Der große Absturz. Louis-Karl Picard-Sioui

Der große Absturz - Louis-Karl Picard-Sioui


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       Dong! Ding, dong! Dong!

      Schweigen im Walde.

      Ich schrei noch lauter, um der Kirche Konkurrenz zu machen, aber ich bin hundertpro sicher, dass ich allein in der Bude bin.

      Ich reib mir den Schlaf kiloweise aus den Augen und setz mich mit letzter Kraft auf. Die blutroten Wände, die Sperrholzmöbel, die Poster, Justin Timberlake neben Sitting Bull. Ich bin bei Lydia, so sicher wie das Amen in der Kirche. Schon wieder. Das wolltest du doch bleiben lassen, jetzt merks dir mal, Alter. Aber da denkste halt eher dran, wenn du verkatert flachliegst, als wenn du hacke bist. Und geil. Trotzdem, das wird ja langsam zur Gewohnheit.

      Ich hieve meinen Hintern aus dem Bett und mache mich auf die Suche nach den Shorts und was ich sonst so anhatte. Schnitzeljagd war nie meine Stärke, und weil mein Kopf immer noch explodieren will, starte ich die Expedition erst mal aufm Klo.

      Ach nee, sie hat mir ein Post-it an den Spiegelschrank geklebt.

      Finger weg von den Blauen.

      Oha! Da hat mich jemand durchschaut! Ich will mal nich so sein und geb mich mit den Weißen und den Roten zufrieden.

      Sind ja schließlich keine Smarties.

      Endlich hält die Kirche das Maul, also könnt ich auch auf die Pillen verzichten, aber sicher ist sicher.

      Nach drei Runden durch die Wohnung hab ich alles eingesammelt. Die Shorts lagen im Bett, das T-Shirt im Flur, die Unterhose im Wohnzimmer.

      Muss ganz schön abgegangen sein. Respekt, Wabush.

      Ich heb einen Fuß, steig in die Unterhose, und als ich ihn wieder abstellen will, ist da was Kaltes, Metallisches, Bewegliches drunter, und ich knall voll auf den Hintern. Shit! Meine Kopfschmerzen schießen ins Steißbein.

      Fuck, Lydia, jetzt schmeiß ich doch ein paar Blaue ein. Du hättest deinem kleinen Scarface ja sagen können, er soll seine Matchbox-Autos nicht überall rumfliegen lassen.

      Ich rapple mich auf und halte dabei die Luft an, weil ich mir einrede, dass es dann weniger weh tut. Da seh ich das zweite Post-it auf dem Wohnzimmertisch.

       Augen auf im Straßenverkehr!

      Ich muss lachen.

      Höchste Zeit fürn Abgang.

      In dem Moment vibriert mein Telefon.

      Nix da! Wabush, du gehst da nicht ran. Du kennst die Regeln. Am Morgen danach ist Funkstille. Okay, sie ist jung und sexy, okay, sie bringt dich sogar in ihrer Abwesenheit zum Lachen. Hab aber trotzdem keinen Bock, meinen Pick-up jeden Abend in derselben Garage zu parken. Vor allem nicht, wenn das heißt, für den kleinen Waso Ersatzpapa zu spielen. Hätt ich Kinder gewollt, hätt ich welche in die Welt gesetzt, und zwar vor meinem Vierzigsten. Kitchike ist tote Hose, mausetot, das ist keinem Nachwuchs zumutbar. So ein Erbe willst du keinem mitgeben: zerrissen zwischen der Stadt und dem Reservat, der glorreichen Vergangenheit und der kolonialen Gegenwart, keine Träume, keine Hoffnungen, gefangen in bescheuerten Kleinkriegen, umzingelt von rassistischen Frenchies, regiert von Möchtegernmafiosi von Kanadas Gnaden. Doppelt gearscht ins Leben starten, das wünsche ich keinem.

      Ich schnapp mir den Pulli vom Fernseher. Zieh die Socke an, die im Flur rumliegt. Aber wo ist ihre Zwillingsschwester? Ich such in der Wohnung rum wie ein Blöder und find sie nicht. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass ich gestern beim Rausgehen nicht nur eine anhatte.

      Shit, ich will hier nicht den ganzen Tag rumhängen. Außerdem krieg ich langsam Hunger.

      Ich schleich zum Kühlschrank, hab den Griff schon in der Hand, da schreckt mich der Klingelton von meinem Handy auf. Scheiße, Mann. Sie hat mir auf die Mailbox gesprochen. Das hat mir grad noch gefehlt. Jetzt klingelt mich auch noch mein Magen an, also raff ich mich auf und öffne den Kühlschrank. Kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ganz oben, unter einem Päckchen mit geräuchertem Elchfleisch in Scheiben, liegt die fehlende Socke. Und, klar, ein gelbes Post-it.

