Unerhörte Nachrichten. Christian Müller Lorenz
übers Herz, Ahmed wissen zu lassen, dass es in Finnland weit weniger Sonne geben wird als hier in Österreich.
Ich bringe es nicht übers Herz, ihn wissen zu lassen“, wiederholte Prähausner. „Das ist fast schon literarisch ausgedrückt.“ Er strich sich ein paar Haarsträhnen, die sich aus seinem Pferdeschwanz gezaust hatten, hinter das rechte Ohr zurück.
„Ja. Das Thema liegt ihm. Er ist ein politischer Kopf.“ Annabel stand von ihrem Schreibtisch auf und räkelte ihre Arme in Richtung Decke. „Ah, das tut gut. Gestern Abend war wieder Yoga-Kurs. Du könntest dich eigentlich auch mal ein bisschen bewegen.“ Sie streckte ihre Arme V-förmig in Richtung Decke. Es sah aus, als hätte sie sich als menschliches Ausrufezeichen hinter ihren letzten Satz gesetzt. Das war eine Aufforderung wie ich sie nur allzu gut von Hertha kenne, hättest du, könntest du, würdest du. Höflich bis zur Selbstverleugnung, aber mit einem derart leidenden Unterton, dass sich das schlechte Gewissen sofort zur Hintertür hereinschleicht und ich das Erbetene sofort erledige. Nein, ich werde mich nicht bewegen, ich werde an meinem Schreibtisch sitzen, bis sich meine Finger über der Tastatur versteifen, bis ich nicht mehr aufstehen kann und du, liebe Annabel, mich in Richtung Friedhof schleppen musst. Jetzt beugt sich die Kollegin mit durchgestreckten Beinen nach vorne und nimmt eine seltsam baumelige Körperhaltung ein, Kopf und Arme hängen nach unten. Mit einer Stimme, die unter ihrem Schreibtisch gründelt, fordert sie mich noch einmal auf, etwas für meinen Körper zu tun. Danke, Annabel, mein Gehirn ist auch so ganz gut durchblutet, ich brauche meinen Kopf nicht hängen zu lassen.
Ach, was muss ich ständig an Frauen geraten, die sich nach fernöstlicher Spiritualität verrenken, die sich an mich heranmeditieren oder mich mit ihrer Safranglut verbrennen? Warum kann Annabel nicht einfach in die Kirche gehen und niederknien, warum liest Hertha in einem Achtsamkeitsratgeber, statt ein Vaterunser zu beten?
Zufrieden schnaufend richtet sich die Kollegin wieder auf. Das Blut, das in ihr Gesicht gelaufen ist, steht ihr ausgezeichnet, gleich sieht sie weniger büroblass aus als zuvor – und die Haltung erst! Ihr Busen strafft in meine Richtung, die Brustwarzen spitzen durch den Stoff. Wild zwirbelt ihr Haar in alle Richtungen. Wie sehr ich sie doch um dieses Haar beneide, um seine Widerspenstigkeit, um sein brünettes Quirlen, Strähnen und Strubbeln, in das mein Blick sich jetzt hineinverirrt; so dicht ist dieses Haar, dass ich noch niemals wirklich ihren Nacken gesehen habe, noch nie das sanft von den Wirbelfortsätzen durchhügelte Stückchen jungfräulich weißer Haut, wohlgeborgenes Hymen, das nur durch einen gezielten Biss zerrissen werden kann. Ich merke, dass ich starre, dass sich mein Blick peinlich versteift hat. Da hilft nur noch, ein möglichst finsteres Gesicht zu machen: Yoga kommt für geile Männer mittleren Alters, die sich vor sich selber grausen, einfach nicht in Frage.
Enttäuscht blickt sie zu mir herüber, jetzt setzt sie sich wieder vor den Bildschirm und ihr Rücken rundet sich. Schade. Ihr Busen verkriecht sich zwischen ihren Schultern.
„Äh, warum ziehen sich Hindu-Frauen eigentlich oft das Sarituch über den Kopf?“, fragte Prähausner. „Hat das religiöse Gründe?“
„Keine Ahnung“, sagte Annabel. „Wieso?“
Der Journalist erzählte ihr vom gestrigen Wohnzimmer-Catwalk und von Maras gelungener Sari-Präsentation.
Mit kraus gezogener Stirne blickte ihn die Kollegin einen Moment lang skeptisch an, dann öffnete sie die Lade mit ihren Duftölen. „Tasmanisches Berg-Eukalyptus-Öl oder Tiroler Latschenkiefern-Extrakt?“ Leise klirrten die Glasfläschchen aneinander.
„Kiefer“, wählte Prähausner, der sich wieder seinem Bildschirm zugewandt hatte. „Wir könnten den Gebirgsjäger damit beauftragen, sich einen Sunniten, einen Alewiten, einen orientalischen Christen und so weiter zu suchen. Er könnte Artikel über die jeweiligen Lebens- und Fluchtgeschichten schreiben. Daneben könnten wir in einem Kästchen die dazugehörenden Religionen erklären.“
„Latschenkiefer!“, sagte Annabel mit Nachdruck. „Diese Mara beschäftigt dich ziemlich, was?“ Sie nahm eines der Fläschchen aus der Lade, schraubte es auf und gab einige Öltropfen in die Wasserschale, die neben ihrer Tastatur stand. Sofort verbreitete sich ein harzigherber Duft im Raum.
