Rage. Rose Bloom

Rage - Rose Bloom


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      Seine breite Brust hob und senkte sich gleichmäßig, und mein Blick flackerte suchend über sein Gesicht. Bitte, nur eine Regung! Eine kleine Regung …

      Nichts geschah. Ich seufzte und zog den iPod aus der Tasche, steckte einen Ohrhörer in Shawns rechtes Ohr und einen in meines und drückte auf Play.

      Als die ersten Klänge von Frances ertönten, rückte ich näher und legte den Kopf vorsichtig auf seiner Schulter ab. Sein breiter Körper wirkte zwar nur wie eine leere Hülle, aber ich war mir sicher, er spürte, dass ich bei ihm war. Und auch wenn Shawns Musikgeschmack immer noch nicht mein eigener war, gefielen ihm sicherlich die Titel, die ich für ihn ausgewählt hatte. Ich drehte den Kopf und drückte meine Nase an seinen Hals. Nur ganz leicht konnte ich seinen eigenen Duft erahnen, der Rest wurde von einem furchtbaren Gemisch aus Desinfektionsmittel und Krankenhaus überschattet. Erinnerungen drohten mich fast niederzuringen, doch daran war ich mittlerweile gewöhnt, denn es war jedes Mal so, wenn ich so nahe wie jetzt bei ihm war. Ich schloss die Augen und nahm es einfach hin, denn wenigstens blieben mir diese Erinnerungen.

      Während die Musik verklang, strich ich über seinen Arm und hoffte immer noch. Jede Sekunde war ich wachsam und würde auf jede noch so kleine Zuckung reagieren. Leider lag er immer noch bewegungslos auf den Laken. Aber er würde gesund werden und aufwachen. Das musste er einfach!

      Die Tür öffnete sich, und ich sah auf. Sam trat in den Raum. Ich setzte mich wieder aufrecht hin.

      »Hi, Lauren«, sagte er.

      »Hi.«

      »Gibt es etwas Neues?«

      Ich schüttelte auf seine Frage stumm den Kopf.

      Sam seufzte schwer und setzte sich auf den anderen Stuhl, auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes. Viele Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, sahen wir Shawn einfach nur an. Ich strich immer noch über seinen Arm, während sich Sam ab und an hilflos durchs Haar fuhr.

      »Glaubst du …« Ich verstummte. Ich konnte es nicht aussprechen.

      »Lauren, denk noch nicht mal an so etwas!«

      Ich schluckte hart und schloss die Augen. In der Vergangenheit hatte ich mich immer stark gefühlt. Selbst als Gini verschwunden war, hatte ich immer Hoffnung gespürt und gedacht, dass ich es schaffen könnte. Aber nun? Das Schicksal war unfassbar unfair. Wir hätten eine schöne Zeit haben können. Auch wenn ich mir noch nie ernsthafte Gedanken über die Zukunft mit einem Mann gemacht hatte – jetzt, da ich darüber nachdachte, war ich mir sicherer denn je, dass ich mein Leben mit Shawn verbringen wollte. Wenn uns das Schicksal diese Chance ließ und uns keinen Strich durch die Rechnung machte.

      »Du musst etwas essen, Lauren. Ich bleibe so lange hier.«

      »Ich habe keinen Hunger.«

      »Okay, dann drück ich es anders aus.« Sams Stimme wurde strenger. Ich sah ihn an, denn das verhieß nichts Gutes. »Wenn du nichts isst, brichst du irgendwann zusammen, und denkst du, das bringt Shawn irgendetwas?«

      »Aber …«

      »Nein! Du gehst jetzt runter in die Kantine. Und wenn du nur einen Schokoriegel isst«, sagte Sam etwas weicher und lächelte mich traurig an. Ich spürte, dass es nichts brachte, ihm zu widersprechen, und stand widerwillig auf.

      »Aber wenn irgendetwas passiert, Shawn auch nur eine …«

      »Ja! Garantiert! Du wirst die Erste sein, die ich rufe!«

      »Danke, Sam.« Mit einem letzten Blick auf Shawn verließ ich immer noch zögernd das Zimmer. Auf dem Flur atmete ich einige Male durch. Ich würde nur schnell einen Riegel holen. Das dauerte sicherlich keine zwei Minuten. Bis dahin würde schon nichts passieren! Schnell lief ich los und drückte am Ende des Flurs hektisch auf den Fahrstuhlknopf. Nur einen Schokoriegel. Oder einen Kakao. Etwas, das schnell ging und mir ein wenig Energie brachte, sagte ich mir immer wieder vor.

      Als die Türen aufglitten, wollte ich bereits einsteigen, musste aber noch mal zurücktreten, weil ein Mann herauskam.

