Rille aus dem Luftschacht. Maike Siebold
Lösung.
Es schaudert ihn. Der Geist kann doch nicht wirklich sein Herz haben wollen. Ein Herz von einem Tier könnte ein Geist vielleicht verlangen, aber nicht das von einem kleinen Jungen. Und wenn doch? Langsam kriecht die Angst wie eine Schlange in ihm hoch. Er knipst das Licht an. Über seinem Kopf leuchtet seine rote Nachttischlampe auf. Sie hat die Form eines Herzens. In diesem Moment versteht er. Die Herzlampe, das Geschenk von Tante Margot, könnte der Geist meinen. Aber woher kann der Geist wissen, dass er diese alberne Mädchenlampe besitzt?
Kaum hat er das Ballrätsel gelöst, da steht er vor dem nächsten Problem. Und überhaupt, wie soll er dem Geist die Lampe übergeben? Durch den Schlitz in der Fahrstuhlwand passt sie wohl kaum. Also muss er ihn wohl oder übel in seiner Sprechstunde aufsuchen. Jedes Kleinkind weiß: Geister empfangen immer nur zwischen Mitternacht und 1 Uhr morgens. Sie haben Sprechstunde wie Ärzte, eben die Geisterstunde.
Er kramt seine Taschenlampe aus der Kiste unter dem Bett hervor und leuchtet das Zimmer ab. Auf der Spielzeugkiste lässt er den Taschenlampenkegel verweilen. Dort schläft Klaus Teddy. Roderich hat beschlossen, dass man mitten in der Nacht auf dem Weg zu einem Geist einen Begleiter braucht.
„Klaus Teddy“, flüstert er durch den Raum, „du musst mit.“
Auf Socken schleicht er zur Wohnungstür, öffnet sie vorsichtig und drückt nach ein paar Schritten den Fahrstuhlknopf. Als sich die Metalltür öffnet, steht Roderich einem Mädchen mit langen dunkelblonden Haaren und einer Mütze auf dem Kopf gegenüber. Beide schreien vor Schreck gleichzeitig los.
Das Mädchen findet zuerst ihre Sprache wieder. „Was guckst du denn so blöd?“
Roderich kontert: „Ich guck nicht blöd, ich wundere mich nur, was du um diese Uhrzeit hier machst. In unserem Haus wohnst du auf jeden Fall nicht.“
Das Mädchen grinst ihn frech an. „Kriech einfach unter den Stein zurück, unter dem du hervorgekrochen bist.“
Während sich Roderich noch über diese komische Antwort wundert, entdeckt das Mädchen die Herzlampe hinter seinem Rücken.
„Gib die Lampe rüber. Wir haben eine Abmachung.“
Roderich braucht einen Augenblick, um zu begreifen, was das bedeutet. Dieses blöde, aber doch völlig normale Mädchen war der unheimliche Fahrstuhlgeist. Es hat ihn an der Nase herumgeführt. Wie peinlich.
Jetzt muss er retten, was zu retten ist. Am besten er tut so, als hätte er die Sache von Anfang an durchschaut. „Ach, die Lampe. Bitte hier, für dich. Danke übrigens für den Ball.“
„Tu doch nicht so, als hättest du von Anfang an gewusst, wer was von dir wollte. Du dachtest, ich sei ein Geist, und du hattest die Hosen bis oben voll“, bekommt er als Antwort.
Das Mädchen ist nicht dumm, stellt Roderich fest. Zu allem Unglück fällt ihr Blick jetzt auch noch auf Klaus Teddy.
„He, leihst du mir deinen verlausten Affen?“
Mit einem Hauch zu viel Trotz in der Stimme antwortet Roderich: „Erstens ist das ein Bär und kein Affe und zweitens verleiht man Teddys nicht und Klaus Teddy schon gar nicht.“
Nun ist das Mädchen beleidigt. „Teddys sind sowieso nur was für Babys“, sagt sie mit schnippischer Miene und verschränkt ihre Arme vor der Brust.
Das ist der Augenblick für einen guten Abgang, findet Roderich. Er klemmt sich Klaus Teddy unter den Arm, dreht sich wortlos um und verschwindet wieder in die Wohnung. Er ist stinksauer und enttäuscht, aber auch ein klein wenig erleichtert. Sein Geist ist nur ein Mädchen.
