Die anderen Leben. Sabine Michel
lernst, nicht weiter nachzubohren«
Annett (*1971) und Klaus-Dieter (*1951)
Sabine Michel
Ich bin lange mit dem Zug gefahren, zweimal umgestiegen. Annett holt mich vom Bahnhof ab. Sie ist kleiner, als ich dachte, mit gewellten dunklen Haaren und warmen, ebenfalls dunklen Augen. Wir fahren noch einmal fast zwanzig Minuten in ihrem familienfreundlichen Kombi. Unser Ziel: ein Dorf in Westdeutschland mit typischen Einfamilienhäusern und gepflegten Gärten. Ab und an ein Auto auf der Gegenspur. Vor dem Haus stehen Kinderfahrräder, Roller und Spielzeug liegen über die Wiese verstreut. Es ist still, ein warmer Sommerabend. Die Schwalben fliegen hoch.
Annett und ihr Mann Dirk haben drei Kinder. Die beiden haben sich Anfang der Neunzigerjahre beim Lehramtsstudium in Annetts Heimatstadt Dresden kennengelernt. Er war damals einer der ersten Studenten aus den alten Bundesländern. Nach Studienende ziehen beide nach Westdeutschland, Annett will auf keinen Fall in Dresden bleiben. Sie arbeiten als Lehrer, Dirk wird Schuldirektor und erhält das Angebot einer Auslandstätigkeit in Asien.
Die kalligraphischen Zeichnungen an den Wänden erzählen von dieser Zeit. »Ich wollte immer ganz weit weg, nicht ein bisschen Fremde, sondern ganz fremd«, erzählt Annett. Asien ist ein Traum für sie. Einziger Wermutstropfen: Annett findet selber keine Arbeit, bleibt zu Hause und kümmert sich um Kinder und Haushalt. »Anfänglich war das absurd für mich. Ich bin doch in der DDR damit aufgewachsen, dass alle Frauen selbstverständlich arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen. Für meinen Mann war das normaler, dass ich zu Hause blieb.«
Annett braucht fast ein Jahr, um sich in diese für sie neue Art des Zusammenlebens hineinzufinden und die angenehmen Aspekte genießen zu können. Annett und Dirk leben mit ihren ersten beiden Kindern vier Jahre im Ausland. Als sie zurück in Deutschland sind, bekommen sie noch ein Kind. Die Jüngste ist jetzt drei Jahre alt. Heute arbeitet Annett wieder mit halber Stundenzahl als Lehrerin. Als ich sie wegen eines Gesprächs mit ihrer Mutter oder ihrem Vater angesprochen habe, hat sie lange gezögert.
Annett wächst mit ihrer berufstätigen Mutter und ihrem Stiefvater in Sachsen auf. Ihre Mutter arbeitet in der Verwaltung, er als Polizist; beide sind Mitglied der SED. Ihr leiblicher Vater lebt in Berlin und arbeitet im Ministerium für Staatssicherheit. Auch Annetts Mutter beginnt drei Jahre vor dem Mauerfall für die Staatssicherheit zu arbeiten. Nach dem Mauerfall wird sie arbeitslos und alkoholkrank und ist es bis heute. Ihr Stiefvater ist nun in einem Wachunternehmen tätig. »Ich konnte mich nie richtig auf meine Mutter verlassen. Es war für Momente schön und dann war sie wieder abwesend und ausschließlich mit sich beschäftigt. Hier hat sie uns noch nie besucht.«
Wir stehen in Annetts und Dirks Garten, schauen auf das angrenzende Feld. Der Mauerfall kommt überraschend für sie und stellt Annetts bisheriges Leben auf den Kopf. Annett wird für kurze Zeit Mitglied der PDS, der Nachfolgepartei der SED.
»Mehr aus Trotz, als immer mehr Leute für die schnelle Wiedervereinigung und die D-Mark auf die Straße gingen. Eine kurze Episode. In der DDR wäre ich sicher irgendwann in die SED eingetreten. Ich habe nichts kritisch hinterfragt. Ich war aktiv als FDJ-Sekretärin und bin dann auch kurz vor der Wende noch zum FDJ-Treffen in Berlin gewesen.«
Schon vor ihrem Asien-Aufenthalt haben Annett und ihr Mann dieses Haus gebaut. Es sticht unter den anderen Einfamilienhäusern im Ort heraus, ist höher, mit ungewöhnlichem Grundriss und sehr großen Fenstern. Von einem Flur, in dem viele Schuhe, vor allem Kinderschuhe, bunt durcheinanderliegen, gelangen wir über eine Treppe in den Wohnbereich, einer Art kombiniertem Küchen- und Wohnraum; ein großer Tisch steht einladend in der Mitte. Blickfang ist ein großes Fenster, das sich nicht öffnen lässt, aber eine weite Aussicht in die Landschaft erlaubt. Ich muss an eine Kommandozentrale denken. Den Überblick behalten.
Als Annett Mitte der Neunzigerjahre als Lehramtsanwärterin ihr Vorstellungsgespräch im Bildungsministerium in S. hat, wird sie von den westdeutschen Beamten gefragt: »Als Sie studiert haben, wurde der Lehrstuhl für Anglistik in Dresden gerade erst aufgebaut, meinen Sie denn, dass Ihre ostdeutsche Ausbildung den Standards entspricht?« Die Frage haut sie damals um. An ihrer westdeutschen Schule ist sie die erste Ostdeutsche und sechsundzwanzig Jahre alt. Der Altersdurchschnitt bis dahin: über fünfzig, vorwiegend Männer und ausschließlich Westdeutsche.
