Über den Tod und das Leben danach. Elisabeth Kubler-Ross

Über den Tod und das Leben danach - Elisabeth Kubler-Ross


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in Ihrem Leben gedacht haben, Sie wissen um jede Tat und um jedes Wort, das Sie je gesprochen haben. Aber dieses Sicherinnern ist nur ein ganz kleiner Teil Ihres Gesamtwissens. Denn Sie wissen in diesem Moment, in dem Sie Ihr ganzes Leben nochmals anschauen, über alle Konsequenzen Bescheid, die sich aus jedem Ihrer Gedanken, jedem Ihrer Worte und jeder Ihrer Taten ergeben haben.

      Gott ist bedingungslose Liebe. Bei der “Revision” Ihres Lebens werden Sie nicht Ihm die Schuld an Ihrem Schicksal zuschieben, sondern Sie erkennen, dass Sie Ihr eigener schlimmster Feind waren, da Sie sich jetzt vorwerfen müssen, so viele Gelegenheiten zum Wachsen ungenutzt gelassen zu haben. Jetzt wissen Sie, dass es sich bei all Ihren Schicksalsschlägen – als Ihr Haus abbrannte oder als Ihr Kind starb, als Ihr Mann verletzt wurde oder als Sie selbst einen Schlaganfall erlitten – um unzählige Möglichkeiten zum Wachsen handelte, zum Wachsen an Verständnis, zum Wachsen an Liebe, zum Wachsen an allen Dingen, die wir noch zu lernen haben. “Und statt die mir dargebotenen Chancen zu nutzen”, so bereuen Sie jetzt, “habe ich mich mit jedem Mal mehr und mehr der Verbitterung hingegeben, so dass meine Wut und auch meine Negativität zunahmen …”

      Wir sind für ein ganz einfaches, schönes, herrliches Leben geschaffen worden. Und ich muss betonen, dass es nicht nur in Amerika geprügelte, geschlagene und vergessene Kinder gibt, sondern auch in der herrlichen Schweiz. Mein großer Wunsch ist, dass Sie das Leben anders betrachten können. Wenn Sie das Leben so betrachten, wie wir geschaffen wurden, dann würden Sie auch die Frage nicht mehr stellen, welche Leben man verlängern darf. Dann würde kein Mensch mehr fragen, ob man jemandem eine Überdosierung geben sollte, um ein Leiden zu verkürzen. Sterben muß nie Leiden sein. Die Medizin ist heutzutage so phantastisch, dass wir jeden Sterbenden schmerzfrei halten können. Wenn Ihre Sterbenden schmerzfrei und liebevoll gepflegt werden und Sie den Mut haben, sie mit nach Hause zu nehmen – alle!, wenn menschenmöglich –, dann wird kein Mensch Sie um eine Überdosierung bitten.

      Innerhalb der letzten zwanzig Jahre hat mich nur ein einziger Mensch um eine Überdosierung gebeten. Und das habe ich nicht verstanden. Und ich habe mich zu ihm gesetzt und ihn gefragt: “Warum wollen Sie das?” Alsdann hat er mir offenbart: “Ich will es nicht. Aber meine Mutter. Sie kann dem nicht mehr zusehen. Darum habe ich ihr versprochen, um eine Spritze zu bitten.” Natürlich haben wir dann mit der Mutter gesprochen und ihr geholfen. Verstehen Sie, es war nicht Hass, der sie zu diesem Verzweiflungswunsch trieb, aber es war ihr alles zu viel geworden. Kein Sterbender wird Sie um eine Überdosierung bitten, wenn er liebevoll gepflegt wird und Sie ihm helfen, seine unerledigten Geschäfte zu erledigen.

      Auch möchte ich darauf hinweisen, dass es ein Segen für viele ist, Krebs zu haben. Ich möchte nicht all die Übel verkleinern, die mit der Krebskrankheit einhergehen. Aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass es hunderttausendmal schwerere Dinge gibt als Krebs. Ich habe Patienten mit amyotropher Lateralsklerose, mit einer neurologischen Krankheit also, bei der Sie zuschauen, wie sie bis zum Nacken gelähmt werden. Sie können nicht mehr atmen, sie können nicht mehr sprechen. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie es ist, wenn man total bis zum Kopf gelähmt ist. Man kann nicht schreiben, noch nicht einmal sprechen, nichts. Wenn Sie solche Menschen kennen, lassen Sie es mich wissen. Wir verfügen über eine ganz hilfreiche Sprachtafel, die es den Kranken ermöglicht, mit Ihnen zu kommunizieren.

      Mein Wunsch ist es, dass Sie vielen Menschen ein bisschen mehr Liebe zeigen. Denken Sie daran, dass die Menschen, denen Sie dieses Jahr das größte Weihnachtsgeschenk überreichen, oft gerade diejenigen sind, vor denen Sie am meisten Angst haben oder denen gegenüber Ihre Gefühle am negativsten sind. Hören Sie das? Ich bezweifle, dass Sie es nötig hätten, jemandem ein großes Geschenk zu machen, wenn Sie ihn stattdessen bedingungslos lieben würden. Es gibt zwanzig Millionen Kinder, die an Hunger sterben. Adoptieren Sie solch ein Kind, und machen Sie kleinere Geschenke. Und denken Sie auch daran, dass es viele arme Leute in Westeuropa gibt. Teilen Sie Ihren Segen. Und dann, wenn die Windstürme des Lebens kommen, denken Sie daran, dass diese Windstürme des Lebens ein Geschenk sind, das sich nicht im Moment, aber vielleicht schon in zehn oder zwanzig Jahren als solches erweist, da es Ihnen Kraft gibt und Sie Dinge lehrt, die Sie sonst überhaupt nicht gelernt hätten. Wenn Sie – symbolisch gesprochen – wie ein Stein in eine Schleifmaschine geraten, hängt es ganz von Ihnen selbst ab, ob Sie vollkommen zerschlagen werden oder ob Sie als ein strahlender Diamant daraus hervorgehen.

      Zum Schluss möchte ich Ihnen noch versichern, dass es ein Geschenk ist, am Bett von Sterbenden zu sitzen, dass das Sterben keine traurige und furchtbare Angelegenheit sein muss, dass Sie dabei vielmehr ganz, ganz herrliche, liebe Dinge erleben können. Und wenn Sie diese Lehren, die Sie von den Sterbenden gelernt haben, an Ihre Kinder und Kindeskinder und auch an Ihre Nachbarn weitergeben würden, dann wäre diese Welt bald wieder ein Paradies. Und ich glaube, es ist Zeit, damit anzufangen.

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