Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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Andreas sah zum Fenster hinaus wie einer, der seinem Tod entgegenfährt und Abschied nimmt von den bunten Bildern der Erde. Ein bißchen traurig war Andreas. Er sah selbst die häßlichen Bretterzäune und die Reklamebilder mit dem Schmerz eines Abschieds für ewige Zeiten.

      Und dennoch erwachte eine neue Hoffnung in seiner Seele, als er den Bahnhof verließ. Er sah wieder den freudigen Wirbel der lebendigen großen Stadt. Er sah über dem Gewirr der Wagen und Pferde und Menschen die neue Sonne des kommenden Frühlings. Und obwohl er ein weißhaariger Krüppel war, gab er seinen Trotz nicht auf. Todgeweiht, blieb er am Leben, um zu rebellieren: gegen die Welt, die Behörden, gegen die Regierung und gegen Gott.

      Willi schlief nicht, obwohl es Mittagszeit war und die Stunde des besten und tiefsten Schlafs. Andreas brauchte nicht an die Tür zu klopfen. Willi hatte das Aufschlagen der Krücke im Hausflur gehört. Er öffnete und erschrak vor dem weißen Haar.

      Aber mit der frechen Heiterkeit, die ihm eigen war und die Andreas freundlich entgegenschlug wie ein gutgemeinter, freundschaftlicher Stoß vor die Brust, fand Willi ein wohltätiges und lautes Scherzwort. Er traktierte Andreas mit Wurst und Witzen. Er holte eine große Schere, band ein Handtuch um Andreas und begann mit den Bewegungen eines Barbiers, den weißen Bart zu stutzen. Er machte ihn viereckig und ehrwürdig. Andreas sah sich im Spiegel und empfand Ehrfurcht vor seinem eigenen Angesicht. »Du siehst aus wie ein Waisenvater!« sagte Willi.

      Hierauf begann Willi sich anzuziehen. Sehr erstaunt sah Andreas einen hellkarierten Anzug aus dem Dunkel des Kleiderkastens ans Licht kommen; einen hellbraunen, steifen Hut mit einem breiten gerippten Seidenband und eine seidene sonnengelbe Krawatte. Bald stand Willi da wie ein Modell aus einer Schneiderzeitung. Seine übermäßig großen Hände steckten in braunen Lederhandschuhen, deren Nähte leise krachten. Unter dem Arm hielt er ein schlankes, bewegliches, gelbes Baumbusstöckchen mit einem goldenen Knopf. Dann sagte Willi: »Leb wohl! Ich geh jetzt kontrollieren! Schlaf dich aus indessen! Nur keine Sorge!« Er grüßte mit dem Hut und schloß die Tür ab. Dann, ging er »kontrollieren«.

      In den fünf Wochen hatte sich nämlich eine große Änderung in Willis Leben vollzogen. Manchmal geschieht es, daß uns plötzlich die Lust packt, tätig zu sein und Geld zu verdienen, auch wenn wir von Natur den Müßiggang lieben. Sei es, daß der Frühling den neuen Tatendrang in uns weckt oder daß unsere Natur, der Faulheit müde, nach Abwechselung verlangt, ohne jede Rücksicht auf die Wandlung der Jahreszeiten – eines Tages treibt uns ein Zufall aus unserer Gleichgültigkeit, wir betreten die Straße, wir kehren in die Welt zurück, um uns in ihr zu tummeln, mit aufgeweckten, frischen und ausgeruhten Sinnen.

      Ein Zufall rüttelte Willi auf. Er hatte immer Unternehmungsgeist besessen. Er war sich seiner Gaben bewußt. Er hatte schon oft daran gedacht, die Konjunktur dieser Zeit auszunützen. Er sah, wie junge Leute mit stumpfen Hirnen und nur mit dem Willen, Geld zu verdienen, eine gleichgültige Sache anfingen, einen Handel mit Streichhölzern oder Toiletteseife zum Beispiel, und wie sie es zu einem Vermögen brachten. Er hatte es nicht nötig, sich wegen seiner alten Sünden vor der Polizei ewig verborgen zu halten. Er besaß die Fähigkeit, Pässe zu fälschen, und er sah längst nicht mehr so aus wie vor vier Jahren, als er in der Basteistraße eingebrochen war. Heute klebte übrigens sein Bild nicht mehr an den Litfaßsäulen der Stadt. Er brauchte nichts mehr zu fürchten.

      Diese Gedanken kamen ihm in einer Nacht, als Klara heimkehrte und ihm erzählte, der Alte aus der Herrentoilette des Cafés Excelsior wäre gestorben. Klara schlug ihm schüchtern vor, vielleicht vorläufig, für einige Wochen nur, in der Herrentoilette den Dienst zu übernehmen. Das lehnte Willi ab. Der Frühling kam. Die Rennsaison begann. Da gab es viel zu verdienen. Im Frühling setzte sich ein Mann von seinen Fähigkeiten nicht freiwillig in die Scheißbude.

      Aber ein Einfall erleuchtete ihn plötzlich.

