Ilias. Auguste Lechner
Atreussöhne, mit vielen anderen achaischen Fürsten über das Meer gefahren, um Rache zu nehmen und Helena zurückzuholen.
Freilich war da noch eine andere Verlockung: Trojas ungeheurer Reichtum.
Aber was half es, dass man sich Wunderdinge von den Schätzen in Tempeln und Palästen erzählte, wenn man nach zehn Jahren immer noch draußen vor den Mauern lag?
Die Heerführer wussten wohl, dass die Krieger murrten und dass viele von ihnen längst gerne heimgekehrt wären. Allein, wie konnte man nach so langer Zeit und so vielen Kämpfen sieglos heimkehren?
Wie ein böses Gespenst schlich die Unzufriedenheit durch das Lager und die Besorgnis der Führer wuchs.
Darum hatte Agamemnon für diesen Abend die Fürsten zur Versammlung berufen. Man musste beraten, was zu tun war.
Als die Sonne westwärts im Meere versank, waren sie alle da: denn sie wussten, dass es ernst geworden war. Auf dem flachen Hügel am Rande des Lagers saßen sie im Kreise, jeder auf dem Sitz, der ihm seinem Stand nach zukam. In der Mitte Agamemnon, der König und Oberbefehlshaber des ganzen Heeres.
Zu seiner Linken hatte sein Bruder Menelaos Platz genommen, zur Rechten Nestor, der König von Pylos, alt, weise und gütig; neben ihm saß Achilleus, der Myrmidonenfürst, der beste Kämpfer der Achaier, der Abgott des Heeres; an seiner Seite wie stets sein Freund Patroklos; man sagte von ihnen, jeder ließe sich für den anderen ohne Zaudern in Stücke hauen. Diomedes war da, ebenso klug wie tapfer, der Schrecken aller Feinde; Ajax, der Große, und Ajax, der Lokrer, beide gleich berühmt, Meister im Speerwurf und gefürchtet im Zweikampf. Odysseus, der König von Ithaka, unübertrefflich an List und klugem Rat; Idomeneus, der König von Kreta, und viele andere. Auch Priester, Seher und Traumdeuter waren geladen, sollte man etwa ihrer Dienste bedürfen.
Agamemnon erhob sich. Er blickte sich um und sah, dass kein Platz leer geblieben war.
»Edle Fürsten, ihr wisst, warum ich euch zum Rate geladen habe«, begann er.
Aber er konnte nicht weitersprechen und zu dieser Ratsversammlung sollte es niemals kommen.
Denn von einem der Schiffe, die draußen vor der Hafeneinfahrt lagen, scholl in diesem Augenblick der laute lang gezogene Ruf eines Wächters.
Verwundert wandten die Fürsten sich dem Meere zu. Ein kleines Schiff mit einem dunklen Segel fuhr langsam, ganz nahe an der Küste entlang, auf die Schiffe der Achaier zu, die, eines neben dem anderen, wie riesige schwarze Ungeheuer mit dem Rumpf hoch aus dem seichten Wasser ragten.
Das kleine Schiff konnte nicht weit über das Meer gekommen sein.
Auch war auf dem Deck niemand zu sehen außer ein paar Ruderknechten und einem einzelnen Mann, der vorne an der Brüstung stand und zum Ufer herüberblickte.
»Es wird ein Bote sein«, sagte Ajax, der Lokrer. »Aber woher mag er kommen, mit diesem gebrechlichen Kahn?«
Nestor schüttelte den Kopf. Seine alten Augen konnten sehr weit sehen. »Es ist ein Priester!«, sagte er. »Ich erkenne die Binde um seine Stirn und den goldenen Stab.«
Agamemnon runzelte die Brauen. »Was kann ein fremder Priester bei uns wollen?«
Jetzt stand Achilleus langsam auf und trat neben den König. Sein Gesicht hatte einen sonderbaren Ausdruck.
»Ich will es dir sagen, Atride«, sprach er. »Der Mann dort ist jener Priester Apollons, dessen Tochter dir als Beute zugesprochen wurde! Entsinnst du dich? Als wir die kleine Stadt Chrysa, die nordwärts von hier an der Küste liegt, fast ohne Schwertstreich erobert hatten, da ließest du dir die schönsten Mädchen vorführen und die Allerschönste wähltest du für dich aus. Das war dein gutes Recht: Denn du bist der König. Aber zum Unglück war dieses Mägdlein die einzige Tochter des Priesters. Ich wette, nun ist er gekommen, sie zurückzuholen!«
Agamemnon hatte ihm mit einem zornigen Blick den Kopf zugewandt. Sein dunkles Gesicht war hart und voll Hochmut. »So ist er vergebens gekommen!«, sagte er nur.
