16.7.41. Dag Solstad
Tempo, bis sich der schwere Flugzeugrumpf vom Boden löste und mit gewaltiger Kraft in Schräglage nach oben bewegte, hinein in die Wolken. Jenseits der Wolkendecke richtete sich das Flugzeug wieder horizontal aus, fand seinen Rhythmus, sein Tempo, und wir waren auf dem Weg nach Frankfurt. Oberhalb der Wolkendecke schwebte die aluminiumglänzende SAS-Maschine in Richtung der deutschen Finanzmetropole Frankfurt am Main. Hier oben waren blauer Himmel und Sonne, und die Sonne schien auf die glänzende SAS-Maschine. Ich saß da und schaute aus dem Fenster auf die weiße unförmige Wolkenlandschaft. Eine völlig eintönige weiße Landschaft, die, wie ich wusste, sehr wenig gemein hatte mit der Landschaft unter der kompakten Wolkenschicht, die aber nicht zu sehen war, weil sich in der kompakten untersten Wolkendecke nicht einmal ein kleiner Riss zeigte, der einen Blick auf die nackte Erde tief darunter freigab. Doch ich wusste, dass dort unten Deutschland lag und wir jetzt darüberflogen. Die deutsche Tiefebene mit ihren Feldern, Wäldern, Flüssen, kleinen und großen Städten samt Straßennetz und Bahngleisen, genau in diesem Moment. Ich wusste, dass wir bald Hamburg sehen könnten, gleich rechts, auf meiner Seite, mit einem kleinen Ausschnitt der Elbe, kurz bevor sie durch Hamburg floss, und fünf bis zehn Minuten später würden wir eine andere große deutsche Stadt erspähen, Hannover, bevor ein neuer Fluss zum Vorschein käme, die Weser, die ich in der Ferne fließen sähe, obwohl ich so hoch hoben nicht sehen würde, dass sie floss, sondern nur, dass es sie gab, unbeweglich, präsent, wie auf einer Landkarte. Aber nichts davon sah ich jetzt. Stattdessen konnte ich die Wolkenformationen studieren. Ich befand mich in dieser Wolkenlandschaft oberhalb der Wolken. In dieser im wahrsten Sinne des Wortes überirdischen Landschaft fand ich zu einer gewissen Ruhe, denn es tat gut, den Blick auf dieser Landschaft ruhen zu lassen. Weiß, mit ihren wunderlichen Formationen, die ständig auftauchten und mich in einen etwas schläfrigen Zustand versetzten. Ja, wenn man durch eine solche Landschaft fliegt, wird man zwangsläufig in eine Stimmung versetzt, die an einen Jetlag erinnern kann, der jedoch nicht mit der Zeit zu tun hat, sondern mit dem Raum, also einen Roomlag, der bewirkt, dass man nicht sicher weiß, wo man sich befindet, nur dass man da ist, in der Zeit, wenn es sich um einen Jetlag handelt, und man die Zeit besonders stark erlebt, als Eigenschaft; es kann unangenehm sein und sehr aufdringlich, die Zeit so zu erleben, vor allem, weil man zugleich völlig verwirrt ist, so verhielt es sich nun mit meinem Raumerleben, in meinem Roomlag, ausgelöst davon, dass die Landschaft, die ich gerade überblickte, keine Geografie hatte, die sich zuordnen ließ. Man kann den Wolkenformationen nun einmal nicht entnehmen, dass man sich über Hamburg befindet, denn ganz andere Faktoren als die Geografie bestimmen die unbeständige Wolkenlandschaft, in der ich jetzt mit meinem Roomlag weilte, der mich in einen Dämmerzustand versetzte, der im Gegensatz zum Jetlag nicht unangenehm ist, sondern nur schläfrig macht, obwohl ich in meinem Dämmerzustand den Raumzustand vor meinem Fenster als ebenso aufdringlich erlebte, wie sich die Zeit für den unter Jetlag Leidenden ausnimmt. Für mich hatte diese Schläfrigkeit zur Folge, dass ich mich in einer Art verwirrter Gebanntheit in dieser weißen Wolkenlandschaft befand, sodass ich nicht bemerkte, dass das Flugzeug das Tempo gedrosselt hatte und zum Landeanflug ansetzte. Nicht indem es die Wolkendecke durchdrang, denn das Flugzeug befand sich weiterhin darüber, doch jetzt kreiste es in dieser Landschaft und zog weite Kreise, die mich erst stutzen ließen, als über Lautsprecher bekanntgegeben wurde, dass wir in Erwartung der Landeerlaubnis über Frankfurt kreisten.
