Der große Absturz. Louis-Karl Picard-Sioui

Der große Absturz - Louis-Karl Picard-Sioui


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Angehörige der Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte, aber sie war eine Algonquin, besser gesagt, eine Anishnaabe. Vor allem kam sie aus der Stadt. Der echten, der wahren, der Großstadt. Nicht aus dem Provinznest nebenan, das die Leute von Kitchike für eine Stadt hielten. Die Freundin des Nachbarn kannte nur wenige Leute in Kitchike. Und als der charmante Nachbar sich immer mehr als ständig ausrastender Aggro-Alki entpuppt hatte, war sie eben zu Jean-Paul Paul Jean-Pierre weitergezogen. Und wie sie so auf seinem Sofa saß und keine Anstalten machte, es wieder zu verlassen, beschloss er, sich ihren Kummer und ihr Leid anzuhören und sie zu trösten. Und dann blieb sie einfach da, ein paar Stunden, eine Nacht, ein Jahr. Ließ sich in seinem Heim, Hirn und Handeln häuslich nieder.

      Je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm jetzt alles. Die Freundin des Nachbarn – Julie-Frédérique – hatte sich eines schönen Morgens, als er gerade aufgestanden war, bei ihm eingerichtet und auf demselben Sofa Wurzeln geschlagen, wo nun das schwarze Loch klaffte. Jean-Paul Paul Jean-Pierre fragte sich, ob er die Sitzgelegenheit dafür loben sollte, dass sie Julie-Frédérique eingefangen hatte, oder dafür tadeln, dass sie jetzt das schwarze Loch in die Falle gelockt hatte. Dieses Möbel entwickelte wirklich schlimme Angewohnheiten. Es musste endlich gezähmt werden, um klarzustellen, wer hier der Herr im Haus war. Er musste sich Respekt verschaffen, doch Jean-Paul Paul Jean-Pierre hatte von der Psyche eines Sofas keine Ahnung. Er hatte von Psychologie insgesamt keine Ahnung. In Kitchike war das kein besonders weit verbreitetes Fachgebiet.

      Wollte man psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, musste man die Linie überqueren, die unsichtbare Grenze, die das Reservat von der benachbarten Ortschaft trennte. Diesen Graben hatte Jean-Paul Paul Jean-Pierre lange gesucht, nachdem er ihn als roten Strich auf der Landkarte des Ministeriums gesehen hatte. Und wenn einer die staubigen Straßen der Old Town in- und auswendig kannte, dann er. Die rote Linie hatte er konkret allerdings nie finden können. Nachdem er Landvermessern einmal live bei der Arbeit zugesehen hatte, lautete seine Schlussfolgerung, dass solche Linien offenbar nur mit den Spezialteleskopen dieses Berufsstandes sichtbar waren. Und auf diesem Instrument konnte Jean-Paul Paul Jean-Pierre nicht spielen.

      Auch ohne genau zu wissen, wo die Linie verlief, überquerte Jean-Paul Paul Jean-Pierre sie ab und zu, wie alle Einwohner von Kitchike, um das bisschen Geld, das er im Reservat verdiente, bei seinen weißen Nachbarn auszugeben. Er verdiente selten mal was, und wenn, dann nur wenig, aber wie alle Einwohner von Kitchike gab er das, was er verdiente, bei seinen weißen Nachbarn aus. Früher hätte er gesagt »in der Stadt«, wie alle Einwohner von Kitchike. Aber dann hätte Julie-Frédérique wieder geschimpft. Sie hatte ihm beigebracht, dass eine Stadt etwas ganz anderes war, was aber offenbar die Einwohner von Kitchike, die nicht das Glück hatten, Zeit mit Julie-Frédérique zu verbringen, nicht wussten.

      Wäre sie nur dagewesen.

      Wäre sie dagewesen, hätte Julie-Frédérique bestimmt gewusst, wie man das schwarze Loch wieder loswurde, das auf einmal noch ein bisschen dicker aussah, noch ein bisschen auffälliger, noch ein bisschen … schwärzer. Aber Julie-Frédérique war nicht da. Sie war am Morgen etwas früher aufgestanden, um ihren üblichen Schminkzirkus zu veranstalten – Frauen mussten immer alles furchtbar demonstrativ machen, davon war er überzeugt –, und war dann wortlos aus dem Haus gegangen, wie jeden Morgen seit fast einer Woche, um sich Beschäftigungen zu widmen, über die sie keine nähere Auskunft gab. Jean-Paul Paul Jean-Pierre wusste nicht, womit er es verdient hatte, dass sie ihn mit Schweigen strafte, aber – davon war er überzeugt – dieses schwarze Loch sollte vor ihrer Rückkehr besser verschwunden sein, wenn er wollte, dass sie ihm gnädigerweise wieder etwas Aufmerksamkeit zukommen ließ.

      Jean-Paul Paul Jean-Pierre suchte verzweifelt nach einer Lösung für sein Problem. Er durchforstete sämtliche Winkel seines Hirns, ohne das schwarze Loch aus den Augen zu lassen, damit er auch ja nicht vergaß, wonach er suchte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, verblasste aber gleich wieder, als ihm einfiel, dass er gar nicht nach dem schwarzen Loch suchte, das war ja direkt vor seiner Nase, sondern nach einer Möglichkeit, es verschwinden zu lassen, bevor Julie-Frédérique zurückkam. Da Jean-Paul Paul Jean-Pierre in seinem Kopf keine Lösung fand, beschloss er, seine Wohnung zu durchsuchen. Vielleicht brachten ihn Julie-Frédériques Bücher auf eine Idee.

