Ilias. Auguste Lechner

Ilias - Auguste Lechner


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ihren Gesichtern nicht sehen.

      Drunten am Strand drängte sich Kopf an Kopf das Kriegsvolk. Das Brausen der Stimmen verstummte, als sie ihn sahen. Erwartungsvoll starrten sie zu ihm herauf. Agamemnon holte tief Atem. »Freunde«, rief er mit mächtiger Stimme, »es hat Zeus Kronion gefallen, mich in schreckliche Unsicherheit zu verstricken. Als wir auszogen, verhieß er mir durch untrügliche Zeichen, dass es uns beschieden sein werde, Troja auszutilgen. Seitdem sind fast zehn Jahre vergangen. Wir haben viele Krieger verloren. Schon beginnt das Holz unserer Schiffe zu modern und die Seile werden brüchig. Ich habe keine Hoffnung mehr, jemals diese Stadt zu erobern. Wir wollen also heimkehren, solange es noch Zeit ist.«

      Einen Augenblick war es totenstill auf dem weiten Strand. Dann brach es los wie der Donner der Brandung an einer felsigen Küste. Sie sprangen auf, sie schrien, sie brüllten, die einen rannten zu den Schiffen, die anderen zu den Zelten. Sie begannen, die stürzenden Balken unter den Kielen hervorzuzerren und die Zelte abzureißen, und schrien und sangen vor Freude …

      Agamemnon stand droben an der Brüstung, als wäre er zu Stein geworden. So war es also!

      Er hatte nicht gemerkt, wie die anderen Fürsten das Schiff verließen. Jetzt aber sah er sie, wie sie sich drunten unter die Krieger mischten und mit ihnen redeten.

      Da raffte er sich auf und folgte ihnen. Sein dunkles Gesicht war bleich und seine Faust umklammerte das Zepter, dass die Knöchel weiß hervortraten.

      Langsam ging er auf die Menge zu. Er merkte, dass das Freudengebrüll allmählich leiser wurde und endlich völlig verstummte.

      Die Männer, die schon begonnen hatten, die Schiffe ins Wasser zu ziehen, kamen zögernd zurück, umstanden ihre Anführer und hörten ihnen mit betretenen oder trotzigen Gesichtern zu.

      Odysseus sah den König kommen, schob ein paar Krieger zur Seite und ging ihm entgegen. Er sah sehr zornig aus. »Leihe mir deinen Herrscherstab! Mir scheint, ich brauche ihn dort drüben sehr nötig«, sagte er, nahm Agamemnon kurzerhand das Zepter ab und verschwand dann mitten in einem Haufen Krieger.

      Mitten in diesem Haufen stand Thersites.

      Thersites war entsetzlich hässlich. Er schielte und auf seinem spitzen Kopf wuchs nur spärlich graues Wollhaar. Er hatte kurze, dünne Beine und einen Höcker auf dem Rücken, der ihm die Schultern nach vorne zu drücken schien.

      Niemand sah ihn je freundlich. Stets lästerte er gegen die Fürsten, in Sonderheit Achilleus, dem er seine Schönheit und Kraft neidete, aber auch Odysseus und die anderen. Die Achaier verachteten ihn, aber dennoch hörten sie seinen Schmähreden neugierig zu.

      Als er jetzt Agamemnon erblickte, richtete er seine Wut gegen ihn.

      »Haben wir noch nicht genug Beute für dich gemacht, Agamemnon?«, schrie er mit seiner heiseren Stimme. »Glaubst du, wir armen Toren merken nicht, dass die Fürsten uns auf dein Gebot von Neuem zum Kampfe aufstacheln, nachdem wir einen Augenblick auf Heimkehr hofften! Beim Hades, du bist so habgierig, dass du dich nicht einmal schämst, Achilleus seine Ehrengabe wegzunehmen, und –«

      Er prallte zurück und verstummte mitten im Wort: denn mit einem schnellen Schritt stand Odysseus vor ihm.

      »Elender Schwätzer«, schrie er. »Wenn du nicht augenblicklich schweigst, so schwöre ich dir, ich reiße dir das Gewand vom Leibe und jage dich mit Geißelhieben, nackt wie du bist, hinab zu den Schiffen! Scher dich fort!« Und er holte gewaltig aus und hieb ihm das Zepter über den untersten Teil des Rückens, dass Thersites aufheulend davonstolperte und sich in sicherer Entfernung niedersetzte. Die Krieger lachten und riefen Beifall.

      Odysseus war sehr klug und kannte die Achaier. Er wusste, jetzt war die Gelegenheit günstig, sie zum Bleiben zu bewegen.

