Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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überflüssige Briefe und Rechnungen. Schließlich kam er auf die Idee, Artikel für Zeitungen zu schreiben. Er schrieb »Erlebnisse in Verbrecherkreisen«, die den Stempel der Aufrichtigkeit und der Sachkenntnis trugen und deren stilistische Unvollkommenheit in den Redaktionen korrigiert wurde. Willi besuchte die Redakteure. Als ein alter Brasilianer und Allerweltskerl brauchte er keinen fehlerlosen Stil zu schreiben. Das war ohne weiteres verständlich.

      Willi beschloß, Andreas im Café Halali einzustellen. Dieses Lokal war gerade dabei, seiner ursprünglichen Bestimmung untreu zu werden und das Geschäft auf eine neue Basis zu stellen. Früher war es ein Stammlokal der alten Jäger von Beruf und Jagdliebhaber gewesen. Jetzt führte Willi eine Salonkapelle ein. Die alten Jäger wanderten allmählich in die ewigen Jagdgründe ab. Eine neue Kundschaft junge Leute und frischgeschminkte Mädchen, begann, der Alten Plätze einzunehmen. Der Inhaber ließ eine Wand durchstoßen und machte aus zwei stillen Zimmern ein lautes. Willi kam auf die Idee, eine Estrade in halber Wandhöhe für die Musik einzurichten. Dazu bedurfte es einer Genehmigung der Baupolizei. Baupolizei? Es war für Willi eine Kleinigkeit. Er bekam die Erlaubnis, einen ganzen Balkon zu bauen. Auch das Geld verschaffte er zu guten Zinsen, er verdiente Provision von beiden Seiten. Für die Garderobe gewann er eine ältere Dame aus einer städtischen Bedürfnisanstalt, die bereits fünf Jahre ihrem traurigen Beruf oblag und gerade in jenes Alter gekommen war, in dem die weibliche Seele einen späten Frühling feiert und nach Abwechselung verlangt. Nun fehlte nur noch ein Greis für die Herrentoilette. Andreas Pum besaß, nach Willis Ansicht, für diesen Beruf hervorragende Qualitäten.

      Am Abend holte Willi Andreas in die neue Wohnung. Er ließ den Alten schwören, daß er nie etwas von der Vergangenheit verraten würde. Willi war von diesem Tage an als Herr von Klinckowström anzusprechen. Andreas staunte über diese großartigen Veränderungen. Erschüttert von der neuen Herrlichkeit, begann er fast zu glauben, daß Willi ein wirklicher Herr von Klinckowström war. So nannte er ihn bei diesem Namen, von dessen Glanz auch etwas auf denjenigen fiel, der ihn aussprach. Zu Klara sagte er: gnädige Frau Klinckowström. Willi leitete die geschäftliche Diskussion ein. »Wo ist deine neue Uniform?« fragte er. »Zu Hause, bei – ihr«, sagte Andreas. »Hol sie«, befahl Willi. Aber Andreas hatte Furcht. Also beschloß Willi, auf der Stelle zu Frau Katharina im Auto zu fahren.

      Der Unterinspektor Vinzenz Topp öffnete. Daraus schloß Willi, daß Andreas eigentlich diesem jungen Mann sein ganzes Unglück zu verdanken hatte. Er stellte sich als Herr von Klinckowström vor und bemerkte freudig, daß ein kurzes Zucken durch die sehnige Gestalt des Unterwachtmeisters lief und daß seine Brust sich leise wölbte. Hierauf forderte er die Kleider für Andreas und »überhaupt dessen Besitz«. Es stellte sich heraus, daß Katharina den Leierkasten längst verkauft hatte. Die neue Uniform war noch vorhanden. Willi drohte mit einer Anzeige wegen des verkauften Leierkastens und erreichte, daß man ihm die Uniform sofort übergab. Er pfiff, und der Chauffeur, mit dem er dieses Zeichen verabredet hatte, kam. Willi überreichte ihm den Anzug, sagte drohend »Guten Abend« und ging. Der Unterinspektor war gewiß, soeben den Besuch eines großen Mannes erhalten zu haben.

      Die Uniform allein genügte noch nicht. Andreas erzählte, daß er sein Kreuz nicht mehr besitze. Willi behauptete, ohne Orden könne man keinen Dienst in der Toilette versehen. Er kannte die geheimen Zusammenhänge zwischen Bedürfnisanstalten und Patriotismus und wußte die ornamentale Wirkung eines dekorierten Invaliden im Klosett zu schätzen. Am nächsten Morgen kaufte er in einem Ordenladen fünf Auszeichnungen, darunter einen Stern aus Gold und Silberflitter an blauroten, rot-weiß gestreiften und knallroten Bändern. Das mußte Andreas an die Brust nähen.

      Zwei Tage später trat er seinen Dienst in der Toilette des Cafés Halali an.

