Dr. Norden Bestseller Box 13 – Arztroman. Patricia Vandenberg
warum eigentlich nicht?« meinte Andrea. »Sie ist doch noch so jung. Aber es ist schlimm, wenn man die neun Monate einigermaßen gut überstanden hat und die Wiege dann leer bleibt.«
»Ja, ich verstehe das. Aber es ist kein Einzelfall, Frau Sommer. Es geschieht leider immer wieder. Alles können wir nicht verhindern. Bedauerlicherweise gibt es auch Kollegen, die sich nicht genügend Zeit für jene Frauen nehmen, die während der Schwangerschaft seelische Unterstützung brauchen. Haben Sie schon etwas von Perinatologie gehört?«
»Nein. Was bedeutet das?«
»Ganz nüchtern ausgedrückt, eben die Verpflichtung des Gynäkologen, der werdenden Mutter jedwede Unterstützung zu geben, um sie für den Tag der Geburt vorbildlich vorzubereiten. Man muß sich dafür Zeit nehmen. Wir können manches dazu beitragen, um Psychosen zu verhindern oder zumindest einzudämmen.«
»Man kann doch nicht jeden Tag zum Arzt rennen, wenn man solche Angstzustände kriegt«, sagte Andrea.
»Warum nicht?«
»Aber so viel Zeit hat doch kein Arzt. Er muß ja denken, daß man einen Tick hat, wenn man mit jeder Kleinigkeit daherkommt.«
»Ein vernünftiger Arzt wird nicht so denken, Frau Sommer. Er wird versuchen, solche Komplexe abzubauen. Ich will nicht sagen, daß dies in jedem Fall möglich ist. Wir sprechen jetzt über Sie. Sie sind eine junge, gesunde Frau, glücklich verheiratet und in knapp zwei Monaten Mutter eines gesunden Kindes.«
»Sind Sie davon wirklich überzeugt?« fragte sie skeptisch.
»Nach dem derzeitigen Stand der Untersuchungen schon«, erwiderte er. »Aber in jedem Fall ist es so, daß man sich auf die Tagesform einstellen muß. Es gibt Frauen, die sich überhaupt keine Gedanken machen und ihre Mutterschaft als naturgegeben hinnehmen. Da gibt es ganz selten Komplikationen. Es gibt aber auch andere Frauen, und da muß ich Sie einbeziehen, die sehr beeinflußbar sind. Sie möchten doch, daß wir ganz offen miteinander sprechen?«
»Ja«, bestätigte sie. »Ich sitze nicht nur zwischen zwei Stühlen, Herr Doktor, es sind drei, meine Schwester, Dr. Kobelka und Sie.«
In diesem Augenblick schrillte das Telefon. Dr. Leitner nahm den Hörer ab und meldete sich.
»Ja, ich habe verstanden«, sagte er. »Danke für die Information, Daniel. Frau Sommer ist gerade bei mir.«
Langsam legte er den Hörer auf. »Ist wieder etwas mit meinem Mann?« fragte Andrea besorgt.
»Aber nein, Sie dürfen nicht gleich immer in Panik geraten, Frau Sommer. Ich habe gerade die Nachricht bekommen, daß Dr. Kobelka gestorben ist.«
»Dr. Kobelka? Er ist gestorben?« fragte sie überrascht.
»Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, daß er vorgestern zusammengebrochen ist, während einer Geburt. Die Patientin wurde zu mir gebracht. Mutter und Kind sind wohlauf. Sie brauchen sich auch keine Gedanken mehr zu machen, daß Dr. Kobelka verletzt sein könnte, weil Sie mich zu Rate gezogen haben.«
»War er schon länger krank?« fragte Andrea interessiert.
»Das weiß ich nicht. Jetzt legen Sie sich mal ganz entspannt zurück, Frau Sommer. Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie wünschen sich Ihr Kind. Sie freuen sich darauf. Das werden Sie auch Ihrer Schwester sagen. Sie müssen ihr Mut machen, wenn sie ein Kind haben möchte. Sie sind die Stärkere. Sie können ihr raten, wie man die Ängste überwindet. Sie können ihr helfen. Sie haben gesehen, wie Ihr Kind sich bewegt. Es fühlt sich sehr wohl in der Geborgenheit, die Sie ihm geben. Es freut sich, wenn Sie sich freuen. Es ist traurig, wenn Sie traurig sind. Es ist ein Teil von Ihnen.«
Geradezu beschwörend sagte er es. Andrea hatte die Augen geschlossen. Sie hörte nur seine Stimme, sie nahm die Worte in sich auf und begriff sie.
