Das heimliche Spiel. Elsa Morante
Und sie gaben keinen Augenblick Ruhe, bis sie verstummten.
»Er wird niemals Frieden finden«, sagten die Leute und schüttelten den Kopf, »er nicht und auch seine Kinder nicht.«
Oft, wenn ich zur Schule ging, begegnete ich seinen Kindern, besonders Angiolo und Esther. Sie sahen sehr schön aus, ob wohl sie schmutzig und halbnackt waren. Angiolos große Augen glichen zwei Feuern, und wenn er lachte, hatte er Grübchen in den Wangen. Esther hatte wundervolle Locken, schlanke Beine, und ihr rundes Gesicht glich einer Frucht. Ich beobachtete sie voller Angst. Ich glaubte, der Finger Gottes würde auch ihre Zungen berühren, wie er die des Vaters berührt hatte, dem dann das seltsame afrikanische Tier die Zunge zerfraß, und sie würden hinterher nicht mehr sprechen können, sondern nur noch traurige Laute von sich geben. Stumm, mit einer Wunde im Mund, wür den Jusvins Kinder und Kindeskinder eines nach dem andern vor Gott dem Herrn vorübergehen müssen.
Dieses Schauspiel quälte mich in meiner kindlichen Einsamkeit und erschien immer wieder in meinen Träumen. Aber an einem Sommerabend in der Nähe der Synagoge kam mir etwas Deutlicheres zum Bewußtsein.
Mir war ein schlimmes Mißgeschick passiert: Mein Vater hatte mir ein Geldstück gegeben und mir aufgetragen, drei Zahlen im Lotto zu spielen. In Phantastereien versunken, hatte ich auf dem Rückweg vom Lottobüro den gekauften Zettel mit den Zahlen verloren. Fieberhaft war ich durch alle Straßen geirrt, hatte leise schluchzend den Staub durchwühlt. Nichts. Dann hielt ich inne, kauerte mich im nächtlichen Schatten der Synagoge neben die hohe Mauer. Ich überlegte mir, daß ich nicht mehr nach Hause zurückkehren, aus dem Ghetto fortgehen, die Stadt verlassen und sterben würde. In dieser Stunde und bei diesem Gedanken rief ich meinen Vater mit dem Spitznamen, den die Leute ihm gegeben hatten: »Krummbuckel«. Wie oft war ich gefragt worden: »Bist du die Tochter vom Krummbuckel?« Und jetzt in meiner Angst gingen mir neue Gedanken wie frevelhafte Blitze durch den Sinn: »Der Krummbuckel wird mich schlagen. Warum darf er mich eigentlich schlagen? Ich bin klein, aber hübsch, ich habe zwei lange Zöpfe und kann lesen. Er ist bucklig. Ich will nicht von ihm geschlagen werden. Aber ich habe den Lottozettel, der vielleicht gewonnen hätte, verloren. Ich habe etwas Schlimmes angestellt; der Zettel gehörte ihm, und deshalb wird er mich schlagen. Und meine Mutter wird mich verfluchen. Das ist die Strafe. Ich bin herumgestreunt und habe die Häuser, die Fenster und Gesichter angeschaut, ohne an den Zettel zu denken; ich habe gesündigt. Auch Jusvin hat gesündigt, und Gott hat ihn bestraft.«
Ich sehe Jusvin im Angesicht des Herrn. Der Herr hat weder Leib noch Gesicht; er ist wie eine Gewitterwolke, wie der Schatten eines Berges: »Erbarmen, Herr, ich habe es für meine Kinder getan! Wasser für meine Zunge, Schlaf für meine Augen, Mitleid mit meinem ruhlosen Wandern, das mich die friedvollen Toten beneiden läßt.« Dies sind die Worte, die sich niemals auf seinen Lippen formen und die er in seiner Kehle begräbt. Sein Mund verzerrt sich, stößt gurgelnde Laute aus; Jusvin gestikuliert und windet sich. Aber Gott, der Gestaltlose, antwortet nicht. Sein Schweigen bedeutet: Du bist ein Dieb.
Unterdessen sind viele andere dazugekommen, sind schweigsam aus den Mauern der Synagoge hervorgetreten. Ihre Leiber sind eine dunkle Masse, ihre Gesichter Masken mit leeren Augenhöhlen, und doch scheint es mir, als erkenne ich manche. Dies ist die alte Mitilda, die Kürbiskerne kochte und die dann – so erzählte man mir – in den Himmel kam. Aber doch ist sie hier, mit zerrissenen Schuhen und einem Tuch um ihr augenloses Gesicht. Und dies ist Lazzarino und sein Sohn Mandolino, beide ganz lang und hager, mit langen Armen, Zylinderhüten über den ausgezehrten Gesichtern. Ja, sie sind es, und andere kenne ich nicht, aber alle gleichen sie einander und schleppen ihre schweren Füße an den düsteren Mauern entlang. Einige tragen sonderbare Gewänder, aus Lumpen gemacht, in bunten und verblichenen Farben, oder sie haben Fetzen aus Stoff um den Oberkörper gewickelt und alle möglichen Hüte auf dem Kopf, wie man sie im Theater sieht. Manche Frauen tragen weite Kleider, die lautlos über den Boden streifen, und haben schwarz geschminkte Augen und Rouge auf der Haut. Andere wieder sind halbnackt und bleich.