Nächtlicher Besuch
Roderich schläft tief und fest. In seinem Traum dringt eine unbekannte Stimme an sein Ohr. „Roderich, Roderich!“ Die Stimme ist zu nah und zu echt, um ein Traum zu sein. Langsam öffnet er die Augen und richtet sich auf. Verschlafen reibt er sich die Augenlider. Niemand ist in der Dunkelheit zu erkennen. Da hört er die Stimme wieder.
„Hallo, ich bin es. Dein Fahrstuhlgeist.“
Fahrstuhlgeist? Das Wort sagt ihm was, aber was? Roderich braucht einen Augenblick, um in seinem müden Kopf das Wort mit einer Erinnerung zu verbinden. Genau, das Mädchen im Fahrstuhl hatte er für einen Geist gehalten, also nicht wirklich für einen Geist oder höchstens nur ganz kurz hatte er das gedacht. Jetzt ist Roderich mit einem Schlag hellwach.
„Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Wo steckst du überhaupt?“, fragt er ins Dunkel.
„Ich bin hier oben im Luftschacht. Mach mal das Gitter auf.“
Der bleiche Mond erleuchtet schwach sein Zimmer. Um an das Gitter heranzukommen, muss er sich auf sein Bett stellen und sich recken. Beim dritten Versuch gelingt es ihm endlich das Gitter aufzustemmen. Aus dem viereckigen Loch grinst das Mädchen aus dem Fahrstuhl auf ihn herunter. Es schlängelt sich geschickt durch die Öffnung in der Wand, lässt sich auf sein Bett plumpsen und setzt sich wie selbstverständlich neben ihn. Roderich ist verdutzt. Wenn sie es sich schon auf seinem Bett gemütlich macht, sollte er wenigstens ihren Namen kennen.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Rille.“
„Rille? Das soll ein Name sein?“, spottet Roderich.
„Kennst du den Spruch: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen?“, kontert Rille.
Es scheint eine interessante Nacht zu werden. „Was willst du eigentlich hier?“, will Roderich wissen. Die Anspielung auf seinen Namen übergeht er elegant.
Rille ist gekommen, um die Lampe zurückzubringen. Roderich versteht die Welt nicht mehr. Erst will sie das leuchtende Herzding unbedingt haben und eine Nacht später bringt sie es zurück.
„Ich habe keinen Strom“, erklärt Rille.
„Jeder hat Strom“, antwortet Roderich.
„Ich bin aber nicht jeder“, gibt Rille schlagfertig zurück.
Roderich übergeht das Selbstlob. „Ich mache dir ein Angebot, ich besorg dir Strom unter der Bedingung, dass du mir erzählst, wo du wohnst.“
„Auf dem Dachboden“, antwortet Rille, als sei es das Normalste auf der Welt.
„Und wie du in den Luftschacht gekommen bist“, bohrt Roderich weiter.
Rille betrachtet ihn prüfend. „Bist du denn schon alt genug, um ein Geheimnis für dich zu behalten?“
Auf so eine Frechheit darf man überhaupt nicht ernsthaft eingehen, denkt Roderich und antwortet lässig: „Nee, morgen in der Schule schreib ich alles in der ersten Stunde an die Tafel.“
Nach zwei Minuten Stille beginnt Rille zu reden: „Also gut, meine Eltern sind aus ihrer Heimat geflohen und wollten in Deutschland ein neues Leben beginnen. Aber unser Asylantrag wurde abgelehnt. In der Nacht, wo wir von der Polizei aus dem Asylbewerberheim abgeholt und zum Flughafen gebracht werden sollten, konnte ich mich im Uhrenkasten verstecken. Nachdem die Luft im Heim rein war, bin ich in den frühen Morgenstunden hierhin geflüchtet. Mein Vater ist Architekt und hat mich auf die Besonderheit eures Hauses aufmerksam gemacht: die großen Luftschächte. Seitdem wohne ich in den Luftschächten.“
Ungläubig mustert Roderich das seltsame Mädchen. Wenn da nicht das Detail mit dem Uhrenkasten gewesen wäre, hätte er ihr die Geschichte vielleicht sogar abgekauft, nun siegt sein Instinkt. „Ich will die Wahrheit wissen. Uhrenkasten! Dass ich nicht lache. Deine Mutter hat dir zu viele Märchen vorgelesen. Die Story kannst du deinen Puppen erzählen. Wo wohnen deine Eltern wirklich?“
„Okay,