»In einigen Wochen beginnt der Abnabelungsprozeß«, fuhr Dr. Leitner fort. »Manchmal ist es nicht damit abgetan, daß die Nabelschnur durchtrennt wird. Mit dem Tag der Geburt beginnt das Kind ein eigenständiges Leben. Es braucht Pflege und vor allem Liebe, aber die Liebe darf nicht so weit gehen, daß ein dauerndes Abhängigkeitsverhältnis entsteht. Man muß seinem Kind auch die Möglichkeit geben, seine Persönlichkeit zu entwickeln.«
»Und wenn es sich anders entwickelt, als man es sich vorstellt?«
»Ein Kind, das Liebe und Verständnis findet, das keinen Konflikten ausgesetzt wird, entwickelt sich normal«, antwortete Dr. Leitner.
»Aber wie kann es dann geschehen, daß Kinder aus der Art schlagen, wie man so sagt?«
»Allwissend sind wir nicht«, gab der Arzt zu. »Vielleicht geschieht manches, was wir nicht begreifen können. Uns allen sind Grenzen gesetzt. Wir haben einen bestimmten Lebensrhythmus. Biorhythmus wird er genannt.«
»Ich habe darüber gelesen. Glauben Sie daran?«
»Es mag manchmal sehr nach Reklame klingen, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, daß wir einem solchen Rhythmus unterworfen sind. Es gibt manche Beweise dafür, besonders im Leben einer Frau. Sie will ich jetzt gar nicht anregen, darüber nachzudenken. Wir wissen, daß sich Ihr Baby gut entwickelt, und wir werden auch den ungefähren Geburtstermin berechnen. Ich will jetzt nicht wissen, welchen Dr. Kobelka errechnet hat. Ich würde sagen, daß Sie am zehnten Dezember hier erscheinen, wenn Sie gewillt sind, Ihr Kind hier zur Welt zu bringen.«
»Ich werde pünktlich zur Stelle sein«, erwiderte Andrea freudig. »Es ist genau der Tag, den ich auch ausgerechnet habe. Dr. Kobelka meinte, daß es erst der zwanzigste Dezember sein würde.«
»Jeder Frauenarzt sollte auch auf die Stimme der Mutter hören«, meinte Dr. Leitner lächelnd. »Aber ich möchte doch sagen, daß Sie sich zwischenzeitlich vorstellen, Frau Sommer.«
»Immer, wenn ich meine Zustände kriege«, erwiderte sie, »bis Sie mich Gott weiß wohin wünschen.«
»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Es könnte nur sein, daß ich gerade im Kreißsaal bin oder im OP, dann bitte ich um Verständnis, wenn Sie warten müssen.«
Andrea lächelte. »Dann werde ich beim Warten vielleicht zu der Überzeugung kommen, daß ich ganz umsonst hergekommen bin. Sie haben dann hoffentlich auch Verständnis, wenn ich inzwischen das Weite gesucht habe.«
»So gefallen Sie mir«, sagte er. »Und nun zwingen Sie sich mal nicht zum Essen, wenn Ihnen etwas nicht schmeckt. Das Baby holt sich schon, was es braucht. Sie haben Ihr Gewicht prächtig gehalten. Wenn Sie richtigen Appetit verspüren, können Sie auch mal etwas mehr essen als sonst. Die Figur wird nicht darunter leiden.«
Andrea lächelte wieder. »Man braucht mir ja nicht gleich anzusehen, daß ich gerade erst Mutter geworden bin, wenn ich einen Kinderwagen vor mir her schiebe. Dr. Kobelka hat gesagt, daß sich die meisten Frauen gehenlassen.«
»Was Dr. Kobelka gesagt hat, wollen wir vergessen. Über seinen Zustand war er sich anscheinend auch nicht mehr ganz klar.«
Was er wirklich dachte, sprach er nicht aus, aber es gefiel ihm, als sich Andrea aufrichtete und sagte: »Ich freue mich, daß ich zu Ihnen gekommen bin. Wir sind Dr. Norden sehr dankbar.«
*
Wir hatte sie gesagt. Sie sprach auch für ihren Mann, und er war ganz gewiß genauso dankbar wie sie, als sie dann lächelnd auf ihn zukam, ihn umarmte und mit schwingender Stimme sagte: »Es ist alles in bester Ordnung, Helmut. Wir können uns freuen.«
Er freute sich mit ihr, doch diese Freude wurde gedämpft, als Sonja am frühen Nachmittag kam, als er wieder in sein Büro fahren mußte. Sie trafen sich an der Gartentür.
Sonja war schlank und hatte zuviel Make-up aufgelegt.
»Bitte, Sonja, tu mir den Gefallen und rede Andrea nicht wieder unbegründete Sorgen ein«, sagte er vielleicht ein bißchen zu barsch, weil er in Eile war. »Sie soll nicht Trübsal blasen, sondern weiterhin so fröhlich sein, wie sie gerade war.«
»Ich rede ihr doch nichts ein«, erwiderte Sonja pikiert. »Willst du mich