Heimatlos (mit Illustrationen). Johanna Spyri
nicht mitnehmen konnte, er auch nichts anderes fortzubringen imstande war und daß all sein Gut hier zurückbleiben werde.
Das Fieber nahm inzwischen bei ihm mehr und mehr überhand, und gegen Abend und die ganze Nacht durch lag er in einem großen Kampf mit vielen Gedanken. Es stiegen alte Dinge vor seinen Augen auf, die er schon lange vergessen hatte, und verfolgten ihn, so daß er am Morgen sehr erschöpft dalag und nur noch einen Gedanken hatte: Er wolle gern etwas Gutes tun und gleich auf der Stelle ein gutes Werk verrichten.
Er klopfte mit dem Stock an die Wand, bis die alte Magd hereinkam, und diese schickte er zur Großmutter hinaus, sie solle zu ihm kommen, aber bald.
Die Großmutter trat auch bald danach in seine Stube, und eh sie nur recht fragen konnte, wie es ihm ginge, sagte er: »Seid so gut und nehmt dort die Geige herunter und bringt sie dem Waisenbüblein. Ich will sie ihm schenken, er soll sie in Ehren halten.«
Die Großmutter mußte sich aufs höchste wundern und immer wieder ausrufen: »Was wird der Rico machen! Was wird der Rico sagen!«
Dann sah sie, daß der Lehrer ein wenig unruhig wurde, so, als ob die Sache Eile hätte. Deshalb verließ sie ihn bald und eilte nun, so schnell sie konnte, mit ihrem Geschenk unter dem Arm übers Feld, denn sie konnte es selbst kaum erwarten, daß der Rico sein Glück erführe.
Der stand vor der Haustür. Auf den Wink der Großmutter kam er ihr entgegengelaufen.
»Da, Rico«, sagte sie und hielt ihm die Geige hin, »die schickt dir der Lehrer zum Geschenk, sie ist dein.«
Rico stand da wie im Traum, aber es war so: Die Großmutter streckte ihm wirklich die Geige entgegen.
»Nimm sie, Rico, sie ist dein«, wiederholte sie.
Zitternd vor Freude und innerer Aufregung ergriff Rico jetzt seine Geige, nahm sie in den Arm und schaute sie unverwandt an, so als könne sie ihm wieder verlorengehen, wenn er einmal wegginge.
»Du sollst sie auch in Ehren halten«, ergänzte die Großmutter ihren Auftrag. Sie mußte aber ein wenig lachen, es kam ihr nicht so vor, als ob die Ermahnung nötig sei. »Und, Rico, denk auch an den Lehrer und vergiß nie, was er an dir getan hat. Er ist sehr krank.«
Nun ging die Großmutter in ihr Haus, und Rico eilte mit seinem Schatz in seine Kammer hinauf.
Da saß er und strich und geigte fort und fort und vergaß Essen und Trinken und alle Zeit. Erst als es schon fast dunkeln wollte, stand er auf und ging die Treppe hinunter. Die Base kam aus der Küche und sagte: »Du kannst denn morgen wieder essen, heut hast du dich so aufgeführt, daß du nichts bekommst.«
Rico empfand keinen Hunger, obwohl er seit dem frühen Morgen nichts gegessen hatte. Er hatte auch jetzt nicht ans Essen gedacht und ging ganz getrost ins andere Haus hinüber und gleich in die Küche hinein, er suchte die Großmutter. Stineli stand am Herd und machte das Feuer an. Als es Rico sah, mußte es laut aufjauchzen, denn schon den ganzen Tag, seit die Großmutter erzählt hatte, was geschehen war, hatte ihm der Boden unter den Füßen gebrannt, daß es nicht hinaus konnte, um seine Freude beim Rico auszulassen. Es konnte aber keinen Augenblick fort. Nun war es auch wie außer sich und rief einmal ums andere: »Jetzt hast du sie! Jetzt hast du sie!«
Durch den Lärm kam die Großmutter aus der Stube, und Rico ging gleich zu ihr und sagte: »Großmutter, kann ich gehen und dem Lehrer danken, weil er doch krank ist?«
Die Großmutter überlegte ein wenig, denn der Lehrer hatte schon am Morgen recht schwerkrank ausgesehen. Dann sagte sie: »Wart ein wenig, Rico, ich will mit dir gehen«, und ging, um die saubere Schürze anzuziehen. Dann wanderten sie miteinander dem Schulhaus zu. Die Großmutter trat zuerst ein, dann kam ihr Rico leise nach, die Geige im Arm, denn diese hatte er, seit sie ihm gehörte, noch keinen Augenblick weggelegt.
