Der Fälscher. Günter Pelzl

Der Fälscher - Günter Pelzl


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Das Wichtigste war dabei der Strick und der Knoten. Wäre sie aus dem ersten Stock auf den Fußweg gefallen, hätte sie sich auch ohne Kopf mit Hilfe anderer Leute davongemacht.

      Die Produktion der Thüringer Klöße kann ich hier übergehen, ebenso das Rezept für Thüringisches Rotkraut. Jedenfalls war trotz dieser üppigen Beilagen spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag von der Gans nichts mehr übrig als das in Gläsern abgefüllte Gänseschmalz.

      Lustig war immer das Abschmücken des Weihnachtsbaums. Die Kugeln und die Weihnachtsbaumspitze ­kamen wieder in dieselben wackeligen Pappschachteln zwischen morsches Seidenpapier. Süßigkeiten waren schon lange nicht mehr am Baum. Das Lametta wurde vorsichtig abgehängt, für das nächste Jahr. Bei all dem hatte der Baum schon reichlich Nadeln eingebüßt. Mutter lamentierte dann, dass das ganze Treppenhaus beim Abtransport vollgenadelt werden würde. Vater fand die einfache Lösung: Er griff den Baum oben am Stamm und stukte ihn zweimal auf den Boden. Die Nadeln waren daraufhin so ziemlich alle ab. Das Gerippe warf er dann aus dem Fenster meines Zimmers in den Hof. Die Treppe blieb sauber.

      Zuweilen wurde bei uns zu Hause Rommé gespielt. Dann fand sich auch der Schuster ein, der das Spiel leidenschaftlich mochte, aber genauso leidenschaftlich schummelte. Kam mein Vater mit seinem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn dahinter, schmiss er die Karten auf den Tisch und stieg schimpfend aus. Das hinderte den Schuster nicht daran, weiterzumachen. In mir fand er immer einen Bewunderer, wenn er versuchte, mir einen Joker in einem seiner Hauslatschen unter dem Tisch zuzuschieben.

      Der Schuster war der Mann meiner Tante Trude und tatsächlich Schuster mit einer entsprechenden Schusterwerkstatt gegenüber der Kirche. Ich ging gern zu ihm in die Werkstatt. Es war warm dort, es roch nach Schuster­leim und Gummilösung, und ich bekam immer etwas zum Nageln und Hämmern. Er war belesen, technisch versiert, hörte ständig Radio und war so etwas wie die Informationszentrale des Dorfes. Seine Kunden brachten die Schuhe wohl mehr wegen der Klatscherei zu ihm. Von seiner Schusterbude aus hatte er die alte Feld­telefonleitung der Wehrmacht aus der Flakstellung zu seiner Frau auf die andere Straßenseite hinübergelegt, über die sie miteinander in Kontakt traten. Wenn er mit ihr nicht reden wollte, hob er einfach nicht ab, auch wenn sie noch so schnell an der Kurbel drehte. Das war für beide sehr praktisch, denn sie machte das im umgekehrten Falle genauso. Von ihm bekam ich auch meinen ersten Kristall-Detektor, die Urform des heutigen Radios, zum Experimentieren. Später als Chemiestudent präparierte ich ihm dafür seine Schleifbänder für die Gummisohlen, damit sie länger hielten. Daraufhin stieg ich ungemein in seiner Achtung.

      Ein einziges Mal nutzte ich seine fachmännischen Fähig­keiten, aber mit fatalen Folgen. Als ausgemachter Beatles-Fan hatte ich ein Paar elegante, braune Schuhe erstanden. Vorn spitz, hatten sie einen flachen Absatz und eine dünne Ledersohle. Leider waren die Sohlen bald durchgetanzt, und ich hoffte, der Schuster könnte das beheben. Er war aber Schuster und kein Schuhmacher. Der Unterschied zwischen beiden war mir damals nicht geläufig. Als er die Schuhe betrachtete und ungläubig den Kopf schüttelte, was man alles so als Schuh bezeichnete, hätte ich die Sache noch abbrechen können. Als ich nach Tagen meine geliebten Schuhe in Empfang nahm, blieb mir der Dank fast im Halse stecken. Mit diesen von ihm frischbesohlten Botten hätte ich den glühenden Vesuv besteigen können, ihre Karriere als Tanzschuhe war beendet. Ein richtiges Dorf brauchte einen Schuster, keinen Schuhmacher.

      Irgendwann an einem heißen Sommerabend kam einmal eine langersehnte Lieferung für den Konsum: ein ganzes Holzfass gefüllt mit grünen Heringen. Es war kurz vor Ladenschluss, das Wochenende war gekommen. Meine Eltern wussten genau, dass Montagfrüh kein Hering mehr genießbar sein würde. Guter Rat war teuer. Mutter hatte ihre »Küchenausbildung« natürlich bei Oma Elsa absolviert, und so hatte sie die rettende Idee. Das ganze Wochenende hindurch wurde mit Mehl, Zwiebeln, Zucker und Essig hantiert und gebraten. Wir produzierten Bratheringe!