      »Danke«, sagte er und schenkte mir ein Lächeln, doch es erreichte seine Augen nicht. Ich runzelte die Stirn. Diese Augen. Irgendwoher kamen sie mir bekannt vor. Aber das konnte nicht sein, denn ich hatte ihn zuvor noch nie gesehen. Ich stand perplex vor ihm, der Mann drückte sich an mir vorbei, ging den Flur entlang und steuerte das Schwesternzimmer an. Er blieb stehen und redete mit einer Krankenschwester, während ich ihn immer noch musterte. Schwarzes, volles Haar, leicht mit grauen Strähnen durchzogen. Kräftige, große Statur, breiter Oberkörper. Und diese Augenfarbe. Er sah aus wie das ältere Ebenbild von Shawn! Hektisch drehte ich mich um und lief auf ihn zu. Was wollte er hier? Er hatte meine Einladung zum Kampf abgelehnt, eher gesagt hatte er sich strikt geweigert, dort hinzugehen. Und nun lag Shawn hier, und er bekam Schuldgefühle? War das ein gutes Zeichen oder wollte er nur reinen Tisch machen, um sein Gewissen zu erleichtern?

      »Entschuldigen Sie?«, fragte ich, als ich hinter ihm zum Stehen kam. Gerade noch rechtzeitig, bevor er die Tür zu Shawns Zimmer öffnen konnte. Also hatte ich die Bestätigung. Er war Shawns Vater. Langsam drehte er sich um und sah mich fragend an. Er war einen halben Kopf kleiner als Shawn, aber ich wusste nun, woher er seine beeindruckende Erscheinung hatte. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, damit ich ihn ansehen konnte. »Mister Dawson?«

      »Richtig, wer …«

      »Lauren Brooks«, unterbrach ich ihn und streckte ihm die Hand hin. Ich wusste immer noch nicht genau, wie ich ihn einschätzen sollte. Er gab mir einen kräftigen Handschlag.

      »Ah, Miss Brooks. Sie hatten meine Frau angerufen«, bemerkte er.

      Ich nickte. »Und außerdem Sie!«

      Fast beschämt senkte er kurz den Blick. Wenn man ihn näher betrachtete, sah er nicht sehr gut aus. Seine Haut wirkte grau, seine Augen nicht ganz so strahlend wie Shawns, obwohl es die gleiche Farbe war. »Hören Sie, Shawn und wir anderen machen einiges durch, wenn Sie nur hier sind, um ihr Gewissen zu erleichtern, weil Sie bei dem Kampf nicht dabei waren, bin ich mir nicht sicher, ob Sie hier richtig sind. Shawn braucht nur Menschen, die zu ihm stehen.«

      Ich wappnete mich darauf, dass er sich erklärte oder mir die Leviten lesen wollte, aber es kam nichts. Er verschränkte nur die Arme vor der Brust und musterte mich stumm. Ich hielt seinem Blick stand, denn ich meinte es genau so, wie ich es gesagt hatte. Er hatte jahrelang keinen Kontakt zu ihm gehabt, und nun auf einmal tauchte er auf? Dann sollten seine Beweggründe wenigstens ehrlich sein.

      »Sie haben recht«, erwiderte er, und ich war ganz überrascht. Doch anstatt zu sagen, dass er hier war, um Shawn zu verzeihen, lief er an mir vorbei und den Flur hinunter. Traurig sah ich ihm hinterher. Ich hätte gerne etwas anderes geglaubt, aber mein Gefühl ihm gegenüber hatte mich nicht getäuscht. Seufzend ging ich in das Zimmer. Es war eine Kleinigkeit, Sam vorzulügen, dass ich gerade etwas gegessen hatte.

      3

      Auch der nächste Tag folgte dem gleichen Schema. Nach zahlreichen wachen Stunden in der Nacht stand ich so früh wie möglich auf und machte mich mechanisch fertig. Sam und ich fuhren ins Krankenhaus. Ich saß bereits eine halbe Stunde bei Shawn und beobachtete ihn, bis mir fast die Augen zufielen. Diese schlaflosen Nächte taten mir eindeutig nicht gut. Genauso wenig wie das wenige Essen, das ich schaffte, bei mir zu behalten. Aber es gab etwas viel Wichtigeres als Essen und Schlaf. Jede mögliche Sekunde bei Shawn zu verbringen. Also saß ich auf dem Stuhl neben seinem Bett und machte nichts anderes, als ihn anzustarren.

      Wie jeden Vormittag ging die Zimmertür auf, und Dr. Hills betrat den Raum. Er stellte sich vor das Krankenbett, und ich krallte die Fingernägel in meine Oberschenkel. Ich wappnete mich gegen den Satz, den ich nicht mehr hören wollte. Heute waren es vier Tage seit dem Kampf. Sechsundneunzig Stunden. Fünftausendsiebenhundertundsechzig Minuten. Unendliche Sekunden.

      Dr. Hills räusperte sich. »Wie geht es Ihnen heute, Miss?«


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