von beiden Angebote.

      Kleine Rollen übernahm sie nicht mehr. Dem bedeutenden Rechtsanwalt – dem sie vorläufig nichts zahlte – vertraute sie ihre Geschäfte an. Sie ließ Regisseure warten, lernte reiten, fechten, schwimmen, klettern, springen, Akrobatik am Trapez – alles, was man für den Wilden Westen von Hollywood braucht. Sie wurde manchmal plötzlich krank, erlitt Unfälle, lud jeden Mittwoch maßgebende Männer ein, nahm einen Sekretär auf und nur wenig Einladungen, kaufte Buddhas bei Antiquitätenhändlern, wurde in illustrierten Blättern reproduziert, gab »grundsätzlich« kein Interview, flog im Aeroplan, statt in der Eisenbahn zu fahren, setzte sich wirklichen Gefahren aus, um berühmt zu werden, unterstützte Streikkomitees, trug radikale Gedichte vor, nannte Menschen, die sie geringschätzte, Genossen, ließ sich aber auch mit hohen Offizieren bekannt machen und »konnte auch sie verstehen«, erreichte schließlich, daß man ihr hohe Gagen zahlte, und machte Schulden, hatte Erfolg, Ehren und alle Vorteile, welche die Kunst zu imponieren einbringt.

      Sie begann, nach Hollywood Fäden zu spinnen.

      Ich fühlte niemals den Wunsch, Erna, die immer noch und gleichsam provisorisch am Theater spielte, auf der Bühne zu sehn. Ich könnte eher sagen, daß ich das Bedürfnis hatte, sie nicht in den Rollen zu beobachten, die ihr der Beruf zuteilte, sondern in den anderen, die sie sich selbst ausgesucht hatte und die sie am Tag besser spielte als die offiziellen am Abend und auf der Bühne. Zu einer natürlichen Geringschätzung des Theaters, von der ich glaube, daß sie mir angeboren ist, gesellte sich im Fall Erna die Furcht, ich könnte die Klarheit verlieren, mit der ich sie sah und durchschaute, die Furcht, daß ich, durch das Spiel der beruflichen Komödiantin verwirrt, dem der privaten verfallen müßte. Dieser Vorgang ist nicht selten. Er scheint mir, daß die Schauspieler und besonders die Schauspielerinnen sich einer moralischen Beurteilung entziehen, indem sie sich einer künstlerischen aussetzen, und daß sie, sooft ihnen jemand verfällt, in Liebe, Ergebenheit und Verehrung, sie ihre Eroberung nicht mit den ehrlichen, sozusagen primären Mitteln der Frau gemacht haben, sondern sie der Milde zu verdanken haben, mit der man zum Beispiel ihrer billigen Koketterie begegnet, in Anbetracht ihrer beruflichen Notwendigkeit, in manchen Augenblicken billig zu werden, um wirksam zu sein. Deshalb verzeihen wir eine Geschmacklosigkeit einer Frau von der Bühne eher als einer andern. Mancher Schauspielerin sehen wir, sogar wenn wir Moralisten sind, eine moralische Unzulänglichkeit nach. Und all das nicht etwa aus »Achtung vor der Kunst«, sondern aus einem unbewußten Respekt vor der Anstrengung, die es erfordern muß, sowohl der Menge zu gefallen als auch einen einzelnen nicht abzustoßen. Gegen Erna war ich voreingenommen. Aber weil ich wußte, daß jede Art von Urteilen, also auch Vorurteile mehr oder weniger gerecht sein können, und weil ich an die Gerechtigkeit meines Vorurteils glaubte, hielt ich es, trotz meiner Neugier und meiner Teilnahme an allem, was meinen Freund Arnold betraf, nicht mehr für nötig, mir über die Bühnenkünstlerin Erna ein Urteil zu bilden, das vielleicht günstiger ausgefallen wäre. Dennoch konnte ich eines Tages der Forderung Arnolds nicht widerstehen. Ich ging mit ihm ins Theater. Ich sah Erna in einer Rolle, in der sie dem Publikum gefiel. Es war ein gleichgültiges Stück, dessen Namen und Autor, ja, dessen Inhalt ich vergessen habe. Erna spielte die sogenannte unverstandene Frau eines braven philiströsen Mannes. Mich reizte schon der schamlose Vorwurf dieses Stückes. Denn abgesehen von der Billigkeit der Schablonen: unverstandene Frau und philiströser Mann, die meinen Geschmack langweilten, war mir der Eindruck, den die Argumente des Autors auf die Zuschauer machten, zu körperlich nahe und unangenehm, wie ihr Schweiß und ihr Geruch. Es ist, als wenn tatsächlich die Absonderung der menschlichen Körper abhängig wäre von dem mehr oder weniger künstlerischen oder geistigen Eindruck, den sie empfangen. Die Menschen lachen anders über einen groben als über einen feinen Witz. Die Träne, die eine Frau aus dem Volk über eine plumpe Tragik vergießt, hat eine gröbere Beschaffenheit als jene, die sie im Anblick einer echten, also stilleren Trauer verlieren könnte. In diesem Stück war Erna nun unmittelbar die Ursache der Stimmungen, die das Publikum beherrschten. Sie spielte ihre Rolle gewiß glaubhafter, als sie der Autor geschrieben hatte. Aber gerade weil sie so außerordentlich geeignet war, die plumpen Absichten eines plumpen Schriftstellers so zu verfeinern, daß sie fast wie künstlerische erschienen, erkannte ich die Erna aus dem Literatencafé, ertappte ich sie geradezu. Sie besaß etwa die Fähigkeiten einer geschickten Vorstadtmodistin, mit billigem Material nahezu vornehme Wirkungen im Schaufenster zu erzielen. Eine doppelte Möglichkeit zu gefallen. Die Leute sind von der Billigkeit des Stoffs angezogen und von dem falschen Beweis, daß er trotzdem vornehm sein kann.

      Im


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