Der Fälscher. Günter Pelzl
liebevollen Kindergärtnerinnen, die von uns ebenfalls »Tanten« genannt wurden. Wir besaßen einen besonderen Schatz: eine riesige Kiste mit Holzbausteinen. Ein Tischler aus dem Dorf hatte sie aus Holzabfällen zurechtgesägt, und manchmal gab es Nachschub. Der große Spielraum war ständig mit Bauten aus diesen Steinen belegt.
Ich kann mich nicht erinnern, hier irgendwann einmal eine schlechte Erfahrung gemacht zu haben. Und doch startete ich unter diesen Bedingungen meine erste Ein-Personen-Unternehmung. Ich ging einfach nicht mehr in den Kindergarten. Ich bog morgens, von meiner Mutter mit einer gefüllten Brottasche gut ausgerüstet, an der riesigen Dorflinde nicht nach links über die alte Brücke zum Kindergarten ab, sondern lief nach rechts den Berg hinauf zum Burschenhäuschen, daran vorbei, noch um einen Garten herum, zu meinem neuen Spielplatz: einer romantisch gelegenen Steinbank zwischen Birken und Haselnusssträuchern. Von dort aus konnte ich die große Kirchturmuhr sehen. Ich wusste genau, wie die Zeiger stehen mussten, damit ich pünktlich um drei wieder zu Hause war. Genauso pünktlich nach der Uhr aß ich mein Frühstück; nur auf das Mittagessen verzichtete ich. Das war Anfang der 1950er Jahre sowieso keine besonders schmackhafte Angelegenheit. Wer kennt heute noch Graupensuppe? Und auch die später von meinen Kindern geliebten Nudeln mit Tomatensoße waren kein Gaumenschmaus. Die Farbe der Tomatensoße ähnelte dem ausgeblichenen Rot unserer Federbetten, wenn Mutter die Bezüge wechselte. Wir hatten die mit selbst gerupften Gänsefedern gefüllten Betten von Elsa bekommen. Mit mir selbst völlig im Reinen, konnte ich so tagelang nur mit mir und der Natur spielen. Das Wetter war schön, es war Sommer, und keinem fiel etwas auf, bis nach einigen Tagen eine Kindergärtnerin meine Mutter zufällig fragte, ob ich krank sei. Nun kam mein Alleingang ans Licht, und ich wunderte mich, dass sich alle so aufregten. Es war doch gar nichts passiert!
Eines Tages war meine Schwester verschwunden. Eben hatte man sie noch mit ihrer Freundin auf dem Bauernhof des »Barons« spielen gesehen, und nun waren beide nicht aufzufinden. Nach fast einem Tag hatte die Suche schon Ausmaße erreicht, die Schreckliches erahnen ließen. Aber dann entdeckte man die Mädchen doch noch rechtzeitig. Sie lagen in einer Scheune im Heu und schliefen. Anhand der umherliegenden Pillenschachteln erkannte man auch, was sie gespielt hatten. Diese Episode fand glücklicherweise mit einem mehrtägigen Dauerschlaf unter ärztlicher Aufsicht ein glimpfliches Ende.
Die Kinder im Dorf spielten grundsätzlich alle miteinander. Es gab keine altersbedingten Gruppen oder Ausgrenzungen aufgrund von Streitigkeiten. Keiner hatte Spielzeug, jedenfalls keines, was nach heutigen Kriterien diesen Namen verdient hätte, also gab es auch kaum Anlass für Streit. Auch die Spielplätze wurden gemeinsam gewählt: die Linde, der Kastanienplatz mit der Milchrampe, die Brücke, die Kirchhofsmauer. Auf der Milchrampe, die einem großen, sehr stabilen Tisch ähnelte, stellten die Bauern ihre vollen Milchkannen aus Aluminium ab, die dann das Milchauto in die Molkerei nach Jena brachte. Auf der Rampe und der Mauer spielten wir »Haschen«, das heißt Fangen, sehr zum Leidwesen von Elsa und Tante Trude, die das Terrain gut einsehen konnten und offensichtlich den Lärm, den wir machten, nicht ertragen wollten. Die Glasscherben auf der Mauer hatten wir längst mit Steinen »entschärft«. Ihr Sinn war uns ohnehin verborgen geblieben. Die Toten waren tot und wollten auch nachts um zwölf nicht über die Mauer, und auf dem Kirchhof gab es nichts zu stehlen. Als unser Schulhof vergrößert wurde, musste auch ein Teil des ehemaligen Kirchhofs abgetragen werden, auf dem schon lange keiner mehr beerdigt wurde. Grabsteine standen nur noch zwei oder drei herum, und es war nicht mehr lesbar, wer dort begraben worden war. Trotzdem fand man Gräber, in denen die Toten in noch fast intakten Särgen lagen. Manche von ihnen trugen ein Kopftuch um den jetzt kahlen Schädel.
Beim Spielen im Dorf musste ich immer auf der Hut sein, Oma Elsa nicht unter die Augen zu kommen. Sie hatte eine durchdringende Stimme, und wenn sie mich einmal von ihrem Fenster aus erblickt hatte, war ein Entrinnen unmöglich. Ich hatte keine Angst vor ihr, aber ich ließ mich ungern beim Spielen stören. Sie war durch ihr beträchtliches Körpergewicht schon ziemlich unbeweglich und nutzte jede Gelegenheit, mich zum Einkaufen zu schicken. Einmal verdonnerte sie mich – mitten im schönsten Spiel –, ihr Milch aus dem Konsum zu holen.
