16.7.41. Dag Solstad
Stimme im Lautsprecher verkündete, dass wir nun zur Landung ansetzten. Unter den Flügeln wurden die Räder ausgefahren, wir flogen ziemlich dicht über den Boden und kamen im diffusen Licht der Dämmerung in eine große Stadt. Ich erblickte einen riesigen blinkenden Betonturm, der links von mir in die Luft ragte, und direkt unter mir befand sich ein großer Park, der aussah, als würde er sich über große Gebiete mitten in der Stadt erstrecken, eine breite Avenue führte durch ihn hindurch, in der alle Straßenlaternen brannten, aber mit einem bemerkenswert gedämpften, ja, schwachen Licht. Mitten auf dieser Avenue befand sich ein offener Platz mit einer angestrahlten vergoldeten Säule. Der Flughafen lag quasi im Zentrum, wie es schien, denn kurz darauf setzten wir mit einem schweren Dröhnen auf, und das Flugzeug drosselte nach und nach das Tempo, bis es schließlich zum Stehen kam. Eine Stimme im Lautsprecher bedauerte den Vorfall, hieß uns aber dennoch in Berlin willkommen. Wir sollten das Flugzeug verlassen und in der Eingangshalle auf weitere Anweisungen warten. In dem Moment begriff ich, dass das Flugzeug aus irgendeinem Grund nicht auf dem Frankfurter Flughafen landen konnte, sondern weiter nach Osten geflogen war, nach Berlin, doch hatte ich, der ich von dem, was ich schon jetzt meine Himmelsvorstellungen nannte, absorbiert gewesen war, nicht mitbekommen, was sicherlich längst bekanntgegeben worden war. In der Eingangshalle warteten wir zwei Stunden, und da der Frankfurter Flughafen weiterhin geschlossen war, bekamen diejenigen von uns, die es wünschten, eine Hotelübernachtung in Berlin angeboten oder eine Weiterreise nach Frankfurt mit dem Zug. Da sich das Ziel meiner Reise, die Teilnahme an einer Literaturveranstaltung auf der internationalen Frankfurter Buchmesse, die heute Abend stattfinden sollte, nicht mehr realisieren ließ, beschloss ich, in Berlin ins Hotel zu gehen. Es war mein erster Besuch in Berlin.
Fußnoten Kapitel 1
Fußnote 1.
»Wie immer bin ich derjenige, der das hier schreibt. Doch wer ist derjenige, der sich in der internationalen Abflughalle des Flughafens Fornebu befindet, um mit einem SAS-Flug nach Frankfurt am Main zu reisen? Ich bin derjenige, der schreibt. Ich, der das hier schreibt, sage, der Mann am Flughafen ist derjenige, der schreibt. Also ich. Mein ›nacktes‹ Ich. Ich denke zurück an mich in Fornebu an einem Oktobertag 1990 und schreibe diesen Text. Das liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück.«
So lautete der ursprüngliche Einstieg ins Buch, der aber nicht zum eigentlichen Einstieg wurde, sondern zum verworfenen Versuch eines Einstiegs, wenngleich dem ersten in einer ganzen Reihe. Was ich damit erreichen wollte, war eine deutliche zeitliche Kluft zwischen mir, dem Schreibenden, und mir, dem Ich im Text. Das schreibende Ich ist nicht identisch mit dem handelnden Ich, obwohl beide Schriftsteller sind und auch Dag Solstad heißen, es ist derselbe Name, der als Autor auf dem Titelblatt dieser Erzählung stehen wird. Dieser Einstieg ermöglichte es mir, Dinge wie diese zu schreiben:
Fußnote 1b.
»Ich war damals wie heute ein gewöhnlicher Reisender, ausgestattet mit der selbstbewussten Achtsamkeit des Reisenden und ohne Bewusstsein dafür, dass eine Reihe ereignisreicher Jahre vor mir lagen, was dem jetzt schreibenden Ich hingegen vollkommen bewusst ist. Zu diesen Jahren gehören beispielsweise eine Reihe bemerkenswerter Ereignisse im privaten Bereich, aber auch die Tatsache, dass ich in der vor mir liegenden Zeit, von jenem Zeitpunkt an, als ich in Fornebu stand, bis zu dem Augenblick, in dem das hier geschrieben wird, vier neue Romane schreiben sollte, die noch nicht ausgebrütet waren, nicht einmal als vage Idee, ja nicht einmal als Ahnung, sie befanden sich damals völlig außerhalb meiner Vorstellungskraft, sie waren nicht einmal zu denken, wohingegen sie jetzt geschrieben sind und ein wichtiger Teil meiner Identität. Wenn ich damals Vorstellungen von meiner Zukunft hatte, waren sie wohl eher darauf gerichtet, dass ich in ein paar Jahren meinen fünfzigsten Geburtstag feiern sollte und was das für mein Leben bedeuten würde. Jetzt ist derjenige, der schreibt, sechzig.«
