Unerhörte Nachrichten. Christian Müller Lorenz

Unerhörte Nachrichten - Christian Müller Lorenz


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stand. „Das sieht aber nicht sehr besonders aus.“

      „Hm, ich weiß nicht recht.“ Prähausner wischte die Aufnahme beiseite, dann suchte er nach der Weckerfunktion. „Unser Informant legt sich schlafen. Das werde ich jetzt auch machen. Danke für das Essen.“

      „Bitte.“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Und vergiss auf das Zähneputzen nicht!“

      Prähausner versprach es ihr. Zähneputzen, ja, sie hatte recht, sie war bisweilen verblüffend vernünftig, das hat sie von Hertha, die Inkonsequenz nicht leiden kann. Die Zähne hatten am Morgen und am Abend sorgfältig gesäubert zu werden, Munddusche, Zahnseide, Interdentalbürsten, Zahnbürste, Zahnspülung: Immer in dieser Reihenfolge. Gegen Ende der Beziehung habe ich mir vor dem Mittagessen Zahnseide durch den Mund gezogen, ich habe mir nach der Suppe ein Stamperl Zahnspülung gegönnt und gleich nach dem Dessert die Bürste eingesetzt, obwohl man nach der Mahlzeit mindestens eine halbe Stunde mit dem Putzen warten soll, besonders, wenn man etwas Saures gegessen hat. Ich habe mir am Nachmittag stundenlang mit den Interdentalbürsten zwischen den Zähnen herumgestochert und die Munddusche mitten in der Nacht angeschaltet. Das war meine Art, Hertha Kontra zu geben, mich für all ihre Demütigungen zu rächen. Franzis Sinn für die richtige Reihenfolge ist dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Ich muss sie nie dazu ermahnen, sich vor dem Schlafengehen die Zähne zu putzen, eher ist es umgekehrt. Vielleicht kommt ihr zwanghafter Zugang zur Zahnhygiene ja wirklich von meiner anarchischen Art, vielleicht habe ich Franzi tatsächlich verstört? Hertha zumindest sieht es so. Sie hat versucht, dem Kind einen Alltag anzutrimmen, in dem Schlamperei und Nachlässigkeit nicht vorkommen. Aber Franzi wehrt sich, Franzi lässt sich die Nasenflügel durchstechen und nicht die Ohrläppchen, oh, ihr Näschen ist noch immer rot entzündet, es sieht aus, als sei sie stark verschnupft.

      Ob Ibrahim und seine Cousins Zahnbürsten in ihren Rucksäcken haben? Sitzen sie abends unten am Fluß, tauchen sie die Bürsten in das Wasser und putzen sich dann, hinüber zum Land ihrer Träume blickend, die Zähne, oder reinigen sie sich die Zahnzwischenräume eher mit Holzstückchen, so, wie der Prophet Mohammed das vorgelebt hat? Sind Flüchtlinge, die Munddusche, Zahnseide, Interdentaldusche, Bürste, Zahnspülung benutzen, besser als jene, die islamische Mundhygiene machen?

      Prähausner merkte, dass er aufgestanden, dass er ganz in Gedanken zur Türe gegangen war. „Gute Nacht. Schlaf gut, Franzi“, murmelte er und schaltete das Licht aus. Was fehlte als erstes, wenn das gesellschaftliche Ordnungssystem ins Kippen geriet? Zahnpasta? Würde dann noch jemand seinen Köter an die Leine legen? Den Hundedreck in ein Plastiksackerl packen? Unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, ging er ins Bad. Das Zähneputzen würde ihn nicht nur hygienisch, sondern auch mental auf die dringend benötigte Ruhe vorbereiten. Fraglich nur, ob er danach tatsächlich würde einschlafen können.

      9

      NGN: Herr Bürgermeister, den Neuesten Grätzelnachrichten liegen Fotos und Filmausschnitte vor, die den Bau eines Grenzzauns bei Freileichtheim zeigen. Die deutsche Bundesregierung hat nach anfänglichen Dementis zugegeben, dass im Auwald eine Sperre errichtet wird. Es heißt, diese Sperre ziele allein gegen illegale Grenzübertritte. Schenken Sie dieser Aussage Glauben?

      Johann Ableitner: Was ist das für eine Frage? Wir haben das allerbeste Verhältnis zu unseren deutschen Nachbarn. Das wird auch so bleiben.

      NGN: Seit Tagen wird auf höchster Ebene über Kontingente verhandelt. Eine Einigung ist bisher nicht erzielt worden.

      Johann Ableitner: Ja, der österreichische Innenminister ist gerade in Berlin. Es geht nur noch um die Zahl der Flüchtlinge, die Deutschland täglich aufnehmen wird.

      NGN: Und wenn kein Abkommen zustande kommt? Was würde das für unser Bundesland und speziell für unsere Stadt bedeuten?

