Spionin wider Willen. Mila Roth
Sie blickte sich nach einem Bistro um und erschrak, als unvermittelt ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit dunkelbraunem Haar und in der Montur der Flughafenreinigungskräfte neben ihr auftauchte und sie am Arm berührte. »Hey, was soll das?« Unwillkürlich machte sie einen Schritt rückwärts, was jedoch nur dazu führte, dass der Fremde ihr folgte und seinen Griff um ihren Arm leicht verstärkte. Er zog sie nicht ganz sanft mit sich.
»Regen Sie sich bitte nicht auf«, sagte er in beschwörendem Ton. »Gehen Sie einfach ein Stückchen mit mir – dort hinüber zum Café.«
»Was soll das? Sind Sie verrückt geworden?« Janna versuchte erneut, sich ihm zu entziehen. »Lassen Sie mich sofort los!«
»Bitte …« Der Fremde suchte ihren Blick. »Sie müssen mir helfen. Ich werde … Ich bin in Schwierigkeiten.«
Janna starrte ihn für einige Sekunden sprachlos an. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Soll das ein Witz sein? Ist das hier die versteckte Kamera?«
»Bitte!«, wiederholte er mit Nachdruck. »Begleiten Sie mich einfach in das Café. Ich muss mit Ihnen reden. Es ist sehr wichtig!« Unter seinem beschwörenden Blick begann sich Janna zunehmend unwohl zu fühlen. Die Augen des Mannes waren von einem undefinierbaren Braunton mit grauen und grünen Einsprengseln. Und sie wirkten überraschend aufrichtig.
Der Griff um ihren Arm verstärkte sich erneut. »Bitte!«, wiederholte der Mann nun noch dringlicher. »Kommen Sie mit!«
Janna konnte sich nicht erklären, weshalb sie auch nur in Erwägung zog, der Aufforderung dieses Fremden Folge zu leisten, doch sein gehetzter und gleichzeitig so irritierend ehrlicher Blick veranlasste sie dazu, ihm tatsächlich in Richtung des Cafés zu folgen. »Also gut«, sagte sie. »Womit kann ich Ihnen helfen?«
Der Mann zog sie mit sich an einen der wenigen Tische, die noch frei waren. Als sie sich setzten, rückte er seinen Stuhl so, dass er den Eingang im Auge behalten konnte. »Hören Sie gut zu«, begann er mit gesenkter Stimme und zog gleichzeitig einen braunen, gepolsterten Briefumschlag unter seinem Hemd hervor. Dabei blitzte an seinem Hosenbund etwas auf, von dem Janna entsetzt hoffte, dass es sich nicht wirklich um eine Waffe handelte.
Er schob ihr den Umschlag hin und sah erneut zur Tür, dann suchte er wieder ihren Blick. »Nehmen Sie diesen Umschlag. Bringen Sie ihn nach Bonn zu Axel Wolhagen. Die Adresse finden Sie im Telefonbuch. Händigen Sie nur ihm – niemand anderem – den Umschlag aus.«
Nun war es an Janna, sich zur Tür umzudrehen und danach ihre übrige Umgebung ins Auge zu fassen. »Das ist ja wohl wirklich ein Scherz, oder? Wo sind die Kameras?«
»Hören Sie, das ist kein Scherz, sondern eine Angelegenheit von enormer Wichtigkeit. Tun Sie einfach, was ich gesagt habe. Axel Wolhagen in Bonn. W-O-L-H-A-G-E-N«, buchstabierte er. »Verstanden? Die Adresse steht im …«
»Telefonbuch. Natürlich habe ich das verstanden. Aber was um alles …« Janna sah erstaunt zu ihm auf, da er sich schon wieder erhoben hatte. »Wohin gehen Sie?«
Er drehte sich noch einmal zu ihr um. »Geben Sie den Umschlag unter keinen Umständen jemand anderem als Axel Wolhagen. Lassen Sie sich seinen Ausweis zeigen. Und kein Wort darüber – zu niemandem!«
»Aber …«
»Tun Sie es einfach!« Damit verließ er das Café und wandte sich nach rechts. Gerade als er aus Jannas Blickfeld verschwunden war, sah sie drei südländisch aussehende Männer von links vorbeirennen. Rasch stand sie auf und verließ das Café. Sie hörte empört protestierende Stimmen der Reisenden, die von den drei Männern unsanft beiseite gestoßen wurden. Halb aus Neugier, halb entsetzt lief sie ebenfalls ein Stück in die gleiche Richtung und schnappte entgeistert nach Luft, als sie beobachtete, wie einer der Verfolger den hochgewachsenen Mann auf der Rolltreppe stellte und in die Seite boxte. Bevor jemand auf die beiden aufmerksam werden konnte, waren sie bereits wieder von der Rolltreppe herunter. Die drei Verfolger umringten den Mann in Putzuniform und stießen ihn vor sich her in Richtung der Treppen. Janna war sich nicht sicher, doch es sah so aus, als hielte einer der Drei dem Gefangenen eine Schusswaffe gegen die Rippen.
