Mit Rössern in den Untergang. F. John-Ferrer
Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht der geschichtlichen Wahrheit. Die Namen der handelnden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten sind daher rein zufällig.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2015
© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
Titelfoto: © Bundesarchiv Bild 101I-289-1091-26 / Fotograf: Dinstühler
Ursprünglich erschienen unter dem Titel »Mit Roß und Wagen«.
Lektorat und Satz: Dr. Helmut Neuberger, Ostermünchen
eISBN 978-3-475-54488-0 (epub)
Worum geht es im Buch?
F. John-Ferrer
Mit Rössern in den Untergang
Bespannte Artillerie im Ostfeldzug
Juni 1941. Unfreiwillig wird Robert Benz zu den Fahrern der bespannten Artillerie versetzt. Als das Regiment nach Polen verlegt wird, ändert sich seine ablehnende Haltung. Er lernt die Pferde als treue Kameraden schätzen und freundet sich mit den anderen Fahrern an.
Nach dem Überfall auf Russland zerschlägt sich schnell die Hoffnung auf einen baldigen Sieg. Ross und Wagen ziehen durch die Weiten des fremden, kargen Landes von den Pripjetsümpfen bis zum Dnjepr immer weiter Richtung Moskau. Hunger und Erschöpfung sind ihre ständigen Begleiter. Zusehends schwindet die Zuversicht, denn das unwegsame Gelände und widrige Wetterbedingungen fordern ihren Tribut.
1
Das Übungsschießen der 2. Abteilung hatte gestern stattgefunden. Gestern, am 4. Juni 1941. Von sechs Uhr morgens bis ein Uhr mittags. Dass die Witterung denkbar schlecht war und dass dicke Wolken tief über der Münsinger Alb hingen, dass es wie aus Kannen goss und dass die Zufahrtswege zu den Feuerstellungen total verschlammt waren, hinderte den Kommandeur nicht daran, Punkt 6.34 Uhr mit zwölf schweren Feldhaubitzen den Feuerschlag auf die angenommene feindliche Bunkerlinie zu eröffnen und diese innerhalb weniger Minuten in ein qualmendes Zielquadrat zu verwandeln.
Dass die graue Wolkendecke just in dem Augenblick aufriss und die Junisonne sich zaghaft hervorwagte, als die Feuereinstellung befohlen wurde, erschien dem Gefreiten Robert Benz, Richtkanonier am 1. Geschütz, wie ein Hohn, ebenso die Tatsache, dass man sich mit einem einzigen und nur halblaut geäußerten Wort, nämlich »Idiot«, Urlaub und bevorstehende Beförderung vermasselt hatte.
Genau betrachtet stand die Ursache in keinem Vergleich zur Wirkung. Die 2. Batterie zog im frühmorgendlichen Regendampf durch den schwäbischen Forst in die Feuerstellungen. Die Kanoniere waren aufgesessen und fröstelten unter den triefend nassen Zeltbahnen, die Fahrer trieben die schweren Gäule mit halblauten Flüchen an und gebrauchten sogar die Sporen, da der Fahrweg immer schlechter und die Schlammlöcher immer tiefer wurden.
In der Nähe der Feuerstellung passierte es dann, dass sich das 1. Geschütz hoffnungslos festfuhr und bis an die Radnaben in einem Schlammloch versank. Die Kanoniere saßen ab und versuchten mit vereinten Kräften, die schief im Schlammloch sitzende Lafette herauszuziehen und den angestrengt arbeitenden Gäulen zu helfen.
Wachtmeister Karl Schimanek, Zugführer der ersten beiden Geschütze, ritt heran und brüllte erst die Fahrer, dann die schwitzenden Kanoniere an, denn es war sein Ehrgeiz, dass der 1. Geschützzug vor dem 2. die Feuerbereitschaft zu melden hatte. Nun aber schien es, als ob dieses Mal der 2. Geschützzug den stets ziemlich hitzig ausgetragenen Wettstreit gewinnen würde.
Wer war schuld? Der Stangenfahrer Xaver Hirtz oder der etwas beschränkte Spitzenfahrer Franz Däubler oder der Gefreite Benz, der Richtkanonier? In keinem Falle wollte Geschützführer Unteroffizier Brenner schuld daran sein, was er durch erbostes Geschrei bekundete. Man murkste also an der festgefahrenen Lafette herum und vertat kostbare Zeit.