       Überraschung!

      Bekloppt, diese Lydia. Wird Zeit, dass ich mich vom Acker mache. Ich zieh die Socke an, viel zu kalt, nicht schön, und schling ein paar Scheiben Elch runter. Ich glaub, das sollte ein Geschenk sein, und falls nicht: Rache ist süß.

      Dann hab ich zugegebenermaßen einen kleinen Moment der Schwäche. Oder der Erkenntnis. Oder ist es Neugier? Egal. Auf einmal will ichs wissen, entsperr mein Handy und hör mir die Nachricht an. Ist gar nicht von Lydia, falls sie nicht über Nacht mutiert ist. Nee, von einem Typen, den ich ziemlich sicher nicht kenne:

      »Geronimo, der Alte sagt, du bist im Boot.

      Treffen im Halloway am 17. um Mitternacht.

      Erkennungszeichen lila Halstuch.

      Sei diskret.«

      Mir läufts kalt den Rücken runter. Und das hat nix mit der Kühlschranksocke zu tun. Dann war das also nicht nur Gerede …

      Jetzt ist es so weit. Der Regimewechsel kommt. Die Gerechtigkeit Gottes wird unser Reservat treffen, und wies aussieht, wirst du derjenige sein, der das Schwert führt. Handeln, Pierre, nicht immer nur quatschen. Jetzt oder nie.

      Ich steck das Handy ein und geh zur Haustür. Aber bevor ich sie öffne, muss ich noch kurz vor dem Foto Halt machen, das neben der Tür hängt. Lydia posiert strahlend mit dem kleinen Waso auf dem Arm. Auf dem Bild ist er noch keine zwei. Hatte seine Narbe noch nicht. Schön war er da, vollkommen.

      Kitchike hats drauf, alles kaputtzumachen, was gut und schön ist. Dir den Bauch aufzuschlitzen, dass du durch deine eigenen Eingeweide watest. Mann, Wabush, auch wenn du dich nie fortpflanzen wolltest: Das liegt halt in der Natur des Menschen. Wir sind weiter da. Und es gibt kleine Scheißerchen wie Waso, die hier großwerden müssen, die hier überleben müssen.

      Keine Ahnung, ob es an den Post-its liegt, dem geschenkten Elchfleisch, dem Matchbox-Ausrutscher oder einfach am Kater, aber auf einmal hab ich Tränen in den Augen. Bitterböse Tränen der Wut. Wenn ich in meinem Scheißleben irgendwas tun kann, damit unsere Kids in diesem Niemandsland von Reservat eine Chance kriegen – den Zug werd ich nicht verpassen, das schwör ich.

      Die Uhr tickt.

      Ich knalle die Tür zu.

      Pass bloß auf, Kitchike.

Kapitel 2

      Eines schönen Morgens stellte Jean-Paul Paul Jean-Pierre gleich nach dem Aufstehen fest, dass sich ein klaffendes Loch bei ihm häuslich eingerichtet hatte. Er hatte keine Zeit für einen Kaffee oder einen Toast, nicht mal für eine Zigarette. Das schwarze Loch hatte sich in aller Frühe selbst eingeladen und das Sofa mit Beschlag belegt, dieses Sofa, das Jean-Paul Paul Jean-Pierre nie so ganz in den Griff bekommen hatte, ganz gleich, wie viele Stunden oder Tage oder Wochen er ihm widmete.

      Jean-Paul Paul Jean-Pierre war arbeitslos. Er hatte durchaus schon gearbeitet, unzählige Berufe durchprobiert, aber nichts hatte ihm zugesagt. Jean-Paul Paul Jean-Pierre machte gern etwas mit den Händen, er war ein echter Handwerker, übte sein Handwerk aber nicht mehr aus. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nicht besonders gebildet. Vom Schulunterricht, den Zahlen und Buchstaben in den Büchern, dem ganzen »Stoff ohne Stoff«, wie er es nannte, war nichts in seinem Kopf hängen geblieben. Er erklärte sich das gern so, dass diese »Intellektuellereien« – davon war er überzeugt – nichts für Indianer waren.

      Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nämlich ein Indianer. Das Wort hatten die Weißen sich ausgedacht, als sie kapierten, dass Kolumbus nicht in Indien gelandet war, dass die Ureinwohner also keine Inder waren. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war ein Indianer aus Nordamerika. Ein eingeborener autochthoner indigener nordamerikanischer Indianer, Angehöriger der Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte. Gebürtig aus Kitchike. Er stammte von hier, wohnte hier und hatte hier geheiratet wie seine Eltern, sich dann scheiden lassen und was mit der Freundin des Nachbarn angefangen.

      Anders als Jean-Paul Paul


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