Das heimliche Spiel. Elsa Morante

Das heimliche Spiel - Elsa Morante


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sah er die Bäume jetzt deutlicher, die großen, reglosen Vögeln glichen. Ihm war, als höre er das Pfeifen des Windes, und er ging auf die Straße hinaus; aus dem Milchladen folgten ihm mitleidige Blicke. »Heute ist Donnerstag«, dachte er, »und gestern war Sonntag. Das ist doch nicht möglich.« Und er lachte höhnisch über diese Sinnlosigkeit. »Sag mal, mein Junge, welcher Wochentag ist heute?« fragte er einen Stallknecht mit dem Gebaren eines Betrunkenen. »Donnerstag«, er widerte dieser und sah ihn finster und mißtrauisch an. »Mein Gott!« murmelte er und versuchte angestrengt, sich zu besinnen; er sah ganz deutlich den gestrigen Abend wieder vor sich, den Sonntagabend. Die geschlossenen Geschäfte, die Menschenmenge, seine Unruhe und wie er sich, als es Nacht wurde, in sein Zimmer einschloß, nachdem er bei der Pförtnerin die Post abgeholt hatte.

      Er überquerte die Eisenbrücke mit dem arabeskengeschmückten Geländer, die über dem gefrorenen Fluß schwebte. Der grünlich schimmernde Himmel lastete schwer. Die Kuppeln und spitzen Kirchtürme der Stadt wurden sichtbar. »Wo sind nur diese drei Tage geblieben?« dachte er finster. Und er lachte schallend, als er seine Stimme über die leere Brücke hallen hörte. »Aber ich trinke doch nie«, sagte er laut, wie um sich zu rechtfertigen. Und plötzlich merkte er, daß er sich schon in der Nähe der Schule befand. Der Hof war sorgfältig gefegt, aber das Dach mit Schnee bedeckt. »Noch zwei Stunden, bis sie herauskommen«, dachte er verwirrt und ging im Schulhof auf und ab, mit herabhängenden Armen wie eine Marionette. Schließlich verließ er den Hof und ging träge die Wiese entlang, wobei er auf das quälende Knirschen des Schnees unter seinen Füßen lauschte. Unter einem niedrigen Baum mit dünnen, trockenen Zweigen blieb er stehen und lächelte bei dem Gedanken, daß er jetzt nur noch zu warten brauchte und sie dann sehen würde. Doch es schien ihm, als sähe er sein Lächeln neu und verzerrt wie in einem Spiegel vor sich, und er zuckte zusammen.

      Nie ging jemand durch diese Straße; zuweilen vernahm er das gedämpfte Geräusch eines Wagens und Pferdehufe, die auf den Schnee aufschlugen. Aber all das war in weiter Ferne. Die Kälte und die Reglosigkeit machten ihn träge, und diese Trägheit erschreckte ihn. Doch der Gedanke, ein Glied seines Körpers zu bewegen, und sei es auch nur, die Hand zu heben oder mit den Wimpern zu zucken, erfüllte ihn mit noch größerem Schrecken. Er hatte das Gefühl, als halte er sich nur mühsam im Gleichgewicht vor einer ungeheuren Leere und als werde er bei der geringsten Bewegung über den Rand schlittern. »Jetzt verliere ich den Verstand, ich werde blind, ich werde fallen, ich kann es nicht hindern«, dachte er mit plötzlicher Hellsichtigkeit.

      In diesem Augenblick hörte er die Schulglocke läuten. Gleich darauf vernahm er das Geschrei der Schülerinnen und sah die ersten herauslaufen mit ihren Regenmänteln und Mützen und den an den Riemen baumelnden Schulmappen. Sie redeten laut, lachten und hielten sich umgefaßt; ihm war, als sähe er jenes bestimmte Lächeln aufblitzen, und ein krampfartiges Zittern erfaßte ihn; aber er hatte sich getäuscht. Jetzt spürte er in seinem ganzen Körper eine Hitze aufwallen, außer in den Händen, die schweißnaß und eiskalt waren.

      Endlich sah er ihre Gruppe herauskommen. Er erkannte die drei Mädchen sogleich, die jeden Tag mit ihr zusammen kamen, doch heute war sie nicht dabei. Sie gingen ruhig, ohne miteinander zu reden, und von weitem erkannte er den braunen Mantel der größten, ihre stolze Art zu gehen und dabei das Kinn vorzustrecken. Er spürte, daß er die Erwartung und den Zweifel keine Minute länger ertragen würde, aber er rührte sich nicht. Nun sah er deutlich, wie eines der drei Mädchen sich aus der Gruppe löste und in seine Richtung lief. Während diese kräftige Kleine allmählich näherkam, konnte er sie genauer betrachten, ihr rundes Gesicht mit den dunklen, lebhaften Augen und die rosigen Hände, die den Schulranzen trugen. Sie hatte einen kurzen Mantel an, unter dem ein Zipfel ihrer Schürze hervorschaute. Ihre Beine waren nicht nackt wie die der andern, sondern mit Wollstrümpfen bekleidet. Sie blieb vor ihm stehen und starrte ihn fragend an, während sie kaum die Lippen bewegte. Er hatte den verzweifelten Willen, eine Frage zu stellen, doch es drang kein Laut aus seiner Brust.