Wir kreisten über Frankfurt. Wie bei zentralen und hochfrequentierten Großflughäfen durchaus üblich, kann man sehr lange über ihnen kreisen. Wo wir kreisten, kann ich nicht sagen, ob über der Finanzmetropole Frankfurt und ihrer Umgebung oder ob wir große Schleifen bis zum Rhein oder den nördlichen Landschaften in Baden-Württemberg zogen, das wusste ich nicht, wie ich dort saß und auf die Wolkenformationen vor meinem Fenster schaute. Aber wir waren in einer viel geringeren Geschwindigkeit unterwegs, hier oben über den Wolken in dieser Wolkenlandschaft kreisend, die sich vor dem Hintergrund eines intensiv blauen Himmels bewegte. Zuunterst befand sich eine kompakte Schicht, und auf dieser bildeten sich neue, ganz weiße Formationen. Diese Formationen schwebten an mir, der ich in der SAS-Maschine saß, vorbei, mal tief unter mir, sodass ich das Gefühl hatte, unendlich weit nach unten zu starren, mal direkt unter mir, aber in unterschiedlicher Entfernung, einmal sogar ganz dicht unter mir, andere Male schwebten sie in eher großer Entfernung vorbei, sodass sich mir ein höchst variables und seltsames Panorama darbot. Doch vollkommen weiß in der intensiv blauen Luft. Seltsame weiße Wolkenformationen, die an mir vorbeischwebten oder -segelten, so weit das Auge sah, also bis zum Ende des Horizonts. Da der Horizont so groß war, wirkte die blaue Luft nicht überbevölkert. Obwohl die weißen Wolken sehr zahlreich waren, gab es dazwischen reichlich Platz in diesem nahezu unendlichen Raum, in dem ich mich befand. Es gab Wolken unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Aussehens. Die Formationen waren dergestalt, wie man sie nur bei Wolken findet, die aussehen, als würden sie sich über alle anderen physikalischen Naturgesetze hinwegsetzen als jene, die für Wolken gelten, weshalb sie sich zu Formationen fügen konnten, die man ansonsten in keiner bekannten Materie kennt und die man auch nicht bei Wolken findet, die man von der Erde aus sieht, denn diese Formationen, die ich jetzt sah, gibt es nur bei Wolken oberhalb der Wolken, ja, auf der anderen Seite der Wolkendecke, dort, wo ich mich in einem merkwürdigen Zustand befand. Es waren große Wolken, die in all ihrer weißen Pracht stets größer und gewaltiger wurden und die ständig ihre Formation änderten, indem kleinere und aufgrund günstiger Windrichtungen schnellere Wolken mit ihnen verschmolzen, sodass Erstere nach oben und zur Seite ausbeulten und sich in all ihrer schaumartigen weißen Pracht mal so, mal so zeigten, in Ausprägungen, die man in nichts anderem, wie beispielsweise weißen Eisbergen, findet, auch wenn man sich vorstellen konnte, dass in dieser leeren blauen Luft, in der die Wolke unter mir vorbeischwebte, ein Eisberg vorbeischwimmt. Während andere Wolken, die an mir vorbeischwebten, z.B. ein Stück weiter unten, im Begriff waren, sich aufzulösen, neue Formationen und neue Wolken zu bilden oder ganz einfach im Nichts zu verschwinden, in einem dünnen, sich auflösenden Schleier. Und ständig tauchten weitere kleine Wolken auf, die in all ihrer Leichtigkeit und mit seltsam flüchtiger Anmut an mir vorbeischwebten. Alles, was hier oben geschah, war von großer Unbestimmtheit, aber wunderschön. Oberhalb der Wolkendecke gibt es eine völlig andere Welt, unsichtbar für all jene dort unten, und in dieser befand ich mich nun, in einer SAS-Maschine sitzend, die hier oben kreiste. Dieses Kreisen schien mir mittlerweile merkwürdige Dimensionen anzunehmen, vor allem, weil es auf der anderen Seite einer Wand, einer undurchdringlichen Wolkendecke, erfolgte. Man ist hier oben. In etwas, das völlig anders ist. Hier oben ist man unsichtbar. Für die anderen dort unten im Glas und Stahl der Metropole. Zu denen man selbst unterwegs ist. Doch vorläufig hängen wir hier oben, über Frankfurt kreisend, im Blau hier oben. Unten in Frankfurt schauten die Leute an diesem nasskalten Herbsttag im Oktober vor mehr als zehn Jahren hoch zur Wolkendecke und fragten sich, ob es regnen würde. Viele von ihnen liefen fröstelnd durch die Straßen der deutschen Finanzmetropole mit ihren modernen Wolkenkratzern als Symbol für deutsches Bankkapital, während die meisten in ebendiesen Büros in den schicken Wolkenkratzern saßen und fleißig arbeiteten, und vielleicht ging der eine oder andere zum Fenster und schaute hinaus, z.B. hinauf zur Wolkendecke, die regenschwer und kompakt dort oben hing, und alle, die heute einen Schirm mitgenommen hatten, waren erleichtert; alle, die ihn vergessen hatten, ärgerten sich ein wenig, aber keiner von ihnen, weder diejenigen unten in den Straßen noch diejenigen oben in den Gebäuden, ahnten, was auf der anderen Seite der Wolkendecke vor sich ging, obwohl sie doch auf die geschlossene Wolkendecke über ihren Köpfen blickten, den traurigen, grauen Himmel, aus dem nun wahrhaftig ein paar Regentropfen fielen. Keiner von den Menschen dort unten in Frankfurt ahnte, was hier oben vor sich ging, ahnte, dass nur eine Wand sie von diesem wundersamen Anblick trennte. Ja, obwohl die Mehrheit der Frankfurter Bevölkerung selbst schon einmal in einem Flugzeug gesessen hat, viele der Menschen, die in Frankfurt wohnen, haben bis zu hundert Reisetage im Jahr, vielbeschäftigt, wie die Akteure des Finanzkapitals es auf der ganzen Welt sind, haben sie völlig vergessen, wie es dort ist, sobald sie wieder auf der Erde angekommen sind. So wie sich ihr Leben unten in Frankfurt ausnahm, unterschied sich ein Frankfurter der 1990er-Jahre nicht im Geringsten von einem Frankfurter anno 1914. Der Frankfurter der 1990er-Jahre hat vergessen, was sich auf der anderen Seite befindet, sobald er wieder unten angekommen ist, und jetzt ahnt er nicht, was in den höheren Sphären vor sich geht. Es ist verschwunden, vergessen, sobald das Flugzeug zur Landung ansetzt, die Wolkendecke durchstößt und man wieder den feuchten Geruch von Erde wahrnimmt, während die Gebäude, das Straßennetz