NOVA Science-Fiction 29. Cory Doctorow

NOVA Science-Fiction 29 - Cory Doctorow


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erklärt sich einer der Menschen dazu bereit, wieder in die Schlacht zu reiten. Kurz nach Sonnenaufgang nähert sich eines der Jungen – das jüngere, männliche – meiner Schwester. Die anderen Menschen schlafen noch. Momo zögert nicht und legt sich flach auf den Boden, damit der Reiter aufsteigen kann. Erst berührt er nur ihr Fell und betrachtet die Reste alter Flaggen aus der Nähe, dann krabbelt er auf ihren Rücken. Sofort setzt sich Momo in Bewegung. Ich laufe mit. Kriegsbären marschieren niemals allein.

      Momo rauscht durch den Dschungel, als wäre der Frieden nie ins Tal gekommen. Sie springt über Felsen und Bäche, weicht Ästen aus und lässt den Waldboden erzittern. Sie brüllt die Triumphgesänge unserer Kompanie. Schnell stimmt der Reiter auf ihrem Rücken mit ein, schreit und johlt aus vollem Hals, dann verstummt er, um Energie für den Kampf zu sparen. Wir treffen keine Feinde, doch ich habe meine Schwester lange nicht so lebendig gesehen. Sie läuft bis zum alten Stützpunkt, erklimmt die ausgebrannten Wracks der abgestürzten Sterngondeln, dann laufen wir auf dem gleichen Weg zurück.

      Nur dass wir bei der Rückkehr ins Revier nur noch zu zweit sind.

      Lars und Zora sind sich einig, dass wir zurückgehen und den verlorenen Reiter finden sollen. Vielleicht kann er die anderen Menschen davon überzeugen, auch wieder auf unsere Rücken zu steigen. Also schreiten wir den Weg noch mal entlang, unnatürlich langsam, obwohl Kriegsbären selbst im Lauf nichts entgeht. Auch nach mehreren Tagen taucht das Menschenjunge nicht wieder auf. Die Ausgewachsenen können uns nicht helfen, sie dürfen das Revier nicht verlassen. Stattdessen rufen sie, was vermutlich der Name des Jungen ist.

      Wir selbst haben erst Namen, seitdem die Menschen uns welche gegeben haben. Die meisten tragen die fremden Schriftzeichen auf ihrer Haut, eingebrannt oder aufgemalt, ohne zu wissen, was die Worte bedeuten. Meine Geschwister, vorher nur einfache Bären, wurden Momo und Bilbo. Während Momo noch immer eines der stärksten Mitglieder des Clans ist, wurde Bilbo eines Tages am Fuß des Wasserfalls entdeckt. Seine Bemalung hatte den Fluss verfärbt, rot und blau, und wir mussten nur der Farbe folgen, um seinen Körper zwischen den Felsen zu finden. Wir sind sicher, dass es nur ein Unfall war.

      Die Menschen werden noch ruhiger nach dem Verlust ihres Jungen. Alle weiteren Versuche, sie zu Reitern zu machen, enden mit Niederlagen. Wir hoffen jeden Morgen, dass Pippi bessere Menschen erspäht. Sie entdeckt nur eine Neuigkeit, nämlich dass sich eine der Säulen des Denkmals nicht mehr dreht. Wir fragen, ob es unsere Säule ist. Welche der Lichtfiguren sind noch in Bewegung? Sie sagt, das Denkmal ist zu weit weg. Sie kann es nicht genau erkennen. Drehen sich die Bärenreiter noch? Vielleicht, sagt sie, aber vielleicht auch nicht.

      Das Leben im Tal geht weiter wie zuvor. Mumin sitzt am Ende der Höhle und leckt langsam das Gestein. Sobald wir Donner hören, rennt Zora die Grenzen des Reviers ab.

      Wir fürchten kein Feuer, wir fürchten keinen Sturm, doch als das Gewitter über uns hinweg zieht, wird es eng in der Höhle. Momo sagt, es ist sicherer so, der Feind könnte jeden Blitz als Tarnung für die nächste Offensive nutzen. Zu spät merken wir, dass zu wenig Bären draußen sind, um auf die Menschen aufzupassen. Die Ausgewachsenen liegen noch in der Turmruine, doch das andere Junge ist entkommen. Ein paar von uns laufen sofort in den Wald, um es wieder einzufangen, doch es ist zu spät. Einer der Bären berichtet, dass er gesehen hat, wie es in den Fluss gesprungen und davon getrieben ist.

      Natürlich verschärfen wir sofort die Wache. Die zwei Menschen, die wir noch haben, versuchen aber gar nicht erst, sich noch einmal gegen uns aufzulehnen. Wahrscheinlich verstehen sie jetzt, dass wir Verbündete sein müssen. Niemand weiß, wann wieder Sterngondeln aus dem Himmel stoßen und die Gefechte fortgesetzt werden.

      Es ist etwa zu dieser Zeit, dass ich den Bären selbst sehe, den meine Schwester mir beschrieben hat. Sandfarbenes Fell, keine Verzierungen, keine Narben. Er trägt einen Bienenstock im Maul, den er irgendwo erbeutet hat. Während ich ihn beobachte, lässt er sich den Honig schmecken. Er rollt im Gras herum. Er legt sich schlafen.