Der Lehrer lag sehr ermattet da. Rico trat an das Bett heran und schaute dabei auf seine Geige, und er konnte fast nichts sagen, doch seine Augen funkelten so, daß der Lehrer ihn wohl verstanden hatte. Er warf einen frohen Blick auf den Knaben und nickte mit dem Kopfe. Dann winkte er die Großmutter zu sich heran. Rico trat auf die Seite, und der Lehrer sagte mit schwacher Stimme: »Großmutter, es wäre mir recht, wenn Ihr mir ein Vaterunser beten wolltet. Es wird mir so bang.«
Jetzt hörte man die Betglocke herüberläuten. Rico faltete schnell seine Hände, und die Großmutter faltete die ihrigen und betete ihr Vaterunser. Dann wurde es ganz still in der Stube. Die Großmutter beugte sich ein wenig und drückte dem alten Nachbarn die Augen zu, denn er war verschieden. Dann nahm sie den Rico an der Hand und ging leise mit ihm hinaus.
Am Silser See
Das Stineli kam vor Freude die ganze Woche durch gar nicht mehr ins Gleichgewicht, ja, es schien ihm so, als habe diese Woche zehn Tage mehr als jede andere, denn es wollte gar nicht Sonntag werden.
Als er aber endlich kam und eine goldene Sonne über die Herbsthöhen leuchtete und es mit dem Rico oben bis zu den Tannen stieg und der glitzernde See vor ihnen lag, da kam eine solche Freude über das Stineli, daß es rings im Moos herumhüpfen und jauchzen mußte. Dann setzte es sich auf den äußersten Rand am Abhang, damit es alles sehen konnte, die sonnigen Höhen und den See und weit hinüber den blauen Himmel.
Nun rief es: »Komm, Rico, hier wollen wir singen, lang, lang!«
Da setzte sich der Rico neben das Stineli und machte seine Geige zurecht, denn die war mitgekommen.
Nun fing er an, und die Kinder sangen:
»Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh' –«
alle Verse durch, aber Stineli hatte noch lange nicht genug.
Und nun fingen sie wieder von vorne an und sangen ihr Lied hintereinander durch und hatten eine große Freude daran, und wenn sie es fertiggesungen hatten, so fingen sie noch einmal an und dann noch einmal und sangen das Lied wohl zehnmal durch, und je mehr sie sangen, desto besser gefiel es ihnen.
Vor lauter Gesang hörten sie auch gar nichts von der Betglocke, und erst als es zu dunkeln anfing, merkten sie, daß es Zeit war, heimzugehen. Schon von fern sahen sie die Großmutter, wie sie ängstlich umherschaute.
Diesmal freilich war Stineli zu sehr im Feuer, um von einer Besorgnis gedämpft zu werden. Es rannte auf die Großmutter zu und rief: »Du wirst es nicht glauben, Großmutter, wie gut der Rico geigen kann, und wir haben jetzt ein eigenes Lied, nur für uns. Wir wollen dir's gleich vorsingen.«
Und eh die Großmutter nur ein Wort sagen konnte, sangen sie schon mit heller Stimme zu der Geige ihr ganzes Lied durch, und die Großmutter hörte die frischen Stimmen gerne. Sie hatte sich auf das Holz gesetzt, und als die Kinder nun zu Ende waren, sagte sie: »Komm, Rico, jetzt mußt du mir auch noch ein Lied spielen, und wir wollen es miteinander singen. Kennst du das Lied ›Ich singe dir mit Herz und Mund‹?«
Nun fingen sie an, und vor jedem Vers sagte die Großmutter den Kindern die Worte, und so sangen sie alle fröhlich miteinander.
»So«, sagte die Großmutter zufrieden, »das war ein rechter Abendsegen, jetzt könnt ihr in Frieden zur Ruhe gehen, Kinder.«
Ein rätselhaftes Ereignis
Als Rico später als sonst in das Häuschen eintrat, denn über dem Gesang war wohl noch eine halbe Stunde vergangen, schoß ihm die Base entgegen.
»Fängst du jetzt so an?« rief sie. »Das Essen stand eine Stunde lang auf dem Tisch, jetzt ist's fort. Geh nur gleich in deine Kammer, und wenn du ein ganzer Vagabund und Lump wirst, so bin ich nicht schuld. Ich wollte lieber ich weiß nicht was tun, als einen Buben hüten, wie du einer bist.«
Rico hatte nie ein einziges Wörtlein geantwortet, wenn die Base ihn schmähte, aber an dem Abend