Die Todesstrafe II. Jacques Derrida

Die Todesstrafe II - Jacques  Derrida


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allgemeiner, älter, auf alle Fälle entscheidender wären (psychische, ökonomische, politische usw.), zu deren Nutzen das Gesetzes-Dispositiv und die juristische, ja staatsrechtliche, ja sogar die ethische Problematik der sogenannten Todesstrafe funktionieren würde. Man müsste also neu verwurzeln, was abgedriftet ist, müsste die sogenannte strafrechtliche und juristische Frage der Todesstrafe, ihre gesetzliche und staatliche Dimension nach hinten zurück führen, hin zu grundsätzlicheren und entscheidenderen Prozessen (psychischen, politisch-ökonomischen, sozialen, usw.). Ein im Grunde genommen klassischer Gestus, um eine angebliche Autonomie des Juridischen oder, in noch stärkerem Maße, des Juristischen anzuprangern. Letztes Jahr hatten wir also begonnen, diese Logik durch Lektüren von Marx, Nietzsche und anderen hindurch zu betrachten, und wir werden es weiterhin tun. Für den Augenblick möchte ich, nur für einen Anfang, festhalten, dass der erste Effekt dieser Logik darin bestehen kann, zu bestreiten, dass es da eine Einheit, eine irreduzible Spezifität der Todesstrafe gibt, dass es ein Problem oder eine einzige strikt identifizierbare Problematik der Todesstrafe gibt. Indem wir diesen möglichen Einwand berücksichtigen, wird unsere einzige und jedenfalls erste Sorge darin bestehen, diese scheinbare Spezifität, diesen Anschein oder diesen Effekt der Spezifität ernst zu nehmen, die Art und Weise, in der die Todesstrafe unter ihrem Namen als Spezifitätseffekt besteht und uns heute weiterhin als solche umtreibt, unter immer brennenderen, dramatischeren, dringlicheren, bisweilen unerträglichen Bedingungen. Wie könnte es sein, dass eine kollektive Tötungserfahrung nur einen Anschein von Spezifität, nur einen Effekt von Einheitlichkeit besitzt?

      Wir werden diese unterschiedlichen Bewegungen der Einkreisung und der Umzingelung über die Flügel also auf diskontinuierliche Weise durchführen und weiterverfolgen, indem wir diesen einen Vorstoß über einen Flügel unterbrechen, jenen anderen fortsetzen, um einen wieder anderen auszuführen oder zu beobachten, auf einem anderen Flügel fliegend, dann zum ersten zurückkehrend, und so weiter, bis zu dem Moment, da die Koordination der Armeen, Regimenter, Kompanien, Kavallerien, Infanterien oder gepanzerten Einheiten sie miteinander verbunden haben wird53, wobei die Frage dieser militärischen Rhetorik selbst einen sensiblen, ja entscheidenden Ort der Debatte situiert. Letztes Jahr hatten wir diese sensible Linie, diese Front nämlich bereits als Front der Frage gekennzeichnet, nämlich, dass die Bewegung für die Abschaffung der Todesstrafe54 nie die Front angetastet hat, das Recht, zu töten, als Recht des Staates an der Front, in Kriegszeiten. Man kann die Todesstrafe im Inneren einer Gesellschaft oder eines Nationalstaats abschaffen, ohne auch nur im Geringsten das Recht anzutasten, in Kriegszeiten an der Front den Feind zu töten.

