Die anderen Leben. Sabine Michel
seine Freunde sind überfordert. Worüber reden wir jetzt? Das ist eine offensichtliche Bedrohung.
Der Pfarrer hat die zündende Idee: Wir gehen in die Kirche und singen Lieder! Und so stehen sie zu fünft in der ersten Reihe vor dem Altar und singen Jesus und Halleluja. Vor der Kirche haben sich inzwischen Kampfgruppen postiert und lassen keine weiteren Gemeindemitglieder hinein. Alle Zufahrtswege ins Dorf werden blockiert, die Leute drehen vor Angst wieder um. Eine aufgeladene Stimmung.
Was Gerd nicht weiß, ist, dass er an diesem Abend inhaftiert werden soll. Davon liest er später in seiner Stasi-Akte. Die Versammlung löst sich irgendwann friedlich auf; auf dem Weg nach Hause wird Gerd noch mehrmals von Polizisten angehalten und gefragt, was er am Abend »gemacht« hat. Erst spät erreicht er den Hof.
Michael ist zu klein, um an den Gesprächskreisen der Gemeinde teilzunehmen, aber er kann sich an die ersten Demonstrationen in der Kreisstadt erinnern, an denen er im Alter von elf Jahren mit seiner Familie teilnimmt und wo er seinen Vater in der Kirche Reden halten sieht. Ihm ist die Dimension dessen, was vor sich geht, nicht bewusst. In seiner Erinnerung bleiben die aufgeregte Stimmung und ein Protestplakat, das Honecker im Sträflingsanzug zeigt, und Demonstranten, die rufen: »Honecker in die Produktion!«
»Der sollte auch an die verlängerte Werkbank und mal sehen, was hier unten los ist. Wie sollst du denn einen Bagger reparieren, wenn es keine Batterien gibt, keine Ersatzteile?«, sagt Michael, als wäre er damals selbst davon betroffen gewesen.
Die unmittelbare Umbruchszeit 1989 und die Rede in der Kirche sind zu Gerds Verwunderung fast vollständig aus seiner Stasi-Akte verschwunden. »Ich hatte ja nichts Schlimmes getan, ich hatte meine Pflichten erfüllt, aber hatte nun zu diesen Pflichten eine andere Sicht.« Damals erhält er von einem Bekannten aus dem Kreisbetrieb für Landtechnik einen Hinweis, den Mund zu halten und seine Vorhaben erst einmal ruhen zu lassen. »In dem Moment wusste ich: Ich stehe auf einer Liste!« Gerd hält sich für eine Weile zurück und die Gefahr geht vorüber, er wird nicht inhaftiert.
Im Jahr der Wiedervereinigung befindet sich auch die LPG, bei der Gerd arbeitet, in Auflösung und die Familie erfährt, dass sie ihr Land zurückerhalten wird. Die LPG soll abgewickelt werden. Gerd fühlt sich für den Betrieb zuständig – soll er dagegen vorgehen? In dieser Phase spricht ein Bekannter ihn an und sagt: »Was machst du dir so ’n Kopp? Übernimm du doch die Kohlenlieferung, den Brennstoffhandel!«
Gerd nennt es im Nachhinein »Gottes Fügung«, dass genau dieser Bekannte zu dieser Zeit mit dieser Frage auf ihn zukommt. Kurzerhand legt er ein Datum fest: Am 1. Juli 1990 mache ich mich selbstständig. »Ich war vollkommen blauäugig«, sagt er. »Wir wussten ja nicht einmal, dass die D-Mark kommen würde … Wir haben alle viel Lehrgeld bezahlt in dieser Zeit.«
Denn das Problem ist nicht die praktische Arbeit oder der Wille, diese in die Tat umzusetzen: Es geht um Buchführung, Rechnungswesen, Anträge, Steuern. »Wer hatte zu DDR-Zeiten schon eine Gewinn- und Verlustrechnung? Es gab einen Plan und alle haben den Plan erfüllt. Jetzt war alles anders.«
Michael und sein vier Jahre älterer Bruder Jens helfen beim Aufbau des Brennstoffhandels kräftig mit. Fast jedes Wochenende renovieren sie und richten die Lagerstätten her. Oder es muss schon Ware ausgefahren werden.
Michael sieht Gerd in die Augen. »Die Arbeit begann nie erst um sieben Uhr und hörte auch nicht um sechzehn Uhr auf. So sind wir immer schon an die Arbeit und ein Stück weit auch an die Selbstständigkeit herangeführt worden.« Seine Mitschüler berichten von ihren ersten Urlauben in der Türkei oder Spanien, aber das Los des Unternehmertums lässt lange Abwesenheiten nicht zu. So machen Michael und Jens meist Urlaub bei der Westverwandtschaft, viele von ihnen kinderlos und gern bereit, sie aufzunehmen.
