Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
ganz anderes: die poiné ist Bestrafung und Wiedergutmachung für einen Eidbruch.49
Um seine Beweisführung zu stützen, ruft Benveniste auch mit klaren Worten in Erinnerung, dass poena im Lateinischen, ein Ausdruck des Strafrechts und eine alte Entlehnung des griechischen poiné, nichts mit dem Ausdruck honos zu tun habe, genauso wenig wie punire.
Ich werde die Kompetenz und die Klarsicht von Benveniste nicht bestreiten. Wie lautet die Frage? Geht es darum, ob timé (Ehre, Würde) dasselbe bedeutet wie poiné, oder ob man die beiden wechselseitig ersetzen oder in einer dauerhaften Korrelation, einer engen und automatischen „Zusammenstellung“ (rapprochement, so Benvenistes Wort50) miteinander verbinden könnte? Natürlich nicht, und in dieser Hinsicht überzeugt Benvenistes Antwort vollkommen. Der gesunde Menschenverstand selbst. Aber geht es darum? Gibt es nicht andere logische oder symbolische Wege, um von der Konfiguration, ja der Ko-Implikation dieser beiden Unterscheidungen zwischen Ehre oder Würde einerseits, und Bezahlung, Geldstrafe, Bestrafung andererseits Rechenschaft zu geben? Selbst wenn man zu Unrecht versucht hätte, sie in der Sprache zu finden, woher käme diese Suche, dieser Trieb, eine privilegierte Beziehung zwischen den beiden zu finden? Denn wenn es da einen Fehler oder eine Projektion gibt, jenseits dessen, was Benveniste „Zufall“ nennt („Rein zufällig und nur in diesem einen Beispiel wird timé mit dem Verb ‚zurückzahlen‘ verknüpft“), müsste man anerkennen, und Benveniste tut das, ich zitiere ihn, dass es im Griechischen gab, was er „sekundäre Kontakte“51 zwischen den zwei Familien nennt, woraus insbesondere tīmōrein, „beistehen, helfen, züchtigen“, tīmōrós, „Schützer, Rächer“ resultieren, „wörtlich derjenige, ‚der über die tīmé wacht‘ (timá-oros), eine Mischung aus beiden Begriffen“, sagt Benveniste. „Desgleichen scheinen die ältesten Formen tínō, tinúō, den ī-Vokalismus von tīmé übernommen zu haben, wie aus der dialektal bezeugten Schwankung zwischen ι und ει hervorgeht.“52
Man hätte immer noch das Recht, den Linguisten zu bitten, über all jene Phänomene Rechenschaft abzulegen, die er hartnäckig für Unfälle, Zufälle, Unreinheiten, „sekundäre Kontakte“ hält. Man hat den Eindruck, dass seine Sorge dem gilt, eine reine Abstammungslinie aufrechtzuerhalten, fern von Verschmutzungen, unversehrt, unangetastet von (ich zitiere seine Worte) „Zufällen“, „sekundären Kontakten“, einer „Mischung aus beiden Begriffen“. Was es zu vermeiden gilt, ist gerade das Unvermeidliche, der genetische Zufall, der sekundäre Kontakt, die genealogische Mischung, kurz die Kontamination einer Reinheit klarer und distinkter Begriffe, kurz das, was geschieht und wofür man die Verantwortung übernehmen muss. Benveniste will sich zwar nicht vorwerfen lassen, Phänomene, die jeder Gelehrte – wie er – bestätigen muss, mit Stillschweigen zu übergehen. In seiner Interpretation, und in einer Sprache, auf der die Konnotationen genealogischer Reinheit sehr schwer lasten, bewertet er aber genau das, was es zu denken gilt, um die Verantwortung dafür zu übernehmen, gleichzeitig als sekundär, zufällig, als Mischung und irrationale Unreinheit. Warum gibt es scheinbar zufällige, sekundäre Phänomene, Mischungen aus beiden Begriffen? Warum mischt sich das, und wer mischt? Wir werden weiterhin aufmerksam bleiben für diese Mischungen zwischen Begriffen, die man unterscheiden möchte (nützlich und gerecht, natürliche Strafe und poena forensis, Selbst- und Fremd-Bestrafung usw., die Liste wäre endlos).
Seit ich Benveniste lese, habe ich in unterschiedlichsten Kontexten und bei unterschiedlichsten Themen bemerkt (ich könnte zahlreiche Beispiele dafür geben, veröffentlichte wie unveröffentlichte, von „Das Supplement der Kopula“ bis „Glaube und Wissen“53), dass ich immer zweierlei zugleich tun muss, dass ich seinem Wissen eine Hommage erweisen, also den Gelehrten ehren muss, ihn aber gleichwohl, im selben Moment, im Gegenteil auch verdächtigen, um nicht zu sagen ihn beschuldigen muss, nicht zu denken zu wissen, was er zu wissen weiß54.
+ Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Es handelt sich hierbei, wie Sie wissen, um eine aktuelle Debatte. Clinton hat versucht, das zu begrenzen, doch das ständig wiederkehrende Argument lautet: ‚Wenn ihr uns die individuellen Waffen wegnehmt – wobei um die Frage, welche Waffen, eine endlose Debatte tobt, das ist kompliziert –, wenn ihr uns also diese Waffen wegnehmt, dann werden die Gangster sie doch behalten, und wir werden uns nicht mehr verteidigen können.‘“ (A.d.H.).
+ Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Der Fall, den wir am besten kennen, den ich am besten kenne, ist der von Mumia Abu-Jamal, der, ich glaube 1982, für ein sogenanntes Verbrechen gemeinen Rechts, den Mord an einem Polizisten verurteilt wurde, der ihm zugeschrieben wurde – eine Zuschreibung, gegen die er seit fast zwanzig Jahren kämpft –, während man weiß, dass dies deshalb geschah, weil er ein Aktivist der Black Panthers war, gewesen war, und ein überaus politischer Journalist, dass er deshalb verurteilt worden ist. Er protestiert also, indem er sich, während er ein nach gemeinem Recht Verurteilter ist, als ein in politischen Angelegenheiten Verurteilter präsentiert, nicht nur weil er ein Black Panther und ein engagierter Journalist gewesen ist, sondern auch weil er nie aufgehört hat, von seinem Gefängnis aus die Legalität, die Legitimität zu bestreiten, und zwar in poli-Vertrag tischen Begriffen. Nun, das ist ein konkretes Beispiel für ein politisches Verbrechen, einen politischen Anklagepunkt, der in einen Anklagepunkt gemeinen Rechts umgeschminkt wurde. Das ist ein Fall – und es gibt viele davon –, aber jenseits der Fälle, in allgemeinerer Hinsicht, gemäß der Logik, die ich gerade entwickle, ist jedes Verbrechen, welches auch immer es sei, selbst wenn es als ein Verbrechen gemeinen Rechts begangen wird, in Wirklichkeit ein politisches Verbrechen.“ (A.d.H.).
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