      »König Agamemnon«, sagte er so laut, dass seine Stimme weit im Umkreis zu hören war, »nun haben die Achaier dir eine bittere Enttäuschung bereitet. Du wolltest sie prüfen und ihre wahren Gedanken erkunden. Sie aber schrien nach Heimkehr. Ich kann es ihnen nicht verargen.« Er wandte sich den Kriegern zu und fuhr eindringlich fort: »Aber mir scheint, es wäre schade, wenn wir jetzt, nach neun Jahren, unrühmlich und den anderen Völkern zum Spott, heimkehren müssten, ohne Troja besiegt zu haben. Was sollen wir den alten Leuten und den Witwen und Waisen daheim in Achaia sagen, wenn sie uns fragen, wofür ihre Söhne, ihre Männer und Väter gestorben sind? Erinnert ihr euch? Als wir uns mit den Schiffen vor Aulis versammelten, um über das Meer zu fahren, brachten wir den Göttern ein Opfer und baten um Sieg und glückliche Heimkehr. Der Altar stand unter einem riesigen Ahorn, in dessen Zweigen sich ein Sperlingsnest mit acht Jungen und ihrer Mutter befand. Zu unserem Entsetzen fuhr während des Opfers ein purpurschuppiger Drache unter dem Altar hervor, wand sich am Baum empor und verschlang die kleinen Vögel und ihre Mutter. Und dann – neuer Schrecken befiel uns –, dann verwandelte sich plötzlich vor unseren Augen der Drache in Stein und blieb, grausig anzusehen, an diesem Ort stehen zum ewigen Wahrzeichen.

      Sogleich befragten wir Kalchas, den Seher. Er sagte: ›Die neun Sperlinge bedeuten die Jahre, die ihr um Troja kämpfen werdet.

      Im zehnten Jahr aber werdet ihr die Stadt erobern und wie der versteinerte Drache wird euer Ruhm die Jahrhunderte überdauern.‹ Ich frage euch, Freunde, wollt ihr euch nicht noch eine kurze Weile gedulden: denn dies ist das zehnte Jahr und in diesem Jahr wird Priamos’ Feste fallen.«

      Ja, Odysseus war sehr klug und er hatte sich nicht getäuscht. Zuerst zögernd, dann immer lauter, scholl ihm Beifall aus den Reihen der Krieger entgegen.

      Da begann Nestor zu reden. Auch er kannte die Achaier, und was er sagte, war nicht weniger klug. »Habt ihr vergessen, dass uns Zeus Kronion sein Zeichen sandte, als wir von Aulis ausfuhren? Sein Blitzstrahl zuckte zu unserer Rechten herab: Ihr wisst, das bedeutet Glück. Und habt ihr vergessen, welche Reichtümer in Trojas Palästen auf uns warten? Wollt ihr wirklich darauf verzichten, nur um ein wenig früher heimzukehren? Bei den Göttern, ich kann es nicht glauben!«

      Er schwieg, denn jetzt war das Beifallsgebrüll so laut geworden, dass man seine Stimme nicht mehr hörte. Sie sahen einander an, er und Odysseus, und sie wussten, dass sie gewonnen hatten.

      Es war genauso wie immer – vorher und nachher in der Geschichte des Menschengeschlechtes: Einige kluge Männer lenkten die vielen Tausenden, wie es ihnen gefiel.

      Als es wieder ein wenig stiller geworden war, sprach Nestor weiter: »Da ihr euch also entschlossen habt, den Kampf zu Ende zu führen, wollen wir keine Zeit verlieren. Denn dies hat Zeus Kronion heute Nacht dem König im Traum befohlen.

      Geht darum zurück in eure Zelte und zu den Schiffen und rüstet euch zur Schlacht. Zuvor aber sollen alle ein reichliches Mahl halten und den Göttern opfern. Und noch eines«, fügte er schlau hinzu, »die einzelnen Völkerschaften mögen sich, getrennt voneinander, mit ihren Anführern aufstellen. So wird es sich zeigen, wer am tapfersten kämpft und die reichste Beute verdient!« –

      Vom hohen Olympos aus hatten Hera und Pallas Athene dies alles besorgt beobachtet. Nun gewahrten sie mit Befriedigung, wie die Achaier sich eiligst zum Kampfe bereiteten. »Ich hätte sie nicht heimkehren lassen, ehe diese stolzen Troer, die mir so wenig Ehrfurcht zollen, samt ihrer Stadt von der Erde vertilgt sind«, sagte Hera. »Aber die Sterblichen sind wankelmütig. Begib dich hinab zum Lager und flöße den Kriegern Mut und Kampfbegier ein, dass sie nicht erlahmen, ehe es zu Ende ist.«

      Pallas Athene gehorchte, denn auch sie war den Achaiern gewogen, in deren Städten ihre herrlichen Tempel standen.

      Die Aigis, Zeus Kronions schrecklichen Schild, in der Rechten, durchflog sie ungesehen das Heer, stachelte die noch Zaudernden auf, sodass ihnen alsbald der Kampf verlockender erschien als die Heimkehr.

      Schon dröhnte der Boden unter den Tritten der gewaffneten Scharen, die in den weiten Auen am Flusse Skamandros Aufstellung nahmen.

      Aus allen Landschaften Achaias waren sie in ihren Schiffen gekommen: aus Böotien und der felsigen Aulis, aus Phokis und von den Ufern des Stromes Kephissos, aus dem Weinland von Arne und von Euböa.

      Ajax führte die Lokrer an; er war klein an Wuchs und trug nur einen Harnisch aus Leinen.


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