Annett kauft sich damals ein Paar Doc Martens, findet das schick zu Kleidern. Vielleicht hat sie auch das Gefühl, auf sicherem Fuß stehen zu müssen, um sich zu behaupten. Einer ihrer Kollegen sagt zu ihr: »Ja, die Kollegen aus dem Osten kommen gleich mit den Springerstiefeln, das passt ja!« Heute fühlt sich Annett nicht mehr fremd hier. Ihre Kollegen aus dem Westen – mittlerweile sind sie alle mehr oder weniger so alt wie sie – denken ähnlich über die Welt. Die Wende ist dabei eine sehr abstrakte Angelegenheit. Manche von ihnen waren bis heute nicht im Osten, höchstens mal in Berlin. Und für Annett ist der Osten mittlerweile auch weit weggerückt.
»Die Bundesrepublik Deutschland ist meine Heimat, aber ich wüsste, ich könnte auch woanders leben. Die Erfahrung habe ich schon gemacht. Aber hier bin ich angekommen. Ich bin anerkannt und ich merke auch, dass etwas zurückkommt. Wir haben so viel in unserer Hand. Ich habe eine Aufgabe: dass ich den Schülern klarmachen muss, wir leben in keiner sicheren Welt, die ist nicht von alleine sicher. Aber ihr könnt es steuern. Umweltfragen gehören dazu, aber auch Bildung. Ich habe ein paar Flüchtlingskinder in der Klasse und erlebe die zielstrebiger als manch andere. Ich versuche, die zu unterstützen. Ich sehe mich da in der Verantwortung. Wenn der Kapitalismus keine Lösung ist, der Sozialismus ist es auch nicht.«
Annett hat nach anfänglichem Zögern einem Gespräch mit ihrem leiblichen Vater, Klaus-Dieter, zugestimmt. Klaus-Dieter wurde 1951 geboren. Seine Mutter war Weberin und Mitglied der SED, sein Vater arbeitete in drei Schichten in der Wismut, im Uran-Abbau. Klaus-Dieter wird zu Protokoll geben: »Ich brauchte kein Geld, um meinen Traum vom Studieren, Sportsegeln und Motorradfahren zu erfüllen.«
Das DDR-System wird in seiner Familie als sozial und gerecht empfunden. Schon während des Abiturs wird Klaus-Dieter Kandidat der SED und studiert anschließend Informationsverarbeitung. Nach dem Studium wird er im Ministerium für Staatssicherheit in der Abwehr Wirtschaftsspionage eingestellt. Für ihn eine schlüssige Entscheidung.
Annett steht vor dem großen Fenster und schaut auf die langsam dunkel werdende Landschaft. Welchen Einfluss hatte die berufliche Entwicklung ihres Vaters damals auf Annett? Ihre Eltern lernen sich auf der EOS kennen und trennen sich kurz nach dem Studium. Da ist Annett zwei Jahre alt. Ihr Vater zieht nach Berlin, ein Karriereschritt nach oben. Er leitet dort eine Hauptabteilung. Mit seiner zweiten Ehefrau hat er noch drei Kinder bekommen.
Annett hat trotzdem regelmäßig Kontakt mit ihm. »Ich habe ihn damals als in sich ruhenden, sehr selbstbewussten Mann erlebt. Er hat dem Staat DDR vertraut, an das System geglaubt, so wie ich auch. Und das erschien mir absolut glaubwürdig. Mängel wurden als etwas in naher Zukunft Abzustellendes benannt. Über seine und meiner Mutter Tätigkeit bei der Stasi habe ich nicht nachgedacht und es auch nicht hinterfragt. Du lernst, nicht weiter nachzubohren. Nach dem Mauerfall meine Mutter darauf anzusprechen, endete eigentlich immer in einer sehr emotionsgeladenen Situation, weil sie meinte, sie müsse sich jetzt rechtfertigen und verteidigen. Ich wollte sie irgendwann nicht mehr in diese Situation bringen. Die Wende hat beide ins Wanken gebracht. Dann stellst du solche Fragen nicht.«
Es ist dunkel geworden. Annetts Vater wird morgen aus einer Stadt im Osten anreisen und, sicher pünktlich um zehn Uhr, an ihrer Tür klingeln. Freut sie sich auf das Gespräch? Klaus-Dieter steht kurz vor der Pensionierung und hat sehr eigene politische Ansichten entwickelt, die Annett stark irritieren. »Von Verschwörungstheorien erzählt er mit einem gewissen Sendungsbewusstsein, Pegida und Putins Politik steht er wohlgesonnen gegenüber. In letzter Zeit denke ich immer öfter, dass unser Leben in der DDR und die Jahre danach doch viel mit unserem Leben heute zu tun haben. Dass es längst nicht so vergangen ist, wie es mir lange in meinem Alltag hier tief im Westen schien. Das ist ein starker Impuls für mich, dieses Gespräch mit ihm zu führen. Für mich liegt die Zeit in der DDR wie unter Glas. Ich schaue darauf, ich sehe mich auch, aber ich komme nicht ran.«
Es ist Morgen. Klaus-Dieter