      Da das Problem ein schwarzes Loch war, musste die Lösung, das wusste Jean-Paul Paul Jean-Pierre genau, im buntesten, leuchtendsten ihrer Bücher zu finden sein. Nach einigen Runden durchs Wohnzimmer sah er, dass das bunteste, leuchtendste Buch nicht in Julie-Frédériques Regal stand, sondern direkt vor seiner Nase lag, nicht weit von dem schwarzen Loch, auf dem kleinen Glastisch, den man Julie-Frédérique zufolge keinesfalls mit einer Ablage für die Füße verwechseln durfte. Jean-Paul Paul Jean-Pierre beugte sich vor, griff nach dem Buch und wollte sich schon auf dem Sofa niederlassen, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, dass der Platz bereits von dem schwarzen Loch besetzt war. Jean-Paul Paul Jean-Pierre hockte sich also auf den Boden, um das Buch zu befragen, dessen farbige Seiten – weiß, gelb, blau und rosa – zahlreiche Buchstaben und ungefähr ebenso viele siebenstellige Zahlen enthielten, nur leider absolut nichts über schwarze Löcher. Allerdings brachten die Zahlen ihn auf eine Idee. Wenn er nun einen Spezialisten aus der Stadt nebenan anriefe – mit anderen Worten, einen seiner weißen Nachbarn –, könnte ihm der vielleicht bei der Lösung des Problems helfen? Er verdiente selten was und wenn, dann nur wenig, aber das, was er verdiente, gab er bei seinen weißen Nachbarn aus, und dort konnte man diese Art von Dienstleistung bestimmt finden. Jean-Paul Paul Jean-Pierre zögerte wieder. Rief man in so einem Fall den Hundefänger oder den Kammerjäger? Und was war eigentlich der Unterschied zwischen beiden? Er hatte keine Ahnung, welche Strategie die bessere war. Jean-Paul Paul Jean-Pierre beschloss, lieber erst mal einen Freund anzurufen und um Rat zu fragen.

      Jean-Paul Paul Jean-Pierre hatte nur wenige Freunde. Als Jugendlicher hatte er schon welche gehabt, natürlich. Unmengen Bekannte, noch mehr Cousins und andere Verwandte, mehr, als sich an den Zehen und Fingern der Hände und Füße abzählen ließ. In seinem kleinen, messerscharf umrissenen Kosmos kannte er alle, und alle kannten ihn. Sein Ruf als einer, der immer gute Laune hatte, eilte ihm voraus, und – davon war er überzeugt – alle schätzten ihn. Früher, als er noch sein Handwerk ausgeübt hatte, waren die Leute aus dem Reservat regelmäßig in seiner Werkstatt vorbeigekommen und hatten sein Talent bewundert. Manchmal fragte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre, warum ihn eigentlich niemand mehr an der Werkbank besuchen kam, und dann fiel ihm ein, dass er ja selbst nicht mehr hinging. An manchen Tagen fragte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre, warum ihn eigentlich niemand mehr anrief, und dann fiel ihm ein, dass er kein Telefon mehr hatte. An anderen Tagen fragte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre, warum er eigentlich kein Telefon mehr hatte, und dann erinnerte ihn sein Anbieter freundlich daran, dass er die Rechnungen, die ihm Monat für Monat geschickt wurden, nie bezahlte. Hin und wieder fiel Jean-Paul Paul Jean-Pierre ein, dass er den Telefonanbieter gewechselt hatte, aber der neue schickte ihm seltsamerweise Monat für Monat dieselbe Art von Rechnungen! Und üblicherweise erinnerte er sich in diesem Moment daran, dass er Rechnungen nicht mochte. Nicht weil ihm das Geld dafür fehlte, sondern weil man sich um so was kümmern musste. Und damit hatte Jean-Paul Paul Jean-Pierre es nicht so, nicht nur, was Rechnungen betraf. Er hasste es, sich um die Befüllung des Vorratsschranks zu kümmern, um den Haushalt, um die Schlichtung eines Streits oder um die Kinder.

      Ab und zu fragte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre, warum er seine Kinder nicht mehr sah. Warum sie ihn nicht öfter besuchen kamen. Er hatte vier oder fünf davon, und früher waren sie mit dem Wechsel der Jahreszeiten umhergezogen, schliefen bei ihm oder seiner Ex oder seiner Mutter oder seinem Bruder oder seiner Cousine. Irgendwann hatten sie mit dem Umherziehen aufgehört und sich endgültig irgendwo niedergelassen. Irgendwo, aber nicht bei ihm. Jean-Paul Paul Jean-Pierre fand das Leben so einfacher. So musste er sich um viele Dinge, die mit den Kindern zu tun hatten, nicht mehr kümmern: um Streitigkeiten zwischen Julie-Frédérique und den Kindern über den Haushalt, Streitigkeiten zwischen Julie-Frédérique und den Kindern über den Zugang zu Fernseher oder Computer, Streitigkeiten zwischen Julie-Frédérique und den Kindern über Höflichkeit und Gemecker und Tischmanieren und um wie viel Uhr sie wieder zu Hause sein sollten. Bei dem neuen Türschloss, das Julie-Frédérique verlangt hatte, noch bevor die Kinder mit dem Umherziehen aufhörten, waren nur zwei Schlüssel mitgeliefert worden, und das hatte Jean-Paul Paul Jean-Pierre


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