Einen Augenblick standen die beiden Männer einander schweigend gegenüber. Sie waren wie Tag und Nacht: der strahlende helläugige Achilleus, dem das blonde Haar lang über den Nacken fiel, und der dunkelhäutige Atreussohn mit den wilden schwarzen Locken.
Es hatte niemals Freundschaft zwischen ihnen gegeben und manchmal schien es, als hassten sie einander.
Die Männer auf dem Hügel beobachteten unterdessen neugierig, wie das kleine Schiff auf die Küste zusteuerte, wie das Segel eingezogen wurde und der Kiel sich knirschend in den Ufersand bohrte.
Die Ruderknechte legten eine schmale Brücke aus und der Fremde stieg ein wenig mühsam an Land. Er schlug sogleich den Pfad ein, der auf den Hügel führte.
Droben waren die Fürsten jetzt ganz still geworden. Es war ein beklommenes Schweigen, als käme mit dem fremden alten Mann Unheil auf sie zu.
Agamemnon zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. »Denke daran, dass das Mägdlein sein einziges Kind ist«, sagte Nestors freundliche Stimme leise neben ihm.
Agamemnon antwortete nicht: denn der Fremde war schon ganz nahe herangekommen.
Jetzt blieb er stehen; sein Atem keuchte ein wenig, gewiss war er bei seinem Alter und in seiner Besorgnis zu schnell den Hang heraufgestiegen.
»Ich grüße dich, König Agamemnon, und euch, ihr Fürsten«, sagte er hastig, als schwanke er zwischen Furcht und Hoffnung. »Mögen die Götter euch den Sieg verleihen und euch eine glückliche Heimkehr schenken! Dich aber, edler Atride, bitte ich: Gib mir meine Tochter zurück! Du sollst Lösegeld erhalten, soviel du verlangst, denn sie ist die einzige Stütze und Freude meines Alters! Phöbos Apollon wird dir lohnen, was du an seinem Priester tust!«
Einen Augenblick schwieg Agamemnon. Sein Gesicht war unbewegt.
Er hörte die Fürsten ringsum reden: Ja, es wäre eine gute Tat, den Worten des Priesters zu entsprechen und so den mächtigen Gott zu ehren. Er sah in das kummervolle alte Gesicht, aber es rührte ihn nicht.
Er warf den Kopf in den Nacken mit der hochmütigen Gebärde, die alle an ihm kannten.
»Scher dich fort, Alter, und lass dich nie wieder bei unseren Schiffen blicken, wenn du heil davonkommen willst! Deine Tochter bekommst du nicht! Sie ist schön und versteht sich aufs Weben und andere kunstreiche Arbeit! Sie wird eine Zierde meines Palastes in Argos sein, wenn ich heimkehre!«
Das Gesicht des Priesters war weiß geworden wie die Binde um seine Stirn. Er wusste, es gab keine Hoffnung mehr für ihn. Verzweiflung ergriff ihn und ein furchtbarer Zorn. Er hatte sich schon umgewandt, um zu gehen. Aber er blickte noch einmal zurück in das erbarmungslose Gesicht. »Ja – wenn du jemals heimkehren solltest!«, stieß er hervor und begann, müden Schrittes den Pfad hinabzusteigen. In seinem Elend rief er Phöbos Apollon an: »Höre mich, Gott mit dem silbernen Bogen! Habe ich dir mein Leben geweiht, dir viele Opfer von Lämmern und jungen Ziegen gebracht, dir sogar einen Tempel gebaut – so räche mich jetzt an den Achaiern!«
Apollon sah seinen Schmerz und hörte seine Bitten. Auch zürnte er Agamemnon, weil er seinen Priester so missachtete: Wohlan, er würde es büßen und die Achaier mit ihm. Und während das kleine Schiff durch die sinkende Dämmerung zurückfuhr nach Chrysa, begab sich der zürnende Gott vom hohen Olympos hinab zum Lager der Achaier. Nächtliches Grauen umgab ihn, über der Schulter trug er den silbernen Bogen und den verschlossenen Köcher mit den nie fehlenden Pfeilen.
Ein wenig entfernt von den Schiffen auf einem Hügel ließ er sich nieder. Er öffnete den Köcher, legte den ersten Pfeil auf die Sehne und schnellte ihn ab. Ein schrecklicher Klang scholl von dem silbernen Bogen, und wer ihn vernahm, dem wollte vor Entsetzen das Herz stillstehen.
Zuerst trafen die Pfeile Maultiere und Hunde: Sie stürzten nieder und verendeten.
Dann richtete der zornige Gott seine Geschosse gegen die Menschen.
Eine furchtbare Seuche brach über die Achaier herein. Tag und Nacht brannten die Totenfeuer rings um das Lager.