      »Sie ist gestern gestorben«, sagte das Mädchen, ohne auf die Frage zu warten, »sie ist ganz plötzlich gestorben, aber sie war schon lange krank.«

      »Wie?« fragte er und erschrak, als er seine Stimme klar und deutlich hörte.

      »Der Lehrer hat über sie gesprochen, und wir sind alle aufgestanden«, fuhr das Mädchen fort. »Als ihr Name aufgerufen wurde, habe auch ich ›hier‹ gesagt.«

      Während das Mädchen sprach, beobachtete es den Mann mit aufmerksamer Neugier. Er stand gegen den Baum gelehnt, und die beschlagene Brille verbarg seinen Blick; er war seltsam geschwollen an den Schläfen und auf der Stirn, und der Bart ließ sein schwammiges und krankes Gesicht grau erscheinen. Seine herabfallenden, farblosen Lippen stammelten leise, und sein Körper, an dem die schmutzigen Kleider wie angeklebt waren, schüttelte sich wie im Krampf; es sah aus, als klammerten seine Hände sich irgendwo im Leeren fest. Wortlos wandte er sich um, und das Mädchen sah ihn den Pfad hinuntergehen. Mit seinen schlenkernden Armen und den gebeugten Schultern schien er in schwerfälliger Plumpheit vorwärts zu fallen durch den Nebel.

      Das Mädchen blickte zur Schule zurück; die Gefährtinnen, wohl müde geworden zu warten, waren fortgegangen, und die Fenster waren geschlossen; auch das Gittertor war geschlossen, und die Kleine wunderte sich, daß die Schule, die eben noch so voller Leben gewesen war, nach wenigen Minuten verlassen dalag. Es schien ihr, als habe sie eine lange Zeitspanne vor sich, und sie wußte nicht, was sie damit anfangen sollte. Ein unerwarteter, schwerer Nebel hatte sich über den tiefer gelegenen Teil der Stadt gelegt, aber die Kuppeln und Turmspitzen ragten noch heraus, und es schien, als schwebten sie in der Höhe. Von dem offenen Platz aus sah sie die Straßen, die Brücke und den Fluß, doch alles undeutlich und versunken. Sie wanderte zwischen den Bäumen hindurch, und schon war die Schule nicht mehr zu sehen. Auf einem unberührten Schneepfad beschleunigte sie den Schritt und dachte: »Ich gehe zu ihr.«

      Der Ort, zu dem sie gelangte, war ihr unbekannt; er war von Nebel überflutet, und hohe Gebäude ragten auf, deren Umrisse und Farben man nicht erkennen konnte. Ein dunkles Volk lief dort in fieberhafter Eile umher, ohne daß jemand sich stieß oder stehenblieb. Es gelang ihr nicht, in dieser zahllosen Menschenmenge die Gesichter und Kleider zu unterscheiden; alle kreuzten oder überholten einander rings um sie her, und fortwährend ertönten die Schritte, einem Regen ähnlich und wie von einer unendlichen Entfernung gedämpft.

      Auch sie fing an zu laufen. »Maria!« rief sie laut; und ihr Ruf kam als Echo zurück und dann ein zweites Mal aus weiterer Ferne. »Maria!« rief sie noch einmal und blieb verwirrt stehen. Eine Stimme, so erstickt und flüchtig, wie wenn man Verstecken spielt, antwortete schließlich: »Clara.« Sie lief ziellos durch die hastende Menge, die sie streifte, ohne sie zu berühren; immer wieder rief sie den Namen der Freundin, bis sie sie mitten zwischen den Leuten stehen sah. Sie erkannte sie ganz deutlich: Sie hatte nur ihre Schulschürze an, und ihre Augen waren starr und weit aufgerissen.

      »Frierst du nicht?« fragte sie sie, er hielt aber keine Antwort. »Der Wind hat dich ganz zerzaust«, sagte sie.

      Da strich sich Maria zerstreut mit den Fingern durch die Locken.

      »Weißt du, daß ich ihn gesehen und mit ihm gesprochen habe?« fuhr Clara leise fort. Die Freundin trat von ihr weg mit verwirrtem Blick und schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir keine Angst machen«, entschuldigte Clara sich rasch, und eine schmerzende Beklommenheit erfaßte sie. Auf dem Gesicht ihrer Gefährtin waren Falten entstanden, ihre Augen hatten sich getrübt, und sie sah plötzlich viel magerer aus. »Das ist gewiß wegen der Krankheit«, dachte Clara.

      »Er war es, der mich getötet hat«, sagte die Freundin sogleich mit einer so schrillen Stimme, daß Clara zusammenzuckte. Doch es war nicht mehr möglich, sich verständlich zu machen, ohne zu schreien; alle diese Menschen, die auf der Flucht zu sein schienen, verursachten nun ringsum einen tosenden Wind, und man mußte die Arme dicht an den Körper pressen, um die Kleider festzuhalten. »Warum willst du mitten unter all den Menschen reden?« fragte sie, »war um ziehen wir uns nicht in eine Ecke zurück?« Aber es gelang ihr nicht, ihre Frage und ihren vorwurfsvollen Ton hörbar zu machen.

      Maria neigte den Kopf ernst und versunken wie jemand, den es große Mühe kostet, sich zu erinnern. Als sie wieder zu sprechen begann, dämpfte


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