Ihr wurde eiskalt und heiß zugleich. Zischend stieß sie die Luft aus, von der sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie sie angehalten hatte. Ihr Herz hämmerte rasend schnell in ihrer Brust. In was um alles in der Welt war sie da gerade hineingeraten? Eine Entführung? Oder ein anderes Verbrechen? Unschlüssig blickte sie auf den braunen Umschlag. Sollte sie ihn nicht am besten einem der patrouillierenden Polizisten übergeben? Was, wenn der Inhalt gefährlich war? Illegal? Würde sie sich strafbar machen, wenn sie ihn behielte? Vorsichtig tastete sie den Umschlag ab. Der Inhalt fühlte sich hart an und leicht, wie die Hülle einer CD.
Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe, dann fiel ihr ein, weshalb sie eigentlich hier am Flughafen war. Ihre Schwester würde gleich aus der Abfertigung kommen. Nachdenklich drehte sie den Umschlag in ihren Händen. Warum nur hatte sie ihn angenommen und noch dazu versprochen, ihn an diesen Axel Wolhagen auszuliefern? Wobei … eigentlich hatte sie es ja nicht versprochen. Dieser Mann hatte sie dazu gedrängt. Sie konnte noch immer hingehen und den Umschlag in den nächstbesten Mülleimer werfen. Oder doch der Polizei übergeben. Ja, Letzteres war sicher das Beste.
Dennoch zögerte Janna. Vor ihrem inneren Auge tauchte wieder das Gesicht des Fremden auf, seine seltsamen braunen Augen, sein intensiver Blick. Er hatte nicht wie ein Verbrecher gewirkt. Eher wie … Sie wusste es nicht. Schließlich hatte sie auch noch niemals in ihrem Leben mit leibhaftigen Gangstern zu tun gehabt.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr und meinte, in einiger Entfernung einen der drei Verfolger zu erkennen. Instinktiv schob sie den Umschlag in ihre Umhängetasche und verschloss den Reißverschluss. Als sie sich umdrehte, um nach einem Ort zu suchen, an dem sie sich unsichtbar machen konnte, hörte sie jemanden freudig ihren Namen rufen. Im nächsten Moment wurde sie erneut unsanft herumgerissen und heftig umarmt.
»Janna!«, rief Felicitas und drückte sie übermütig an sich. »Bin ich froh, endlich wieder zu Hause zu sein!«
3
Außenbezirk von Rheinbach
Gut Tomberg
Sonntag, 17. Juli, 12:10 Uhr
»Warum ist Feli denn nicht gleich mit hierhergekommen?«, beschwerte sich Jannas Mutter. »Ich habe mich schon so gefreut, sie wiederzusehen, und für eine Person mehr ist auch immer genug zu essen da. Du hättest sie wirklich überreden sollen, Janna. Immerhin ist das Kind jetzt schon mehr als zwei Monate in der Weltgeschichte herumgejettet. Da hätte ihr ein ordentliches, selbst gekochtes Mittagessen bestimmt gutgetan. Janna? Janna, hörst du mir überhaupt zu?« Linda drehte sich vom Herd weg, an dem sie eifrig hantierte, und blickte mit gerunzelter Stirn auf ihre Tochter, die sich über ein Telefonbuch beugte. Dann wandte sie sich an ihren Mann, der neben Janna am Küchentisch saß und in der Sonntagszeitung las. »Nun sag doch auch mal was, Bernhard! Findest du nicht auch, dass Janna ihre Schwester hätte mitbringen müssen?«
Bedächtig ließ Bernhard Berg seine Zeitung sinken und faltete sie ordentlich zusammen, bevor er antwortete. »Sicher, Linda, das hätte sie. Wie ich sie kenne, hat sie es auch bestimmt versucht. Aber du kennst doch unsere Feli. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, bringt sie so leicht niemand davon ab. Eine typische Eigenart der Berg-Frauen, wie ich anfügen möchte.« Liebevoll lächelte er seiner Frau zu. Er war ein Mann von mittlerer Größe, schlank mit ehemals blonden, nunmehr ergrauten Locken, die er seiner älteren Tochter vererbt hatte. Das leuchtende Kupferrot hingegen hatte sie von ihrer Mutter, ebenso wie ihre offene, zupackende und stets fröhliche Art. Momentan jedoch wirkte sie alles andere als heiter. Bernhard sah seiner Tochter an, dass etwas sie beschäftigte. »Wen oder was suchst du denn im Telefonbuch, Schätzchen?«
Janna hob kaum den Kopf. »Nichts Besonderes«, antwortete sie etwas zerstreut. »Sag mal, Papa, weißt du zufällig, wo in Bonn die Angelbisstraße ist?«
»Die Angelbisstraße?« Bernhard rieb sich das Kinn. »Die müsste in der Nordstadt sein. Beim Sportpark Nord. Warum? Musst du da hin?«