      Ich behalte ihn im Auge, bis er wieder erwacht. Kurz scheint er in meine Richtung zu schauen, doch ich verstecke mich im Unterholz. Als ich wieder hinsehe, ist er verschwunden.

      Langsam trotte ich ins Revier zurück. Ich komme erst im Dunkeln an. Die meisten Bären schlafen schon. Nur Michel scheint noch beschäftigt zu sein. Von Weitem sehe ich, wie er versucht, einen der Menschen auf seinen Rücken zu hieven. Er schafft es nicht. Der Mensch rutscht wieder zu Boden, neben den anderen. Also biete ich meine Hilfe an. Mit der Schnauze wuchte ich das ausgewachsene Männchen hoch. Michel presst sich flach auf die Erde. Kurz liegt der Mensch auf seinem Rücken, dann rutscht er auf der anderen Seite herunter.

      Also versuchen wir es noch mal. Dann noch mal. Die Versuche enden alle gleich, doch wir machen weiter. Ein Bär ohne Reiter ist nur ein Bär.

      Doch wir sind Kriegsbären. Kriegsbären geben niemals auf.

Michael Wittmann

      

      T. Elling: Die letzte Jungfrau

      »Du bist das? Waaas! Toll. Ich habe dich gar nicht, echt, überhaupt nicht erkannt! Naja – wie auch!«, lachte der Beraterarzt. Er wedelte mir mit der Anmeldung vor den Augen herum, stach dabei mit einem steifen Zeigefinger hörbar auf meinen auf dem Dokument lesbaren Namen ein. Und grinste. Die ganze Sache nervte. Ich sah zu ihm auf.

      Er war ein großes Modell, in einem Luxus verkündenden Schokoladenton – echt, nicht eingefärbt – und strahlte mich mit perfekt gerade sitzenden, reinweißen Zähnen an. Seine Augen blitzten.

      »Esther! Jungfrau! Du wirst dich doch an mich erinnern. Ich bin Hein, der Opa deiner Schulfreundin Eva, nicht wahr! Aber klar, erkennen kannst du mich nicht! Wie auch! Einst war ich Opa Hein, jetzt bin ich, vielleicht, Freund Hein – ich bin, sozusagen, ein anderer geworden! Ich darf doch ein Selfie mit dir machen, oder?«

      Ohne Zögern griff er den an seinem Schreibtisch lehnenden Kamerastick, schwang sich mit einem raumgreifenden Schritt an meine Seite, umarmte mich von rechts, hielt die Kamera in die Standardposition und jubelte »Kriiise!«, bevor er auslöste.

      »An den Allgemeinblog senden! Titel: Freund Hein und die letzte Jungfrau!«, wandte er sich an das Assistenzmodul, das als Holokubus auf seinem Schreibtisch thronte. Ich nahm es hin. Im Kubus sah man ein Mini-50s-Retromädchen mit hochtoupierten, blonden Haaren und golden leuchtenden Tätowierungen an einem Minischreibtisch sitzen. Das Minimädchen lächelte und tippte etwas in eine winzige Schreibmaschine. Nettes Detail. »Und je-etzt …« Hein legte das Formblatt auf den Schreibtisch, schwang sich auf seinen Bürofitnesssessel und trat mit langen, muskulösen Beinen in die Pedale, wobei er rhythmisch mit dem Oberkörper schunkelte, als hörte er Musik. Dann schloss er kurz die Augen, als müsste er einen Gedanken fassen. »Nun … Ich muss wohl kaum fragen, was ich für dich tun kann.«

      Sein Lächeln war entwaffnend. Optimistisch. Freundlich. Egal. Ich wollte ihn nicht mögen. Er war … Ich kramte in meinem Gedächtnis nach einem Opa Hein. Ja. Da war er. Ich hatte sogar intensive Erinnerungen an ihn, nun, da ich ihn zuordnen konnte: Ein krummes, kahles Männlein, gebeugt, mit Spitz-, Schmer- oder Bierbauch, das sich selbst vernachlässigte und den Mädchen, meinen Freundinnen, nachblickte, als wären sie verpasste Metrobahnen, ein »lächerliches, verbrauchtes Ding«, hatte Jay damals gesagt. Er nannte ihn auch »Faltenstinker«, wegen seiner oft heftigen Körperausdünstungen. Ich betrachtete den Mann vor mir. Muskulös, drahtig, schlank. Bereit. Ich versuchte, mich an den Duft starker, sexuell aktiver Männer zu erinnern – gab es so etwas überhaupt? Rochen die anders? Ich wusste es nicht mehr.

      Hein hatte lockiges, gesundes, blondes Haar, hellgrüne, strahlende Augen. Er trug einen halbtransparenten Laborkittel. Darunter war ein nur die Brust umspannendes Ikonshirt mit der Aufschrift »AMOR!« sichtbar, und ein mit floralen Mustern tätowierter Waschbrettbauch. Die Tätowierung verschwand unter dem Shirt, erschien am Halsansatz wieder, zog sich fast bis zum Kopf hoch. Sie rankte sich zudem, aus den T-Shirt-Ärmeln züngelnd,


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