Mit Rössern in den Untergang. F. John-Ferrer

Mit Rössern in den Untergang - F. John-Ferrer


Скачать книгу
wir sind, Leute. In Polen. Wir wollen nicht fragen, warum wir hier sind, wir tun auch hier unsere Pflicht. Wir sind Soldaten.« Fünf Minuten redete er, ohne dass jemand erfuhr, was nun kommen sollte. Dann durfte man wieder wegtreten, und bald kam von vorn das »Batterie – maaaarsch!«

      Benz saß im Sattel und gab dem Wallach Schenkeldruck. Langsam rollte die schwere Lafette los. Plötzlich beschlich Benz der Gedanke, dass man einer neuen Front entgegenmarschierte, dass es lange dauern würde, bis man wieder dort anlangen würde, wo man ausgestiegen war. Mit jedem Schritt, mit jedem Meter, den man sich von diesem schäbigen Bahnhof entfernte, wurde es dem Gefreiten Benz klarer, dass etwas geschah, was noch niemand für möglich halten wollte. Oder täuschte alles? War dieses massierte Vordringen in den ostpolnischen Raum nichts weiter als ein Manöver?

      Über dem Bahnhofsgelände brummte es. Eine Staffel Stukas flog in Keilformation gegen Osten und verschwand am diesig heißen Himmel.

      Die schweren Eisenräder klirrten auf der Straße, die Pferde zogen kraftvoll und ausgeruht, und auf der Lafette des 1. Geschützes sangen die Kanoniere halblaut vor sich hin:

      Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein …

      5

      Der polnische Sommer war heiß, und die Straßen, auf denen ein endloser grauer Heerwurm gen Osten zog, waren in Staub gehüllt. Die deutsche Phalanx marschierte auf hundert Wegen dem Bug zu, dem Grenzfluss zwischen Polen und Russland. Auf den weiten Feldern, die von Kiefernwäldern gesäumt wurden, waren provisorische Flugplätze errichtet worden. Die Bomber und Jagdmaschinen standen unter Tarnnetzen in Erdbunkern. Infanterie war unterwegs, motorisierte Einheiten, Pioniere, Panzer, Artillerie. Was sollte das alles?

      Die 2. Abteilung zog durch polnische Dörfer, wo ängstliche Bewohner aus den Fenstern schauten. Kinder liefen davon und versteckten sich vor dem heranschleichenden, endlosen, riesigen grauen Wurm, der viele Leiber hatte und auf allen Wegen herankroch. Das Schnauben der Pferde mischte sich in das klirrende Mahlen der schweren Räder. Staub lag auf den Fahrzeugen, Staub bedeckte die immer ernster werdenden Gesichter unter den Stahlhelmen. Hufe stampften auf den Straßen und elenden Nebenwegen, dröhnende Zugmaschinen füllten den heißen Sommer mit drohendem Lärm.

      »Zwote Batterie – links ’rausziehen!«

      Der Riesenwurm verschwand in einem buschbewachsenen Landstreifen und hielt Rast. Die schweißnassen Pferde wurden abgespannt und unter Schatten spendenden Erlenbäumen ausgeschirrt. Rasch wuchsen Zelte zwischen den Büschen. Seile wurden gespannt, zwischen denen die Gäule sich den Staub vom Fell schüttelten und gierig nach dem Grün der Büsche rupften.

      Die Nacht sank nieder, der Himmel war mit Sternen übersät. Die Dunkelheit sirrte von den Mückenschwärmen und roch nach Lagerfeuer und Küchendunst.

      Benz und seine zwei Mitfahrer hatten ein Zelt errichtet. Berger kam mit dem Essen. Es gab Gemüseeintopf mit großen Fleischbrocken.

      »Jetzt wiss’n mer’s«, sagte Hirtz nachdenklich, als er sein Kochgeschirr auslöffelte. »’s gibt Krieg mit den Russen. Ganz sicher, ganz sicher, Buam!«

      »Warum sagt man dann nichts?«, erwiderte Benz. »Warum verliert keiner ein Wort darüber?«

      »Kannst du den Generalen in die Karten schaun, Robert?« Hirtz lachte ärgerlich. »Naa, sag i! Sie befehln, und wir haben zu folgen. Gehorsam nennt man’s! Zu Befehl, Herr Hauptmann! I krepier, zu Befehl!«

      Auch Berger war nachdenklich. Er nickte. Dann zerklatschte er ein paar Mücken, die ihm das Genick zerstachen, und sagte:

      »Junge, Junge, und die daheim denken, wir machen ’nen Ausflug nach Polen. Wenn die wüssten, was sich da zusammenbraut!«

      »Den Wievielten haben mer denn heut?«, grunzte Hirtz.

      »Den 19. Juni«, sagte Benz.