      Johann Ableitner: Gemeinsam werden wir eine Lösung finden. In Freileichtheim werden gerade sämtliche Schulsporthallen mit Feldbetten ausgestattet. Man will kein Chaos. Die Übergabe soll geordnet stattfinden. Deshalb die Verzögerung.

      NGN: Wir haben andere Informationen. Die Turnhallen sind als Mannschaftsunterkünfte adaptiert worden. Für Militär, das bereits im Anmarsch ist.

      Johann Ableitner: Das ist sicher nur ein Gerücht! Es soll keine Unruhe entstehen. Deshalb hat man den Zaun ohne vorherige Ankündigung zu bauen begonnen.

      NGN: Täglich erreichen zwischen 600 und 800 Flüchtlinge den Hauptbahnhof. Die Autobahnmeisterei ist zu zwei Dritteln voll. Wie geht die Adaptierung der Messehallen voran?

      Johann Ableitner: Gut. Die Sanitärcontainer sind bereits geliefert worden. Bald werden wir Raum für weitere 3000 Menschen haben. Wir haben alle Bauvorschriften eingehalten. Selbst in Notfällen wie diesen können sie nicht umgangen werden.

      NGN: Sie haben das erste Mal das Wort „Notfall“ in den Mund genommen.

      Johann Ableitner: Business as usal ist das nicht, das ist klar. Es ist aber auch kein Zustand, dem man nicht Herr werden könnte.

      NGN: Noch einmal die Frage, was passieren würde, wenn die Bundesrepublik Deutschland ihre Grenzen dicht macht?

      Johann Ableitner: Das wird nicht passieren. Bis es zu einer geordneten Übergabe kommt, wird es nicht mehr lange dauern.

      Kaum geschehen, schon gesehen – Grätzel-News informiert Sie prompt über Neuigkeiten aus Ihrer Region.

      Eine ausführliche Version dieses Interviews erscheint am kommenden Dienstag in der Druckausgabe der Neuesten Grätzelnachrichten.

      10

      Parkraumbewirtschaftung. Noch vor ein paar Wochen wäre das Thema als Aufmacher gut gewesen, jetzt gehörte es eigentlich ganz nach hinten. Prähausner hatte es trotzdem auf Seite drei platziert, hatte sich zwei Stunden Zeit genommen, um zu erfahren, dass zu den sogenannten „Blauen Zonen“ gebührenpflichtige grün markierte Areale hinzukommen würden. Das sollte einen Teil der täglich zehntausendfach in Richtung Stadtzentrum drängenden Pendler dazu bewegen, ihr Auto stehen zu lassen und die Öffis zu benutzen.

      „Sie schreiben ja überhaupt nichts anderes mehr“, hatte Frau Hirscher sich am Vorabend bei Prähausner beklagt. „Flüchtlinge hier, Flüchtlinge dort. Ich kann es nicht mehr hören.“ Am Nachmittag war sie zusammen mit Mara von „Pontius zu Pilatus“ gerannt, weil sie der Meinung gewesen war, die Sache gehöre geordnet, Mara müsse nach drei Tagen in Prähausners Wohnung doch endlich den Behörden gemeldet werden, und so sei sie mit der Fremden zur Polizei gefahren. Dort seien sie durch weite, hallende Gänge gelaufen, und das anfangs noch so selbstbewusst-laute Knallen von Maras Stöckelschuhen sei immer leiser und zaghafter geworden, und das reichlich aufgetragene Rouge und der Lippenstift hätten aus ihrem blass gewordenen Gesicht gegrellt, als sie einer Gruppe von Beamten begegnet seien. Die junge Frau habe sich an ihre, Elfriede Hirschers, Hand geklammert, und nichts sei mehr zu spüren gewesen von der Freude, die sie während der Busfahrt ausgestrahlt habe und während des kurzen Spaziergangs durch einen Park bis zum Hauptgebäude der Polizei. Und dann sei eine Beamtin mit einem Schäferhund aus einem Dienstzimmer gekommen, sicherlich ein bestens erzogenes und denkbar kurz angeleintes Tier, aber Mara sei trotzdem schockstarr gewesen vor Angst, sie habe sich erst wieder rühren können, als der freundlich schwanzwedelnde Hund und sein Frauchen hinter der nächsten Ecke verschwunden seien. Derart eingeschüchtert sei die arme Mara gewesen, dass sie kaum zu bewegen gewesen sei, den ihnen genannten Raum zu betreten.

      Und dann habe der zuständige Beamte, ein müde aussehender junger Mann mit einem blonden Backenbart, unanständig lange auf Mara gestarrt, er habe sogar gefragt, wie sie zu ihrem teuren Kostüm und der Markenhandtasche gekommen sei, bevor er mehrere Schlucke aus einer riesigen Kaffeetasse genommen habe, im ganzen Büro habe es aufdringlich nach Kaffee gerochen. Der Polizist habe sich mit einem Stoßseufzer zurückgelehnt und sie, Elfriede Hirscher, gebeten, in zwei oder drei Wochen wiederzukommen. Er könnte wegen totaler Überlastung im Moment nichts für sie tun.


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