Oder er ermöglichte mir, Dinge wie diese zu schreiben: »Derjenige, der das hier schreibt, weiß, dass ich vor mehr als zehn Jahren mit diesem Flugzeug geflogen bin, und ich weiß im Moment des Schreibens, wie die Reise verlief. Doch derjenige, der vor der Departure-Anzeigetafel des längst stillgelegten Flughafens Fornebu steht und nichts weniger ist als ›ich‹, ist auf seiner Reise noch nicht weitergekommen als bis zu dieser Tafel, vor der er steht, um die Flugnummer, das Gate und die Boardingzeit herauszusuchen, und er hat viel Zeit vor sich, die noch nicht gefüllt ist und über die er noch nichts weiß, obgleich wir beide ›ich‹ sind, das schreibende Ich wie auch das Ich, über das ich schreibe. Wir sind beide ich und nennen uns ich und können jedes Mal, wenn einer von uns etwas denkt, ›dachte ich‹ oder ›sagte ich‹ oder ›fragte ich mich‹ sagen, und doch trennen uns gut zehn Jahre, und ich, der das hier schreibt, weiß viel mehr über ihn, der beschrieben wird, als er selbst, und auch viel mehr über ihn als über mich selbst und meine Zukunft, über die ich gar nichts weiß, weil sie vor mir liegt und nicht geschaut werden kann, und doch sind wir beide, sowohl ich mit einer Zukunft, die ich mir nicht vorstellen kann, als auch er, über den ich schreibe, ausgestattet mit dem Wort ›ich‹, dem einzigen existierenden Wort, das ausschließlich mir vorbehalten ist. Das Wort ist Ur. Die verrinnende Zeit.«
Wie man sieht, habe ich versucht, einen Einstieg hinzubekommen, der die Auflösung der Identität in der Begegnung mit der Zeit einbezieht. Es ist also eine Art düsteres Spiel, mit dem ich meinen neuen Roman ursprünglich beginnen wollte. Dass es sich eindeutig um meine eigene Identität gehandelt hat, hat mich vermutlich ebenfalls angespornt. »Wie immer bin ich derjenige, der das hier schreibt.« Wie immer war ich derjenige, der das hier schrieb: »Zu Beginn dieser Geschichte ist Bjørn Hansen gerade fünfzig geworden und steht am Bahnhof von Kongsberg«, wie es zu Beginn von Elfter Roman, achtzehntes Buch heißt, dem nächsten Buch, das der Ich-Erzähler aus der Eröffnungsszene dieser Geschichte schreiben wird und von dem er noch nichts ahnt, das jedoch von mir geschrieben wurde, so wie stets ich derjenige bin, der das hier schreibt, und darauf verweise ich mit dem zunehmenden Verdacht, dass dieses »Ich« kein Ich ist, sondern etwas anderes, etwas, das sich auflöst, wenn man anfängt, es näher zu untersuchen, z.B. in einer Art Spiel mit Wort und Zeit, doch auch in dieser Auflösung bin immer ich derjenige, der das hier schreibt. Das scheint mich sehr zu beschäftigen, da ich darauf poche, meinen neuen Roman mit diesem Spiel zu beginnen, während ich nun also fliegen will.
Dennoch habe ich diesen Beginn verworfen. Warum habe ich ihn verworfen? Es war ein langer Prozess, der erst endgültig abgeschlossen war, als ich mich beiseitenahm und mich eindringlich mit Du ansprach, um etwas Distanz in die Sache zu bringen. Jetzt schreibst Du schon, sagte ich zu mir selbst, seit mehr als fünfunddreißig Jahren Bücher, warum hast Du das hier nicht zu einem früheren Zeitpunkt aufgegriffen? Dafür hättest Du jahrelang Zeit gehabt und auch die Gelegenheit, es zu machen, aber das hast Du nicht getan. Du magst sagen, es ist ein Versäumnis, und es bedauern, aber das nützt mir nichts. Ich will jetzt fliegen und mich nicht mit Deinen Versäumnissen in einem Zeitraum von fünfunddreißig Jahren gelebten Lebens beschäftigen. Es ist jetzt zu spät, um mit einem »Wie immer bin ich derjenige, der das hier schreibt« anzukommen. Die Zeit ist Dir davongelaufen. Dass man begreift, in welcher Phase des eigenen Lebens man sich befindet, ist unabdingbare Voraussetzung für das beanspruchte Privileg, sich in fiktiver Form an die Öffentlichkeit zu wenden. Ich befinde mich in einer Phase, in der es zu spät ist, um dieses düstere Spiel mit Wort und Zeit mit mir selbst als Objekt oder Opfer anzustellen. Mich beschäftigt die Zeit, aber nicht in dieser aufgelösten Form. Meine Auflösung ist eine andere, ihr muss ich mich zuwenden. Dass mich dieses Spiel noch immer fasziniert, muss man als etwas Bedauernswertes hinnehmen, das keinerlei Legitimität verleiht, es in einen Romananfang zu pressen, wenn ich gerade fliegen will.
Darum verwarf ich diesen Einstieg. Hoffentlich war es der glückliche Ausgang eines schwierigen Prozesses. Endlich davon befreit, kam mir jedoch eine Idee. Wie wäre es, wenn ich diesen Roman mit Fußnoten ausstatten würde? Dann könnte ich derlei Betrachtungen mit einbeziehen, die ich dem Leser soeben präsentiert habe. Gesagt, getan. Ich beschloss, diesen Roman mit Fußnoten auszustatten, wo immer es mir in den Sinn kommen sollte.
Fußnote 2.
Ursprünglich hatte ich hier einen langen Vortrag stehen, in dem ich mich an diesem Oktobertag vor mehr als zehn Jahren von außen schildere. Unter anderem meine Kleidung, und ich hielt mich besonders lange bei der Frage auf, ob ich einen Anzug