      »Herrschaftszeiten«, knurrte Hirtz, »scho wieda Sommer und no allweil koan Frieden. I sag, der Krieg dauert no a paar Jahr. Werd’s sehn, Buam!«

      In dieser schwülen, vom Sirren der Mückenschwärme erfüllten Nacht hatte Benz die erste Pferdewache. Die Tiere standen als schwarze, unförmige Schatten unter den Bäumen. Manchmal tönte ein unwilliges Schnauben durch die Dunkelheit oder ein zorniger Huftritt, um die winzigen Plagegeister zu verscheuchen.

      Benz ging zu seinem Gespann. Er streichelte die Wallache, klopfte ihre Hälse, strich ihnen über das warme Fell. Warum war er so bedrückt, der Gefreite? Warum kam es ihm vor, als lauere in dieser schwülen Nacht irgendein Ungeheuer, das jeden Augenblick den Schlund aufreißen und alles verschlingen könnte? Warum schlief alles, anstatt wachsam zu sein?

      Kam die Gefahr wirklich aus Osten – dort, wo der Grenzfluss die Lande durchschnitt und in zwei Nationen teilte? Lauerte dort das Unheil?

      Benz setzte sich auf die Deichsel des Lafettenfahrzeuges und nahm den Stahlhelm ab. Die Mücken waren lästig. Sie stachen in Nacken und Gesicht, auf die Handrücken. Aus einem Zelt kam ein knurriger Fluch, ein gedämpftes Klatschen. So still war die Nacht, so unheimlich, bedrückend still.

      Benz dachte an die Menschen, die er unterwegs gesehen hatte: scheue Geschöpfe, ärmlich gekleidet, von der Hand in den Mund lebend. Besiegte. Sie wichen den Deutschen aus. Er hatte in die Gesichter dieser Menschen geschaut und sich gefragt, warum man sie für Feinde halten und als solche behandeln sollte.

      Er dachte an eine Episode auf dem Marsch. In irgendeinem schäbigen Dorf war es gewesen, einem Dorf mit einem unaussprechlichen Namen: Da stand eine verhärmte Frau mit einem Kleinkind am Arm neben dem Weg. Sie weinte. Man hatte wohl ihren Mann, einen Kleinbauern, mitgenommen, damit er den Herren, die auf den Rössern daherritten oder in Lastwagen fuhren, dienen sollte. Ein Zwangsverpflichteter! Ein polnischer Bauer, der mit seinem Panjewagen, mit dem mageren Gaul, die Waffen durchziehender Infanteristen fahren musste. Irgendwann würden sie ihn heimschicken – vielleicht mit einem Brot als Lohn oder einem Päckchen Krüllschnitt.

      Benz dachte auch an die andere Seite. Russland war nicht mehr weit. Nur noch ein paar Kilometer. Er hatte noch nie in seinem Leben einen Russen gesehen! Nun sollte er vielleicht gegen Russland ziehen und den Krieg in ein Land tragen, das er in der Schule seinen Kindern als fruchtbares, mit schwermütigen Menschen bevölkertes Reich von unendlicher Weite schilderte – ein Reich mit großer Vergangenheit! Vergeblich sann Benz darüber nach, ob er in den letzten Rundfunknachrichten irgendeine Meldung gehört hätte, die von Kriegsvorbereitungen der Russen sprach, von Greueltaten, von heimtückischen oder offenen Grenzüberfällen.

      Nichts! Nach wie vor musste man glauben, mit Russland einen Pakt geschlossen zu haben, der jeden Krieg ausschloss.

      Schritte nahten. Benz stand rasch auf und nahm das Gewehr in die Hüfte.

      »Halt – wer da! Parole!«

      »Parole Enzian!«

      Es war Schimaneks Stimme. Er trat zwischen Rohrwagen und Lafette hervor. In seinem dunklen Gesicht glühte eine Zigarette. »Benz, Sie pennen wohl, was? Sie waren wohl grad am Einschlafen, wie?«

      »Nein, Herr Wachtmeister. Ich habe Sie kommen hören.«

      Schimanek trat heran und versuchte, Benz ins Gesicht zu schauen. »Wie schmeckt Ihnen der Fahrerdienst, ha?«

      Benz spürte wieder jenes heiße Hassgefühl aufsteigen, mit dem er sich schon seit Frankreich herumquälte. Schimanek kam doch immer nur, um sein Gift zu verspritzen. Sollte man es ihm sagen? Ihn warnen? Nein.

      Benz schwieg.

      »Ich habe Sie was gefragt, Benz.«

      »Ich tue meine Pflicht, Herr Wachtmeister.«

      »Gut geheult, Wolf!« Schimanek lachte heiser. »Aber wie’s da drinnen ausschaut, geht niemand was an, wie?« Es klang herausfordernd und höhnisch.

      »Ich muss meinen Turnus gehen, Herr Wachtmeister!«

      Benz wollte sich umdrehen und weggehen, aber Schimanek hielt ihn mit einem halblauten »Halt!« zurück. Dann fragte er lauernd:

      »Na, was


Скачать книгу