Die anderen Leben. Sabine Michel
Gerd ergreift das Wort. Er beginnt mit der Zeit unmittelbar vor dem Mauerfall.
Ende der Achtzigerjahre arbeitet Gerd als technischer Leiter in der LPG Pflanzenproduktion, eine Tätigkeit, für die er sich fünf Jahre verpflichtet hat. Mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen zieht er zu seinen Eltern auf den Bauernhof, der erhalten bleiben soll, als die ihn nicht mehr bewirtschaften können. »Träume hatte ich keine, aber viele Wünsche«, erinnert er sich.
Die Familie ist gläubig und stark in der evangelischen Gemeinde aktiv. Wöchentlich trifft man sich zu Gesprächskreisen, initiiert von einem engagierten Pfarrer. Hauptthema sind die damaligen Zustände und der Wunsch, sie zu reformieren. Durch die Eingebundenheit in eine Gemeinde steht die Familie unter einem besonderen Schutz, aber gleichzeitig unter staatlicher Beobachtung. Man diskutiert in den Gesprächsrunden nicht über die Abschaffung der DDR. Gerd weiß genau, welche Dinge sich ändern müssen, in seiner Funktion versteht er sich oft mehr als »Ersatzteilbeschaffer«: Die Maschinen in der LPG verenden, da sie nicht repariert werden können. Es fehlt an allem. Die Böden der Felder verderben durch die Überdüngung mit Gülle und »ein Kuh-Bestand lässt sich nur halten, wenn auch ausreichend Futter zur Verfügung steht«. Stillstand. Es muss sich etwas ändern, aber wie?
Gerd ist ein gemütvoller Mensch. Wenn er redet, scheint er mit dem, was er sagt, im Reinen und die Dinge nicht mehr zu hinterfragen. Er wirkt tief verwurzelt in seiner Heimat, verbunden mit den Menschen, dem Land, dem Vieh, das es zu versorgen gilt. Er strahlt Kraft aus. Immer gibt es etwas zu tun, zu richten, voranzubringen.
Schon Gerds Vater, der auch in der LPG arbeitete, verzweifelte an der Planwirtschaft. Zu DDR-Zeiten war allgemein bekannt, dass nur Leute, die an anderer Stelle nicht zurechtkamen, in die Landwirtschaft gesteckt wurden. Und es wurde gestohlen, als gäbe es kein Morgen: Trecker weg, Hänger weg, Pferde weg, Kühe weg. 1961 gab es über Monate keine Kartoffeln zu kaufen.
»Was es nicht gab, wurde geklaut«, erinnert sich Gerd.
Das Land, das die Familie zusätzlich auf ihrem eigenen Bauernhof bewirtschaftet, um noch ein bisschen Geld dazuzuverdienen, wird immer weiter beschnitten und der LPG zugeteilt. »Trotzdem haben wir den Feierabend herbeigesehnt, um uns den anderen Arbeitsanzug anzuziehen.«
Gerds Eltern haben den Bauernhof 1950 von ihren Eltern übernommen. Mit der Gründung der LPG wird ihnen zwar nicht der Hof weggenommen, wie es bei den Großbauern durchgesetzt wird, aber »für das Gemeinwohl« werden sogenannte Kontingente festgelegt. Erträge, die alle Bauern abzugeben haben und die man im Laufe der Jahre immer weiter in die Höhe treibt.
Im Dorf entscheiden sich zehn Bauern, nicht in die LPG einzutreten, und erhalten die Erlaubnis, einen sogenannten »LPG Typ 1« zu gründen. Dafür wird jeder Hof mit zehn Hektar Land bewertet, so Gerds Erinnerung. Die Bauern dürfen insgesamt hundert Hektar bewirtschaften und darauf Kühe und Schweine halten, aber das Land gehört ihnen nicht mehr. Dieser LPG Typ 1 hat bis 1970 Bestand, bis man in der staatlichen Führungsriege, so Gerd, »feststellte, dass es uns, den Bauern, noch viel zu gut ging«. Ein Beschluss erfolgt, die Höfe in Groß-LPGs zu überführen. Man lässt die Kühe und Schweine von den Höfen holen, es kommt zu dramatischen Szenen. Gerd streicht sich über die Stirn. »Da wusste man nicht mehr, was man machen sollte.«
Erst Jahrzehnte später erfährt er, dass sich seine Eltern in der Zeit vor dem Mauerbau stark mit Fluchtplänen trugen. Die Eltern und Geschwister von Gerds Mutter leben in den Fünfzigerjahren bereits in Westdeutschland, sie will ihre Schwiegereltern zum Neuanfang überreden. Aber die endgültige Entscheidung überlässt sie ihnen. Die Familie überlegt und plant, die Koffer werden gepackt, aber dann soll noch eine Ernte eingebracht werden, im darauffolgenden Jahr kalbt eine Kuh und plötzlich ist es 1961 und die Mauer wird gebaut. Eine Nachricht, die die Familie schockiert und vor vollendete Tatsachen stellt: Dann bleiben wir hier.