Es sind die Toten, sie tappen unsicher umher und öffnen die Lippen, wie um zu trinken, und verlangen nach dem Licht ihrer Lampen. Keiner von ihnen hat Flügel; sie sind wie Maulwürfe, die aus der Erde hervorgekrochen sind. Gewiß glaubten sie unter der Erde, in jenem Licht noch den Tag zu sehen, und jetzt suchen sie tastend nach ihm. Nur die Lebenden können das Licht anzünden und löschen; so will es Gott, der Schweigsame, der die Lebenden züchtigt und die Toten in der Erde einschließt.
So war mein Gott; und jenes kleine Mädchen war ich oder vielleicht meine Mutter oder vielleicht auch die Mutter meiner Mutter. Ich bin gestorben und wiedergeboren, und bei jeder Geburt nimmt ein neuer, ungewisser Verlauf seinen Anfang. Und jenes kleine Mädchen ist immer noch dort in seiner unbegreiflichen Welt und stellt ängstliche Fragen im Schatten des richtenden Gottes, inmitten der Stummen.
Der Mann mit der Brille
Am dritten Dezember, es war ein Donnerstag, trat der Mann aus seinem Studierzimmer, einem düsteren Raum am Ende der Stadt. Sein Haar war zerzaust, der lange Bart von der Kälte gesträubt, und die Augenringe legten einen schwarzen Schatten auf seine Wangen. Er hatte die undeutliche und beinahe fremde Empfindung, als schwanke er, und das Knarren der Holztreppe klang wie ein nahes Dröhnen in seinen Ohren.
An der Haustür hielt die Pförtnerin, die mit einer Schaufel den Schnee beiseite schob, inne und sah ihn aufmerksam an:
»Wieviel Uhr ist es?« fragte er. »Neun«, gab sie zur Antwort und folgte ihm neugierig mit ihren geröteten Augen. »Seid Ihr in den letzten Tagen auswärts gewesen?« fragte sie schließlich. »In welchen Tagen?« sagte er, und es kostete ihn ungeheure Mühe, die Worte auszusprechen, »ich habe mich nie aus der Stadt fortbegeben.« »War ja nur eine Frage, weil ich Euch nicht mehr gesehen habe«, erklärte die Pförtnerin.
Der Mann wollte sie eigentlich daran erinnern, daß er doch am Abend vorher vorbeigekommen sei, um in ihrer ärmlichen Kammer die Post zu holen, doch dann dachte er, es sei unnütz, sich mit so einer Hexe abzugeben. Und er ging weiter die vereiste Straße hinab, gefolgt von ihren dummen Blicken.
Es war neun Uhr; er würde in die Milchbar gehen, um zu frühstücken, und dann würde er versuchen, irgend wie die Stunden hinzubringen bis zu dem Augenblick, da er zu ihr gehen würde. Am Tag zuvor hatte er sie nicht sehen können, weil Feiertag war. »Gräßlich, so ein Sonntag«, dachte er. Er erinnerte sich, daß er den ganzen Tag durch die Straßen der Stadt geirrt war, an den hohen, finsteren Häusern entlang, im schmutzigen Schnee, und daß er versucht hatte, irgend wo jene rundlichen, nackten Waden, jene liebreizenden Vogelaugen zu entdecken. Vielleicht war er deshalb mit zerschlagenen Gliedern aufgewacht. Natürlich war gestern all sein törichtes Umherirren vergeblich gewesen; aber heute würde er sie sehen wie immer. Bei dieser Gewißheit legte sich ein Nebel über seine Augen, und das Blut strömte ihm zum Herzen, daß sein Atem stockte.
Er ging auf dem weichen Schnee, ohne sich umzuschauen, und oft sanken seine Füße in die schwarzen Hufspuren der Pferde ein. Hohe, schattenlose Bäume überragten die Häuser mit den weißen Dächern. Vor der Milchbar hatten drei Männer ein Feuer angezündet; er setzte sich an den gewohnten Platz, mit dem Rücken zum trüben Spiegel, und nahm die Brille ab. Eilfertig lief die Milchfrau zu ihm hin; aber er hatte das Gefühl, als sehe er die Gesichter um sich her seltsam verzerrt und verkrampft, voller Augen und ohne Lippen. Wieder war ihm, als ob er taumelte.
»Der Herr ist wohl krank gewesen in den letzten Tagen?« fragte die Stimme der Milchfrau. »Aber nein!« erwiderte er schroff, »Ihr werdet Euch erinnern, daß ich gestern abend hier war und daß es mir sehr gutging.« »Was!« rief die Frau bestürzt, »seit Sonntag seid Ihr nicht hier gewesen!« »Eben, gestern war ja Sonntag«, murmelte er erschöpft. »Aber heute ist Donnerstag«, fuhr die Frau fort.
Er schüttelte den Kopf und schwieg verächtlich. Niemand konnte sich besser als er daran erinnern, daß der Tag zuvor ein Sonntag gewesen war; niemand kannte wie er das schmachtende Fieber der Sonntage, das fortwährende Im- Kreise- Irren, das vergebliche Warten. Jetzt wurde der unbegreifliche Nebel dichter um ihn her, und er empfand eine dunkle Furcht, er würde an diesem Ort ohnmächtig werden. »Meine Stirn wird gegen den Marmor des Tischchens schlagen«, dachte er. Doch