Die Milch wurde damals aus einer Milchkanne herausgeschöpft und lose verkauft. Der Vorgang und das Maß waren mir vertraut: Wenn Mutter einen achtel Liter Milch kaufte, nahm sie den kleinsten ihrer Milchkrüge aus Aluminium mit dem senkrechten Stiel, schöpfte das Achtel aus der Kanne und goss es in den mitgebrachten Krug. Der Name »Magermilch« verriet, dass man von dieser Milch nicht fett werden konnte. Heute würde sie möglicherweise unter dem Namen »fettfreie Milch« reißenden Absatz finden. Allerdings musste man sie möglichst noch am selben Tag trinken, denn sonst hatte man saure Milch, die wir Kinder aber auch mochten. Damals konnte man saure Milch noch bedenkenlos trinken, heute ist sie aus vor allem Chemikern bekannten Gründen ungenießbar, auch wenn vorn »Bio« draufsteht.
Ich ging also mit Oma Elsas Milchkanne los. Es war eine umgebaute Gasmaskenbüchse mit Henkel und Holzgriff. Auf dem Rückweg kam ich auf die Idee, mit der Kanne etwas auszuprobieren: Wenn man sie nur schnell genug am Arm kreisen ließe, bliebe die Milch in der Kanne, auch wenn diese im Kreis gerade oben schwang. Genau das testete ich, nur dummerweise unter Oma Elsas Fenster. Es klappte vorzüglich, die Milch blieb drin. Als ich aber gerade überlegte, wie ich nun wieder mit der Dreherei aufhören könnte, ohne zu kleckern, hörte ich Oma Elsas durchdringende Stimme. Das Problem löste sich wie der Henkel von der Kanne von selbst, und ich stand da, einen krummen Draht mit Holzgriff in der Hand. Kanne und Milch waren auf und davon.
2. Kapitel
Die Soldaten mit den roten Sternen •
Panjepferde und Panzer • Die Russen,
der Schnaps und der Konsum • Der
kommunistische Weihnachtsmann • Wenn es Raachermannel nabelt • Weihnachten in der Familie • Auf Schusters Rappen • Das Wunder mit den Bratheringen • Elsas
Koch- und Backkunst • Zucker für den Storch • Brotsuppe • Glück im Unglück • Ferienlager an der Ostsee
Die Russen gehörten seit 1945 zum Dorf. Sie kampierten in der Kaserne hoch auf dem Berg, für uns Kinder unerreichbar. Die Russenkaserne war früher eine Wehrmachtskaserne gewesen, hatte für uns also einfach nur andere Bewohner. Aus welchem Grund die Russen nach Ammerbach gekommen waren, wussten wir nicht. Der Krieg spielte im Denken von uns Kindern nur eine untergeordnete Rolle, obwohl wir schon ahnten, dass es da etwas gab, was die Erwachsenen in unserer Gegenwart bei Gesprächen immer peinlich umschifften. Wir konnten nicht wissen, dass das Land, aus dem die Soldaten mit den roten Sternen an den Mützen kamen, in einem erbarmungslosen Krieg überfallen, niedergebrannt, verwüstet worden war. Die Täter waren Männer, wie mein Vater einer gewesen war, als er noch seine schmucke Uniform trug. Sie hatten Millionen Tote hinterlassen. Hätte man es mir gesagt, ich hätte es nicht geglaubt oder nicht verstanden. Ich hatte bis dahin noch nie einen toten Menschen gesehen. Alle, die ich liebte, lebten und waren um mich herum. Die Worte »Rache« und »Vergeltung« kannte ich nicht. Unbekümmert sangen wir zu jeder Gelegenheit: Maikäfer, flieg! / Der Vater ist im Krieg. / Die Mutter ist im Pommerland. / Pommerland ist abgebrannt … Oder: Rumbumbum, de Russen kumm’. / Der Vater trägt die Fahne … Niemand musste dafür nach Sibirien.
Im Dorf tauchten die Rotarmisten in der Regel in kleinen Gruppen auf, die lediglich ein Ziel hatten: den Dorfkonsum. Zu uns Kindern waren sie immer freundlich, und manchmal verschenkten sie auch kleine rote Sterne von ihren Mützen. Wir hörten ihnen gern zu, wenn sie sangen. Sie hatten Heimweh, das merkte man deutlich.
Gleich nach dem Einzug der Roten Armee in Thüringen hatte es einige Auseinandersetzungen im Dorf gegeben, als sie zum Beispiel einem Bauern eine Kuh mit der Maschinenpistole abmurksten und ihm dafür einen Stapel Reichsmark mit einem Bajonett an die Stalltür nagelten. Sie waren ja im Lande des Feindes, da mussten sie keine Rücksicht nehmen. Sie wussten nur zu gut, wie es bei ihnen zu Hause aussah, aber hier war noch jeder Stein auf dem anderen, und die Menschen gingen ihrem Tagewerk nach, als hätte es nie einen Krieg gegeben.
Solche Gedanken gingen uns damals nicht durch den Kopf. Inzwischen war etwas Ruhe eingekehrt. Manchmal gab es einen Auflauf, wenn größere Einheiten durch das Dorf zogen. Wir standen dann immer aufgeregt als Zuschauer an der Straße und bewunderten die vorbeidonnernden Panzer ebenso wie die