Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
weder < eine > Einheit, ja nicht einmal < eine > Konsistenz. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum es Gegenstand einer so mächtigen und insistierenden, so hartnäckigen Zerstreuung [distraction] ist, aber einer Zerstreuung, die uns nicht loslässt, wie der Tod selbst – wenn man ‚der Tod selbst‘ sagen kann.
Daher müssen wir vielleicht eher von der Ausführung [exécution], der Wirksamkeit der Umsetzung sprechen als von der Verurteilung oder vom Prinzip der Einschreibung der Strafe ins Recht (wie Kant es tut, in Bezug auf den, wie auf Rousseau, man zeigen könnte, dass er an der Einschreibung des Prinzips ins Recht festhält, wenn man auch – wie ich glaube und wie ich später zu beweisen versuchen werde – beweisen kann, dass dieses absolute und irreduzible Recht in vollkommen Kantischer Logik phänomenal, für den homo phaenomenon, unanwendbar bleibt: nicht ausführbar [non exécutable], und also in gewisser Weise inexistent). Es gibt vielleicht keine Todesstrafe, niemand ist ihr je begegnet, aber es gibt Ausführungen/Hinrichtungen [exécutions].
3. Drittes Argument. Die Anomie der Todesstrafe. Von einem ganz anderen Standpunkt aus, aber aus denselben Gründen, finden wir, trotz der Distanz, ja der Umkehrung der Logik (ich sage wohlweislich Umkehrung der Logik, denn auch Beccaria, um den es nun gehen wird, schließt ebenso wie Benjamin die Todesstrafe von der Immanenz des Rechts aus, aber nicht deshalb, weil sie die Grundlage des Rechts bilden würde, sondern weil sie überhaupt kein Recht ist, sie ist dem Recht gegenüber auf andere Weise heterogen; denn es gibt zwei Arten, dem Recht gegenüber heterogen und kein Teil von ihm zu sein: indem etwas die Grundlage des Rechts bildet – wie ein Transzendental oder ein ausgeschlossener Grund dessen, was es ermöglicht, wir haben das gerade sehen –, oder indem etwas dem Ensemble „Recht“ nicht angehört, weil es ein Nicht-Recht darstellt) < finden wir also > die These Beccarias wieder, der zufolge „die Todesstrafe kein Recht [ist]“43 und es auch nicht sein kann, sondern ein Kriegsakt, ein Krieg der Nation gegen einen Bürger, dessen Beseitigung sie für notwendig oder nützlich erachtet. Wonach Beccaria zeigen wird, zu zeigen bestrebt sein wird, dass diese Beseitigung des Bürgers weder nützlich noch notwendig sei. Außer, das ist wahr, und über diese Ausnahme hatten wir letztes Jahr gesprochen, in den Ausnahmefällen also, in denen die Nation noch nicht oder nicht mehr existiert, in denen es also noch kein Gesetz oder kein Gesetz mehr, also noch kein Recht oder kein Recht mehr gibt. Wir müssen uns hier die Beweisführung Beccarias in Erinnerung rufen. Dieser sagt nicht, er glaubt nicht, dass der Tod eines Bürgers notwendig, nützlich oder gerecht sein könne, aber er beschreibt die Situationen, in denen er als ebendies erscheinen kann, in denen er für nützlich, notwendig oder gerecht gehalten wird. Diese Fälle sind Grenzfälle, und die Grenze ist eben die der Nation oder des Gesetzes, oder der Souveränität, wenn diese noch nicht existieren oder nicht mehr existieren, oder vor allem, wenn sie in ihrer Existenz bedroht sind. „Der Tod eines Bürgers“, sagt er, „kann nur aus zwei Beweggründen für notwendig gehalten werden.“44 Der erste Beweggrund [motif] ist jener Fall, wenn ein bestimmter Bürger, selbst während er schon im Gefängnis sitzt, noch aus seinem Gefängnis heraus Beziehungen unterhalten und eine Macht behalten kann, die es ihm gestatten, die Sicherheit der Nation zu bedrohen oder eine für die etablierte Regierungsform gefährliche Revolution auszulösen. Die Beseitigung eines Bürgers wird in dem Moment notwendig, in dem die Nation dabei ist, ihre Freiheit wiederzuerlangen oder zu verlieren (Perioden der Anarchie, des Quasi-Bürgerkriegs, wenn es eben kein Gesetz gibt, wenn es keines mehr oder noch keines gibt). Man kann es also für nützlich halten, einen bestimmten gefährlichen Bürger zu beseitigen, aber Sie sehen schon, dass es dann, wenn man ihn als einen „öffentlichen“ oder „Staatsfeind [ennemi public]“ und nicht nur als einen politischen Feind betrachtet, nicht nur um jemanden geht, der in politischen Angelegenheiten verurteilt wurde [condamné politique], sondern auch um eine Bedrohung für die Politik oder das Politische selbst, für die politische Ordnung, ja die Ordnung des Politischen. Wo aber, so Beccaria, das Gesetz friedlich herrscht, wo die Regierung die Zustimmung der gesamten Nation genießt, nach außen wie nach innen durch die Macht [force] […]45 und vor allem durch die öffentliche Meinung verteidigt wird, die noch wirksamer ist als die Macht, wo die Macht [pouvoir] nur beim wirklichen Souverän liegt, wo Reichtum und nicht Autorität Genuss erkauft, da „kann es keine Notwendigkeit geben“, einen Bürger zu beseitigen.