      Zwischen blanken Kachelwänden und wandhohen Spiegeln, neben einer blauen Personenwaage, saß Andreas Pum. Von den Wasserhähnen über den drei Porzellanbecken tropfte es in regelmäßigen Abständen, das plinkende Geräusch unterbrach die weiße, unendlich saubere Stille, und es war, als fielen Tropfen der Zeit in den Raum der Ewigkeit. Auf einem Tischchen lagen Handtücher, flachgebügelt, übereinandergeschichtet, und Seifenwürfel bildeten eine kunstvolle, sehr hohe und dennoch sichergegründete Pyramide. In einem gläsernen Wandkasten sah man Parfümflaschen, Würfelspiele, Trendel aus Messing und Stahl, ein Dominospiel für die Tasche und kleine Zauberspielkarten. Das alles bekam Willi »in Kommission«. Andreas verkaufte es. Um die »Toilette« interessanter zu machen, hatte der Cafetier einen Papagei angeschafft. Er hieß Ignatz und besaß einen grünen Rücken, der violett schimmerte, eine rötliche Mütze und eine weiße Halskrause. Der Papagei sagte »Guten Tag« und »Guten Abend«, sooft ein Herr die Toilette betrat. In den Pausen, besonders an Nachmittagen, wenn keine Gäste kamen, unterhielt sich Andreas mit dem intelligenten Vogel. Sie hatten sich allerhand anzuvertrauen, Andreas und Ignatz. Der Papagei saß im Käfig, dessen Tür offenstand, aber es fiel ihm nicht ein, etwa weitere Ausflüge zu unternehmen als bis zum Wandkasten, der oben in der Mitte einen dreieckigen Giebel hatte.

      Auf der Spitze saß der Papagei oft und rieb mit einer Kralle kunstvoll seinen Schnabel.

      Andreas dachte an die Zeit, in der er sich zu seinem Leierkasten einen solchen Vogel gewünscht hatte. Er stellte fest, daß viele Wünsche spät in Erfüllung gehen, wenn der Mensch bereits alt und fast wunschlos geworden ist. Dieser Papagei war sehr musikalisch. Wenn die Musikkapelle im Café spielte, begann Ignatz zu pfeifen. Es gab Melodien, die er besonders liebte, und andere, die ihn aufregten. Erklang eine, die ihm unsympathisch war, so sträubte sich sein Gefieder, es bauschte sich sein rotes Samtkäppchen, und er begann, mit den Flügeln so wild um sich zu schlagen, daß seine bunten Federn flogen und die Seifenpyramide leise zitterte. Das ereignete sich bei den Klängen der Nationalhymne in einem ganz erstaunlichen Maße und bei einigen kriegerischen Märschen. Es schien, daß Ignatz ein Pazifist war und unpatriotisch bis zu einem sträflichen Grade. Darüber freute sich Andreas im stillen. Denn auch er liebte die patriotische Musik nicht mehr, und er dachte mit bitterem Hohn an jene Zeit zurück, in der er selbst noch durch seinen Leierkasten diese Melodien verbreitet hatte.

      Ja, ja, Ignatz, wir sind Rebellen, wir beide. Leider kann es uns nichts nützen. Denn ich bin ein alter Krüppel, und du bist ein ohnmächtiger Vogel, und wir können die Welt nicht ändern. Wenn ich dir erzählen wollte, wieviel ich im Leben gelitten, was ich im Krieg durchgemacht habe und im Gefängnis, wie mir in der Zelle die Augen aufzugehen begannen und wie ich endlich entschlossen war, ein kräftiger, tätiger Heide zu werden, bis ich im Spiegel des Vorortzuges einsehen mußte, daß ich zu alt geworden war! Alle meine Freunde leben noch und sind kräftig und jung. Ich aber bin dem Tode verfallen, und wenn du mit deinen Flügeln so wild um dich schlägst, so glaube ich schon, sein Rauschen hinter meinem Rücken zu hören.

      Der Papagei sah versonnen und träumerisch und vollkommen ruhig Andreas an. Dann begann er zu pfeifen, als wollte er den alten Mann erheitern. Er pfiff ganz willkürlich, nach eigenen Tongesetzen, als würfe er die Sprossen der Tonleiter durcheinander, und besonders schrille Laute wiederholte er schnell und ohne Pause. Dann sprang er mit einem leisen Schrei Andreas auf die Schulter und bat um Zucker, den Andreas in viele kleine Stückchen teilte.

      Es ging abwärts mit Andreas. Er sah aus wie ein Siebzigjähriger. Sein weißer Bart reichte knapp bis zu den bunten Ordensbändern auf seiner Brust, die ihm das Ansehen eines alten Schlachtenlenkers verliehen. Weißes Moos wucherte in seinen Ohren. Er hustete laut und trocken und war nach jedem Hustenanfall matt wie ein fieberkrankes Kind und einer Ohnmacht nahe. Er mußte ein paar Minuten sitzen, und um ihn kreisten die Spiegel, die blanken Kacheln und die Lichter, zuerst schnell, dann immer langsamer, bis sie endlich an ihrem gewohnten Ort stehenblieben. Diese seltsamen Bewegungen erinnerten Andreas an die letzten Drehungen eines Karussells, das aus den verschütteten Tagen seiner Kindheit auftauchte. Dazu kam die Musik aus dem Café, gedämpft, wie aus einem Jenseits, und nur anschwellend, sooft ein Gast die Tür öffnete. Sehr oft schlief Andreas ein. Er träumte viel und sehr deutlich, und alle Bilder des Traumes behielt er scharf im Gedächtnis, wenn er erwachte. Er wußte bald nicht mehr zu unterscheiden zwischen Wachheit und Traum, und er nahm geträumte Bilder für wirkliche Ereignisse und diese für Träume. Er sah die Gesichter seiner Gäste gar nicht, er putzte ihre Kleider, reichte ihnen


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