Da Wachtmeister Schimanek mit Geschützführer Brenner ziemlich dick befreundet war und mit diesem mehrmals wöchentlich Skat spielte, war es klar, dass nicht Brenner an dem zeitraubenden Zwischenfall schuld sein konnte.
»Benz, Sie Tüte! Sie Pflaumenheini!«, brüllte Wachtmeister Schimanek von seinem nervös tänzelnden Braunen herab. »Haben Sie wieder gepennt, he? Warum haben Sie nicht achtgegeben, dass der Karren mehr rechts fährt?«
Blaurot vor Wut war sein Gesicht unter dem Stahlhelm. »In fünf Minuten ist die Lafette in der Feuerstellung, verstanden! Und gnade Ihnen Gott, wenn das nicht der Fall ist! Ich mache Sie zur Schnecke, Mann!«
Benz hatte ein ruhiges Gesicht, er regte sich nie auf. Er war von Beruf Lehrer und hatte es gelernt, sich zu beherrschen. Aber diesmal schoss ihm doch Hitze in die Augen.
»Ich kann nichts dafür, Herr Wachtmeister«, verteidigte er sich. »Ich bin …«
»Halten Sie den Rand, Sie Heini!«, brüllte der Reiter mit dem Portepee. »Noch ein Wort – und ich melde Sie wegen unmilitärischen Benehmens dem Chef!«
Das war der Augenblick, in dem sich der Gefreite Benz brüsk umdrehte und »Idiot« murmelte.
Was dann kam, war mehr als ein Hagelgewitter; es war ein Wutausbruch, dem alle Beteiligten beklommen und verlegen gegenüberstanden. Schimanek gab seinem Braunen so hart die Sporen, dass der Gaul sich aufbäumte und mit den Vorderbeinen zu schlagen begann.
»Waaaas haben Sie gesagt?«, brüllte Schimanek. »Was haben Sie gesagt? Idiot? Mann! Mann! Ich …« Er sprang vom Gaul und stolperte auf Benz zu. »Wiederholen Sie das noch mal, Mann!«
Benz hütete sich. Er stand nur stramm und sah den Wachtmeister an – so lange, bis dieser schnaufte, die Augen zu einem Spalt schloss und herausquetschte:
»Das kommt Sie teuer zu stehen, Benz!«
Der 1. Zug kam natürlich erst nach dem 2. in die Feuerstellung, und Wachtmeister Erler rieb sich zufrieden die Hände, als sein Zug vor dem 1. die Feuerbereitschaft meldete.
Das war gestern. Heute schien die Sonne, und der Truppenübungsplatz Münsingen sah etwas freundlicher aus, obwohl auf den Exerzierplätzen noch große Pfützen standen und die flachen Barackendächer vor Nässe dampften.
Der Rapport sollte um neun stattfinden. Dienstanzug, umgeschnallt, versteht sich. Benz sah gelassen aus, als er sich fertig machte. Die Kameraden waren beim Geschützreinigen. In der Stube hielt sich nur Werner Stöger auf, der fußkrank war und keinen Dienst zu machen brauchte.
»Was wirst denn sagen?«, fragte er.
»Zugeben, dass ich ›Idiot‹ gesagt habe«, erwiderte Benz, während er noch ein letztes Mal über das schimmernde Koppel wischte.
»Mensch, das bringt dir mindestens acht Tage Bau ein. Streit es doch ab!«
Benz lächelte vergnügt. »Er ist ein Idiot, Werner, der größte, dem ich jemals begegnet bin.«
Stöger, der gerade einen Brief an daheim schrieb, legte den Bleistift weg.
»Dann kannst du dir die ›Gurkenschalen‹ abschminken«, sagte er.
Benz zuckte die Schultern. Natürlich wäre er gern Unteroffizier geworden und stand auch bereits auf der Beförderungsliste. Er galt als der flinkste Richtkanonier, und er hatte auch den letzten U-Lehrgang mit guter Beurteilung bestanden. Die Aussicht, Geschützführer am Geschütz 1 zu werden, war dahin! Oder würde Hauptmann Schröder ein Auge zudrücken? Hauptmann Schröder, der von Beruf Schulrat war und daher Benz, den jungen Lehrerkollegen, mit stetem Wohlwollen betrachtet hatte – würde der Chef wirklich ein Auge zudrücken? Würde er diese dumme Geschichte so hinbiegen, dass ihm kein Nachteil daraus entstand?
Benz schaute auf die Uhr. Noch fünf Minuten Zeit bis zum Rapport. Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich an den Tisch. Stöger saß wieder kopfschüttelnd hinter