      Drei Tage blieb Willi unterwegs. Zuerst besorgte er sich in einem Laden, in dem eine schwerhörige Witwe Kaffeebohnen und Malz verkaufte, Betriebskapital. Das verursachte weiter keine Mühe. Er trat ein, neigte sich über den Ladentisch, gab sich verliebt, bediente auch ein paar Kunden, ohne daß ihn die Witwe dazu aufgefordert hätte. Dann half er ihr den Laden schließen, knipste das Licht aus und nestelte mit der Linken an dem Rock der Frau, während er mit der Rechten die Schubladen öffnete. Dann begab er sich in die großen Kaffeehäuser der Stadt, sprach mit den Wirten und Direktoren und entdeckte überall Mißstände: Die Toiletten waren nicht gut oder überhaupt nicht verwaltet, er war entsetzt über eine solch gefährliche Vernachlässigung der Hygiene und versprach, sich der Sache anzunehmen. Am nächsten Morgen klaubte er Invaliden und Nichtstuer von den Straßen auf und wählte unter ihnen die zuverlässigsten mit kundigem Blick und unerbittlicher Strenge. Da er nur wenig geeignetes Material fand, scheute er den weiten Weg zum Altersversorgungsheim auch nicht. Dort lebten die anständigsten Greise und Greisinnen. Er schrieb Zettel aus, gab jedem ein geringes Angeld, lief in die Toilettegeschäfte, bestellte Seifen, Nagelfeilen, Zahnpulver, Schwämme und Bürsten für die großen Kaffeehäuser und entdeckte, als er draußen war, daß er, fast ohne es zu wissen, ein paar Flaschen Kölnisch Wasser mitgenommen hatte. Diese brachte er zuerst in Sicherheit und nach Hause und stellte sie in Pyramidenform auf dem Brett über seinem Lager auf. Dann teilte er den Kaffeehausverwaltungen mit, daß er die »Organisation sämtlicher Garderoben, Herren-und Damentoiletten« übernommen habe. Und nach drei Tagen sammelte er seine ersten Einkünfte. In jedem Kaffeehaus saßen seine Leute. Hatte er die Toiletten schon besetzt gefunden, so errichtete er Garderoben. Er ging in seinem hellkarierten Anzug zur Behörde, fuchtelte mit dem Stöckchen, lud Wachtmeister zu einem Glas Bier und ließ Schnaps folgen und bekam eine Konzession auf den schönen Namen: Wilhelm Klinckowström, der eigentlich einem gefallenen Soldaten gehörte, dessen Militärpapiere sich Willi gesichert hatte. Von nun an hieß er: Herr Klinckowström, und manchmal setzte er noch ein bescheidenes »von« vor diesen ohnehin sehr anmutigen und noblen Namen. Er mietete ein »herrschaftlich möbliertes Zimmer« im vornehmsten Viertel der Stadt, kaufte eine Schreibmaschine, und Klara wurde seine »Sekretärin«. Sie kam jeden Tag aus ihrer alten Wohnung in die neue und lernte mühsam Maschine schreiben. Willi diktierte gleichgültige Briefe mit erhobener Stimme und schrie von Zeit zu Zeit. Seine Wirtin bezahlte er pünktlich, dafür verlangte er äußerste Sauberkeit unter der Devise: Ordnung muß sein. Klara gab ihre Stellung und ihren nächtlichen Beruf auf. Willi erwies sich als ein treuer und sorgfältiger Kavalier. Sie wollten im Mai heiraten. Willi kaufte Kleider, Sommerhüte, Goldkäferschuhe und seidene Strümpfe, Pyjamas und Busenhalter aus den feinsten Geweben. In jedem »seiner« Lokale war Willi ein gerngesehener und freigiebig bedienter Stammgast. Er war sehr nützlich. Mit der Polizei wußte er zu reden, Musikanten und Kapellmeister billig zu verschaffen. Nachdem ihm eines Tages der Gedanke gekommen war, nach Südamerika auszuwandern, begann er überall zu erzählen, daß er fünfzehn Jahre in Brasilien gewesen sei. Er schilderte haarklein das Leben in Brasilien und malte das Land so wunderbar, daß er immer stärkere Sehnsucht verspürte auszuwandern. Diesen Plan teilte er Klara mit. Sie war seit einigen Wochen sehr glücklich und mit allem einverstanden. Sie entsann sich sogar einer alten Tante und machte ihr einen Besuch mit Willi, den sie als ihren Gemahl, Herrn Klinckowström, vorstellte. Die Tante bekam regelmäßige kleine Unterstützungen. Die Geschäfte florierten. Willi kaufte Puppen aus Stoff und Seide für die Damentoiletten. Sie fanden guten Absatz. Man beobachtete, daß seit kurzer Zeit alle Frauen, gesetzten und jüngeren Alters, aus den Toiletten mit großen Puppen zurückkehrten. Es gab viel zu tun. Gelegentlich starb ein Greis, der, mitten aus seiner trägen Altersstille herausgeholt, das geräuschvolle Nachtleben nicht vertrug. Ersatz mußte man schaffen. Einige waren unehrlich. Willi übergab sie der Polizei und kannte kein Mitleid. Ordnung mußte sein.

      So wunderbar hatte das Schicksal Willis Leben verändert. Er wurde ein wohlhabender Mann. Nur sehr selten stahl er noch, um seine Geschicklichkeit zu erproben. Meist kaufte er, ohne lange zu überlegen, »das Beste an Qualität«. Er liebte Südfrüchte. Er rauchte Brasilzigarren. Aus alter Gewohnheit trug er noch seinen Schlagring in der Tasche, mit dem er viele Abenteuer gemeinsam bestanden hatte. Er war sehr sorgfältig rasiert und gewann mit der Zeit Vergnügen an gutgeschnittenen und dunklen Anzügen von sanfter und vornehmer Unauffälligkeit. Der teuerste Schneider nähte für ihn. Manchmal trug Willi


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