      Die Bratheringe waren am Montag der Verkaufsschlager schlechthin. Mittags waren sie alle. Kein Ammer­bacher kam zu Schaden. Im Gegensatz zur Geschichte in der Bibel kamen nur genauso viele Bratheringe heraus, wie Heringe im Fass gewesen waren. Eine wundersame Vermehrung blieb aus. Mich wunderte das nicht. Mein Vertrauen in die Kraft biblischer Gleichnisse ging schon damals gegen null. Leider hatte die staatliche Konsum­bürokratie dafür keinerlei Verständnis. Obwohl mein ­Vater eine perfekte Kalkulation vorlegte und der Konsum keinen einzigen Heringsschwanz abschreiben musste, hatten meine Eltern gegen alle möglichen Bestimmungen verstoßen. Die auferlegte Strafe war wohl aber nicht allzu hoch, der Konsumbetrieb ging jedenfalls weiter seinen gewohnten Gang.

      Urgroßmutter Elsas Kochkunst war unbeschreiblich. Sie kannte alle Tricks, aus einfachsten Zutaten die besten Gerichte zu zaubern. Nur so konnte man in dem bitterarmen Thüringer Bergen über die Runden kommen. Sie kannte alle Gewürze, Kräuter und Pilze und sammelte und trocknete selbst.

      Man kann nicht über Elsas Küche erzählen, ohne ihr Pflaumenmus zu erwähnen. Die Pflaumen, wir nannten sie »Zwetschgen« oder, was sich für Kinder leichter aussprach, »Quetschen«, durften nur vom Boden aufgesammelt werden. Nur so war gesichert, dass sie süß genug für das Mus waren. Sie hatten dann auch den passenden Namen: »Runzelärsche«. Man brauchte nur eine derartige Quetsche von der Stielseite aus – ohne Stiel – zu betrachten und schon wusste man, warum. Elsa kontrollierte genau – ausschließlich Runzelärsche gelangten in den Topf. Die Steine wurden mit der Hand entfernt, was eine ziemlich matschige Angelegenheit war. Maden spielten keine große Rolle, fast alle Runzelärsche hatten welche. Zucker wurde nie zugesetzt, der war zu teuer. Außerdem brannte das Mus damit schneller an. Grüne Walnüsse mussten sein, die färbten dann das Mus schön schwarz. Eingekocht wurde im Waschkessel. Einer musste ständig rühren, ich habe mich immer gedrückt. Gelagert wurde das Mus in Tontöpfen, die mit Pergamentpapier und einem Bind­faden verschlossen worden waren. Wenn im Winter ein solcher Topf geöffnet wurde, schnitt Elsa den harten schimmligen Deckel, der sich auf dem Mus gebildet hatte, heraus.

      So trafen sich dann Elsas thüringische Kochkünste und die kulinarischen Vorlieben meines aus Mähren stammenden Vaters: Meine Mutter füllte mit Pflaumenmus Buchteln. Das waren mährische Hefebrötchen. Man findet sie heute noch in Mähren, Österreich, Bayern und Tirol, also genau da, wo die Pelzls herkommen. Aber davon später.

      Elsa Hartmanns Spitzengericht waren Thüringer Klöße und Sauerbraten. Dazu gab es Rotkraut oder, wenn der Braten »Kassler« hieß, Sauerkraut. Die geriebenen Kartoffeln presste sie selbst mit ihrem Knie durch das Rohrgeflecht des Küchenstuhls aus. Ihre zwei Zentner Lebendgewicht waren da sehr hilfreich. Das ausgepresste »Gereibe« kam in eine große weiße, schon etwas ramponierte Abwaschschüssel aus dem Küchentisch. In diese Masse wurde der von einem Drittel der gesamten Kartoffelmenge gewonnene, kochend heiße, dünne Kartoffelbrei gegeben und mit einem großen Quirl schnell verrührt. Wir wurden immer aus der Küche gejagt, denn das Hantieren mit dem blubbernden und spritzenden Kartoffelbrei war gefährlich. Noch heiß, wurden aus dem zähen Teig Klöße geformt, welche die in Margarine gerösteten und gesalzenen Semmelbröckchen umhüllten. Die Klöße kamen in einen großen Topf mit kochendem Wasser. Der Topf wurde vom Feuer gezogen, und nach einigen Minuten stiegen die Thüringer Klöße nach oben, was bedeutete, dass sie serviert werden konnten. Es war jedes Mal ein Gaumenschmaus!

      Ebenso unschlagbar waren Elsas Kuchen. Auf ihrer engen Treppe stand in der Ecke immer ein Gestell mit runden Kuchenbrettern aus Holz. Darauf waren je nach Jahreszeit im Angebot Quetschenkuchen, Mohnkuchen, Kirsch- und Streuselkuchen. Mit Muckefuck, das heißt Malzkaffee mit Magermilch, aus einer weißen angeschlagenen emaillierten Blechkanne, die immer auf dem Ofen stand, konnte man den Hefekuchen auch am Ende der Woche noch mit Genuss essen, ohne Malzkaffee benötigte man allerdings eine Säge. Dieser Muckefuck und auch der Mohnkuchen sind leider ausgestorben.

      Das Mohnkuchenrezept kenne ich nicht in allen Einzelheiten, aber ich erinnere mich, dass der Mohn, eine für Thüringen typische Kulturpflanze, in einer alten Kaffeemühle, die man zwischen den Knien halten musste, gequetscht und dann mit heißer Milch und Grieß aufgebrüht wurde. Wenn vorhanden, kamen noch Rosinen hinzu. Der Boden war selbstverständlich aus Hefeteig, und obendrauf kamen Eierschecke oder kreuzweise aufgelegte Teigstreifen. Diesen Kuchen mit einer zwei Finger dicken schwabbeligen Mohnschicht konnte man einfach nicht vornehm essen. Am besten schmeckte er, wenn er noch warm war, aber


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