Sie werden im Vorübergehen bemerkt haben, dass Beccaria, weit davon entfernt, die Ausübung [exércice] der Souveränität mit der Todesstrafe zu verbinden, die beiden einander entgegensetzt. Wo es wirkliche Souveränität gibt, ist keine Todesstrafe nötig (im Gegensatz zu Kant, Schmitt oder Benjamin). Zuvor hatte Beccaria im selben Sinne gesagt, dass „dieses Recht […] ihresgleichen zu töten, […] gewiss nicht jenes sein [kann], von dem die Souveränität und die Gesetze sich herleiten“46. Das ist also das genaue Gegenteil der Benjamin’schen These über das Recht, das hier aber auf entgegengesetztem Wege zur selben Behauptung führt: Die Todesstrafe ist kein Recht (unter anderen). Sie werden ebenfalls bemerkt haben, dass es jenseits dieser üblichen Bedingungen, die für den Ausschluss der Todesstrafe gestellt werden (Ordnung, fest etablierte Souveränität, Macht der Meinung eher als die der Autorität, und vor allem eher durch Reichtum als durch Autorität zu erkaufender Genuss), ein liberal-demokratisches Modell, eine politische Ordnung, die den Markt offen lässt usw., ist, welches die Möglichkeit bietet, mit der Todesstrafe Schluss zu machen. Das gibt viel zu denken, wir wollen das aber für den Augenblick beiseite lassen.
Der zweite Beweggrund, die Todesstrafe für gerecht und notwendig zu halten, ein zweiter Beweggrund, an den Beccaria ebenfalls nicht glaubt, von dem er aber weiß, dass er weit verbreitet ist, besteht in der Abschreckung. Er sagt wohlweislich „um die anderen abzuschrecken“47, die anderen, denn der hingerichtete Verurteilte kann dieses Mal nicht das Subjekt dieser abschreckenden Strafe sein. Dieses Argument der Abschreckung, der abschreckenden Nützlichkeit, der Todesstrafe als Mittel zur Abschreckung, von dem auch Kant, von einem anderen Standpunkt aus, sagte, dass es das Prinzip der Todesstrafe nicht rechtfertigen könne, wird Beccaria zu widerlegen versuchen, wobei er aber die Idee beibehält (was Kant nicht tut). Beccaria wird die Idee beibehalten, aber behaupten, dass lebenslange Haft und Zwangsarbeit grausamer und folglich für jeden potentiellen Verbrecher abschreckender, also letztendlich nützlicher seien als die Todesstrafe.
Dieser ganze Umweg war dazu bestimmt, die Zweideutigkeit oder die „vage Verknüpfung“ zwischen ehren und strafen zu erhellen, von der Benveniste spricht. Wir haben gesehen, wohin uns zum Beispiel „die heimliche Bewunderung“ des Volkes oder der Menge für den großen Verbrecher führte, der auf diese Weise verflucht, bestraft und geehrt zugleich wurde.
Wir wollen nun für einen Augenblick zu Benveniste zurückkehren. Nachdem er von einer ziemlich vagen Verbindung zwischen den beiden Bedeutungen, ehren und strafen, gesprochen hat, führt Benveniste weiter aus, dass nun zu fragen wäre, „ob die Bedeutung von timé [Ehre, Würde] und der verwandten Wörter eine Zusammenstellung mit der Familie von poiné [Strafe] nahelegt oder verbietet. Es genügt nicht, timé mit ‚Ehre, Achtung‘ wiederzugeben. Die Bedeutung muß in bezug auf Wörter mit benachbarter Bedeutung enger eingegrenzt werden.“48
Genau das wird Benveniste mit dem Korpus einer Reihe von Beispielen zu tun versuchen, die er der Ilias und der Homerischen Hymne an Hermes entnimmt. Ich kann diese Analysen hier nicht im Detail verfolgen, sondern muss Sie darauf verweisen. Sie werden aber sehen, dass sie alle dazu tendieren, die beiden Bedeutungen, timé und poiné, radikal zu trennen, sowohl im Hinblick auf eine indirekte oder hypothetische Etymologie als auch, vor allem, im Hinblick auf ihr semantisches Funktionieren in den Texten. Selbst in einem Text, in dem diese Trennung schwierig zu sein scheint, lässt Benveniste es sich zur Ehre gereichen, wenn ich so sagen kann, zu vermerken, dass diese Verbindung gewagt und eine Ausnahme sei. Es handelt sich dabei um jene Passage, in der die Troer sich verpflichten, Helena und sämtliche Schätze für den Fall zurückzugeben, dass Menelaos den Sieg davonträgt. Sie verpflichten sich auch, darüber hinaus eine timé an Agamemnon und die Argeier zu entrichten. Man konnte denken, dass timé, die Ehre, damals eine Art Geldstrafe, eine Rückzahlung war. Was sie jedenfalls in diesem Fall auch wirklich war. Doch Benveniste will nicht bei diesem Beispiel stehenbleiben und schreibt:
Rein