      Was ist das, ein Feind der Nation? Was ist das, ein Kriegszustand? Wir werden diese Klausel (Kriegszeiten oder Friedenszeiten) in zahlreichen Gesetzestexten in Erscheinung treten sehen. Und was hat es mit dem Bürgerkrieg auf sich? Und was mit dem, was Carl Schmitt „Partisanenkrieg“55 nennt, diese moderne Kriegsform, die dennoch bis Napoleon zurückreicht, und in der die Unterscheidung zwischen Bürgerkrieg und nationalem Krieg unklar wird? Diese Unterscheidungen, die immer schon problematisch waren, aber heute mehr denn je problematisch sind, hätten genügt, um uns daran zu erinnern, dass sich die Frage der Todesstrafe nicht in Bezug auf das Leben oder den Tod, auf den Unterschied zwischen Leben und Sterben, ja nicht einmal auf den zwischen Töten und Nicht-Töten stellt, sondern zwischen mehreren Weisen für den Staat, seine Souveränität zu behaupten, indem er über das Leben der Untertanen [sujets], der fremden Subjekte verfügt (des feindlichen Soldaten, bisweilen auch des inneren Feinds), aber auch < über das > seiner eigenen Soldaten, die an die Front geschickt oder in Kriegszeiten wegen Verrat oder Desertion sogar zum Tode verurteilt werden. Vielleicht haben Sie kürzlich zwei bemerkenswerte mit Archivdokumenten bestückte Fernsehdokumentationen gesehen (letztes Jahr hatten wir die Frage des Fernsehens aufgeworfen, sowie danach, was es am Horizont der Todesstrafe auf entscheidende Weise ändert56, am Horizont, das heißt an dem, was die Todesstrafe zu sehen gibt und begrenzt – der Horizont ist eine Grenze –, < die Todesstrafe, > die ihrerseits ein Horizont ist, als berechenbare Grenze, von der aus man einen Tod kommen sieht, das Datum eines Todes, während der Tod im Allgemeinen kein Horizont ist). Von den beiden Dokumentationen, auf die ich anspiele, betrifft die eine die schreckliche Episode vom Chemin des Dames während des Ersten Weltkriegs57, eine Episode, deren Existenz wohlbekannt war, die man jedoch besser ermisst, deren Ausmaß und deren Grausamkeit man jedoch besser erfasst, wenn man von diesen heute freigegebenen Archiven ausgeht: Es handelt sich um die Bewegung einer richtiggehenden Revolution oder zumindest einer ziemlich massiven Revolte gegen den laufenden Krieg, eine Bewegung, die das ganze Land (vor allem unter den Frauen in den Fabriken) und ganze Regimenter erfasste. Nach selbstmörderischen Offensiven, die heute jedermann für sinnlos hält, ganz so wie der General, der sie initiierte, nun, die raschen Verurteilungen, wobei die Militärtribunale als Ausnahmegerichte fungierten, die zahlreichen Verurteilungen zum Tode mit darauffolgenden Hinrichtungen brachten, wie um ihn zu unterstreichen, den Unterschied zwischen Kriegszeiten und Friedenszeiten zum Vorschein, der die Geschichte der Todesstrafe und ihrer möglichen oder aktuellen Abschaffung stets geprägt hat. Einerseits kann man die Todesstrafe abschaffen (selbst in Kriegszeiten), ohne die Tötung des Feindes zu verbieten – sobald man ihn als Feind bestimmen kann oder zu können glaubt. Das ist bei all jenen Staaten der Fall, die die Todesstrafe abgeschafft haben. Keiner von ihnen hat verboten, einen Feind im Krieg zu töten, sobald man ihn als Staatsfeind bestimmen kann (vgl. Rousseau und den Begriff des öffentlichen Feinds/Staatsfeinds+ 58). Andererseits erhalten viele Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben, sie in Kriegszeiten aufrecht, um sie auch auf die Bürger desselben Landes anzuwenden, auf Mitbürger, die Verrat üben oder desertieren, oder sich wie Feinde benehmen oder jedenfalls für solche gehalten werden. Die Todesstrafe kann dann auf legale Weise angewendet werden, jedenfalls mit dem Anschein von Legalität (Ausnahmegerichte, Militärtribunale, Schnellgerichte usw.), oder auf weniger legale Weise, wie zum Beispiel < bei > jene<n>, die während der Offensive an der Front des Ersten Weltkriegs nicht genug vorrückten; ihnen drohte nämlich, erschossen zu werden – und einige wurden es auch –, wenn eine Schwadron ihrer eigenen Armee im gewünschten Rhythmus vorrückte. Der andere Dokumentarfilm betraf die Kriegsdienstverweigerer während des Algerienkriegs und in Israel.59 Ohne selbst zum Tode verurteilt worden zu sein, wurden sie oft für Feinde gehalten, vor allem aber legten sie Zeugnis ab für schreckliche Kriegsverbrechen (Folter und Gefangenenerschießungen ohne Urteil60), die im Grunde genommen nicht darin bestanden, einen Feind im Kampf zu töten, sondern darin, ihn ohne Urteilsspruch zum Tode zu verurteilen und hinzurichten, während er bereits Gefangener war.

      Es ist nicht sicher, so sagten wir vorhin, dass es da ein Problem der Todesstrafe gibt, ein einziges unter diesem Namen identifizierbares Problem. Dieser Name birgt vielleicht eine nicht zu vereinheitlichende Vielfalt von Begriffen und Fragen. Selbst wenn wir darauf bestehen, die Möglichkeit dieser Vielfalt, ja dieser Dissemination zu respektieren, die hinter der scheinbaren Identität des Problems der Todesstrafe verborgen und irreduzibel ist, so müssen wir gleichwohl einen Identitäts-Effekt, ein Identitäts-Simulakrum anerkennen, ein Simulakrum, das stabilisiert und konsensuell genug ist, damit wir zu wissen glauben, was wir sagen, identifizieren und isolieren, wenn wir uns auf die Todesstrafe beziehen, ein legales Phänomen, das sich vom einfachen Mord unterscheidet, im Prinzip und in der Intention, im Geiste, das sich von der Rache und vom Opfer unterscheidet, das eingeschrieben ist in ein Gesetz, welches von einem Staat angewendet61 wird usw.

      Hier nun ein weiterer Vorstoß, über einen anderen Flügel [aile]. Wir wollen ihn den „präsidentiellen“, den „Präsidentenflügel [présidentiaile]“ nennen.

      Bezüglich der auf diese Weise provisorisch identifizierten Todesstrafe kann man zum Beispiel folgende Fragen stellen, die uns eine gewisse Zeit lang leiten werden: Ist die Abschaffung der Todesstrafe, die seit circa zehn Jahren in der Welt spektakuläre Fortschritte verzeichnet, wir haben letztes Jahr ausführlich darüber gesprochen, ist die Abschaffung der Todesstrafe ein Ereignis in der Geschichte, und in der Geschichte als Geschichte der Menschlichkeit/Menschheit [humanité], wird sie ein solches sein, wird sie ein solches gewesen sein? Markiert dieses Ereignis einen Fortschritt, könnte es einen solchen markieren, wird es einen solchen markiert haben, und was ist dann ein Fortschritt? Ein unumkehrbarer Fortschritt? Und um welchen Preis? Soll diese Abschaffung für


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