„Ja. Aber vielleicht auf … auf eine andere Weise, als du denkst“, antwortete Prähausner. „Wahrscheinlich ist sie wirklich aus Indien, so selbstverständlich, wie sie den Sari trägt.“
„So selbstverständlich wie ich meinen Kapuzenpullover?“ An Annabels mokantem Unterton merkte Prähausner, dass sie ihm nicht glaubte. Wenn sie wollte, konnte sich die Kollegin ausgesprochen sarkastisch geben. Besonders Hubert pikste sie nicht selten mit ihren spitzen Bemerkungen.
„Zuerst Hertha mit ihren Hosenanzügen, ihren Kostümen. Dann jahrelang nichts, und dann plötzlich so ein bunter Sari. Da muss Mann ja schwach werden“, höhnte Annabel. Sie saß plötzlich kerzengerade da und griff mit der rechten Hand nach hinten, an die Lehne ihres Bürosessels, anschließend drehte sie ihren Oberkörper. Ihr Kopf folgte dieser leicht spiraligen Bewegung, und so grünten auch ihre Augen nach hinten, an die Wand, wo Prähausner die Urkunde aufgehängt hatte. Der Medienpreis des Bundeslandes war vor nun schon sechs Jahren an die Neuesten Grätzelnachrichten gegangen, für die „außergewöhnliche Berichterstattung im lokalen Bereich“. Hertha und er waren damals als ein privat wie beruflich erfolgreiches Paar gefeiert worden, dabei war die Trennung bereits absehbar gewesen.
Prähausner seufzte auf. Er hatte längst niemanden mehr, der die Nachrichten nach außen repräsentierte, der effiziente Werbung für das Werbeblatt zu machen verstand. Daran würde auch Huberts App nichts ändern.
Die beängstigenden Zahlen vor dem inneren Auge, seufzte der Redakteur noch einmal auf, dann sagte er zu Annabel: „Weißt du was, ich mache die religionsspezifischen Interviews selbst. Ich muss mal wieder raus aus diesem Büro, sonst werde ich schier verrückt. Kommst du mit? Ich brauche jemanden, der fotografiert.“
7
Die Leute hockten auf dem Boden, auf Decken, Jacken oder ganz einfach im trockenen Gras, nein, sie hockten nicht, sie lagerten, sie hatten sich bequem ausgestreckt und machten ihre Rucksäcke, ihre Taschen zu Kopfkissen, sie hatten sich sämtlich scheinbar locker über die Wiese verstreut, und doch war so etwas wie ein Muster erkennbar: Die Familien bildeten immer einen Kern, ein geschlossenes Zentrum, um das sich junge Männer sammelten, zu dritt, zu viert saßen sie mit überkreuzten Beinen und blickten auf ihre Smartphones, rauchten und aßen die Semmerln, die das Bundesheer verteilte, oft aber nur das Brot, die Wurst landete im Gras.
„Ist da eigentlich Schweinefleisch drin?“ Prähausner zeigte mit der Schuhspitze auf eine zertretene Scheibe Extrawurst.
„Ich glaube schon.“ Annabel nahm die Kamera vom Auge und verzog angewidert das Gesicht. „Können die keine Käsesemmerln verteilen? Dann wüssten die Leute, woran sie wären und es würde nichts verschwendet. Klohäuschen sollten sie aufstellen. Und Mistkübel“, sagte die Kollegin, während der Verschluss ihrer Kamera bereits wieder klickte.
Sie hatte recht. Dem Geruch nach zu schließen, wurde nicht nur die Flussböschung als Toilette benutzt. Zwischen den lagernden Gruppen ließ der warme Wind Plastikabfälle vagabundieren, überall lagen Flaschen, weggeworfene Decken und Kleidung. Toilettenhäuschen statt waschkörbeweise Extrawurst-Semmerln war allerdings kein guter Vorschlag, jedenfalls nicht, wenn es nach dem Polizeisprecher ging, den Prähausner vor etwa zwei Stunden telefonisch erreicht hatte. Man wolle die Leute in der leergeräumten Autobahnmeisterei unterbringen, die nur wenige Kilometer entfernt und inzwischen mit allem Notwendigen ausgestattet sei. Ein wildes Camp an der Grenze werde man nicht dulden. Noch sah es nicht nach einem Camp aus, eher nach einem Massenpicknick.
„Stell dir vor, das wären Österreicher. Die würde alle auf den Bordsteinen sitzen oder auf den Steinen am Flussufer und nicht auf dem Boden.“ Annabel verstaute die Kamera in ihrer Tasche. „Oder sie würden gleich Bierbänke und Biertische aufstellen.“
Prähausner lachte. Tatsächlich hatte das Bundesheer damit begonnen, am Straßenrand Biertische aufzuklappen. Kollegen vom deutschen