Gerds Mutter lebt noch. Sie spielte im selbstbewussten Umgang der Familie mit dem Staat eine große Rolle. Besonders ihr Enkel Michael bewundert sie für ihren Mut, öffentlich ihre Meinung zu äußern. Als der Bürgermeister am 13. August 1961 plötzlich auf dem elterlichen Hof steht und den Mauerbau als »Errungenschaft der DDR und Schutzwall gegen den Kapitalismus« preist, pfeift sie ihm ordentlich die Meinung. Spricht von einer »ganz anderen Freiheit da drüben«, dem »Recht auf Eigentum«, und lässt den verdutzten Mann einfach stehen.
Doch oft reißt sie sich auch zusammen. In diesem Land lernt man, besser den Mund zu halten.
Gerd sagt, dass er mit der Idee des sozialistischen Staates nicht viel anfangen konnte. Er war kein Mitglied der SED, obwohl er in seinen Funktionen immer wieder stark umworben wurde. Wenn man ihn fragt, ob er seine Meinung ändern würde, antwortet er: »Meine Kinder sind getauft und wir gehen in die Kirche!« Nach dieser Antwort lässt man ihn meistens in Ruhe.
Michael erinnert sich, dass er aufgrund der Haltung seiner Eltern mit einer gewissen Distanz zum Staat aufwächst. Ein Großteil der Verwandtschaft lebt im Westen, die Verwandten kommen regelmäßig zu Besuch und schreiben Briefe. »Da konnte man uns nicht mehr erzählen, wie toll der Sozialismus funktioniert, wir kannten die Gegenseite. Deswegen haben wir uns wie in einem Spannungsfeld bewegt.«
Michael wird 1978 geboren. Schon als kleiner Junge arbeitet er mit, wenn Land und Tiere zu versorgen sind. Ein Jahresplan, bei dem die Saat- und Erntezeiten die Struktur vorgeben: im Frühjahr Rüben sähen, im Oktober ernten, die Hühner und Enten versorgen, den Mais häckseln, Kartoffeln stoppeln, zwischendurch die Bullen füttern. Das Ausmisten der Bullen gilt als zu gefährlich, das darf nur der Opa. Im November werden die Schweine geschlachtet, ein Erlebnis für die Kinder.
Das Leben der Familie ist geprägt vom Zusammenhalt der Gemeinde. Und so lassen sich ihre Biografien nicht trennen von den Herausforderungen, vor denen die Gemeinde immer wieder steht. Gerd erinnert sich an eine absurde Geschichte, deren Dramatik heute kaum noch nachzuvollziehen ist.
Schon 1957 gerät der Pfarrer der Gemeinde durch »antisozialistische Aktivitäten« ins Visier der Staatsicherheit und man sucht nach Anlässen, ihn loszuwerden. Er wird von verschiedenen IMs aufgesucht, die ihn zu »antisozialistischen Aktionen« provozieren sollen. So halten sie einmal dem Pfarrer zwei Schachteln Zigaretten vor die Nase, eine westdeutsche und eine ostdeutsche Marke. »HB oder Casino?«, fragen sie ihn frech. Der Pfarrer denkt sich nichts dabei und greift zu HB, der westdeutschen Marke. Das wird zum Anlass genommen, ihm zu unterstellen, er würde »öffentlich« behaupten, die DDR-Qualität würde nicht der westdeutschen entsprechen. Ihm wird befohlen, innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Dorf zu verlassen. Die Kirchenleitung wird informiert und weiß Rat: Da das Pfarrhaus zum Hoheitsgebiet der Kirche gehört, soll der Pfarrer im Haus bleiben, bis eine Lösung gefunden wird.
Gerd und seine Freunde wissen nichts von dem Vorfall. Doch in der Gemeinde haben sie ein Zeichen vereinbart: Sollte sich, während die Landwirte draußen auf den Feldern arbeiten, im Dorf etwas Ungewöhnliches ereignen, würde jemand als Signal die Glocke läuten. An besagtem Tag ruft der Bürgermeister des Dorfes zu einer Veranstaltung in der Gaststätte auf, bei der öffentlich bekannt gegeben werden soll, warum der Pastor die Gemeinde zu verlassen hat. Kampfgruppen stehen einsatzbereit vor der Gaststätte und warten auf ihren Einsatz.
Als die Kirchenglocke läutet, eilen Gerd und seine Freunde ins Dorf und stellen sich vor den Pastor. Die Staatssicherheit entscheidet, dass ein Abführen des Pastors zu diesem Zeitpunkt für zu viel Aufsehen sorgen würde, und ruft die Kampfgruppen zurück. Der Pastor darf bleiben.
Gerd sagt, er kam mit der DDR nicht zurecht, »aber dass nun alles schlecht war, kann ich auch nicht sagen. Unfrei habe ich nur die Grenze empfunden.«
1989 bricht für die Familie eine besondere Zeit an. Freunde aus Leipzig berichten von den ersten Montagsdemonstrationen und den Vorkehrungen der Polizei für den Ernstfall: Ganze Turnhallen werden wie Lazarette ausgestattet. Gerd trifft in den kirchlichen Gesprächsrunden auf Menschen unterschiedlichster Kreise, die untereinander vernetzt sind. Sie berichten aus den Großstädten, darüber, wie sich dort Menschen in den Kirchen versammeln und friedlich für den Wandel beten.
Die Staatssicherheit observiert die Gemeindegruppe im Dorf. Die Zusammenkünfte finden nicht geheim statt und so schickt