Michael fühlt sich trotz der umwälzenden Ereignisse in dieser Zeit nicht allein. Der engagierte Pastor ist den Kindern und Jugendlichen eine Stütze. Michael spielt Trompete in einer Bläserkapelle, sie fahren zu Kirchenfreizeiten und schließen Freundschaften, die oft bis heute Bestand haben.
Das mobile Bürotelefon, das auf dem Tisch liegt, klingelt laut. Michael nimmt ab, eine Lieferung. Er zieht entschuldigend die Schultern hoch, nickt uns zu und entfernt sich, um zu telefonieren.
Gerd erzählt einfach weiter. Berichtet, wie er seinem älteren Sohn Jens nach dem Abitur nahelegt, in den elterlichen Betrieb einzusteigen, »am besten als Buchhalter, der etwas von Wirtschaftsführung versteht«. Jens nimmt die Aufgabe an und zieht für eine Ausbildung zum Industriekaufmann nach Lüneburg. Aber die Arbeit ist ihm zu langweilig. Ohne seinen Eltern Bescheid zu geben, schmeißt er die Ausbildung hin, packt seine Sachen und zieht nach Berlin. Dort arbeiten schon Freunde auf der Großbaustelle am Potsdamer Platz. Er beginnt, Bauwesen zu studieren, und stellt seine Eltern vor vollendete Tatsachen.
Michael kommt zurück und fragt, worüber wir gerade gesprochen haben. Er berichtet, dass er nach dem Abitur eine Lehre als Heizungsbauer begonnen hat und heute froh ist, sich so früh für eine Ausbildung entschieden zu haben. Praxis ist für ihn besonders wichtig: »Heute bilden sie die Leute aus bis zum Gehtnichtmehr, Studium, Master, aber in der Praxis sind sie nicht zu gebrauchen.« Im Ausbildungsbetrieb lernt er die Seite der Arbeitnehmer kennen: Wie denken und reden seine Kollegen, wenn der Chef da ist – und wie reden sie, wenn er ihnen den Rücken zukehrt? Noch während seiner Ausbildung beginnt er ein Studium für Versorgungstechnik. Nach der anstrengenden Doppelbelastung will er erst einmal das Leben genießen. Er zieht nach Oxford in England, arbeitet dort in einem Pub an der Bar und genießt das unabhängige Leben. Nach einem Jahr hat er genug gefeiert und geht nach München, wo er eine Arbeit als technischer Objektleiter findet. Und dort lernt er seine zukünftige Frau kennen. Michael und seine Frau heiraten in der Prignitz, das erste Kind kündigt sich an.
Gerd erleidet in der Zeit mehrere Schlaganfälle. Die Familie berät, wie es weitergehen kann, denn allen ist klar: Der Vater kann den Betrieb nicht mehr mit voller Kraft führen. Michael ringt mit sich, doch schließlich überzeugt er seine aus Westdeutschland stammende Frau, einen Neuanfang zu wagen und mit ihm aufs Dorf in die Heimat zu ziehen.
Ein Schritt, der seine Freunde und seine Familie mehr als überrascht. Niemand hat damit gerechnet, dass Michael einmal in die Prignitz zurückkehren würde. »Ich habe immer gedacht, du bist weg, du kommst doch nie wieder zurück.« Gerd zieht die Schultern hoch. »Und jetzt sitzen wir hier zusammen auf unserem Lieblingsplatz, wo wir schon früher gern gesessen haben, und trinken Kaffee.«
Zunächst arbeitet Michael an der Seite seines Vaters, bis er mit zweiunddreißig den Betrieb übernimmt. Auch wenn die ersten Jahre schwer gewesen sind, ist in Michael eine neue Verbindung zu seiner Heimat gewachsen. Inzwischen ist seine Tochter fast zehn und sein Sohn fünf Jahre alt, drei Generationen leben nebeneinander, miteinander und arbeiten zusammen: Michaels Mutter und seine Frau helfen im Betrieb mit, »sonst würde das alles gar nicht gehen«. Durch die Nähe sehen die Großeltern die Enkelkinder aufwachsen, worüber sie sehr glücklich sind.
All dies gibt Michael die Kraft, die er braucht, um mit dem wachsenden Marktdruck mitzuhalten, der auch für die mittelständischen Prignitzer Unternehmen zu spüren ist. »Das ist die Gefahr in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem: Jedes Jahr muss Gewinn erwirtschaftet werden, immer mit einer Steigerung«, das hat Gerd gelernt.
Was Michael und seine Angestellten im Monat verdienen, ist hart erarbeitet. Doch für Michael als Unternehmer wird es zunehmend schwieriger. Jeden Monat zahlt er Abgaben, trägt die Verantwortung für das ganze Unternehmen. Es fehlt an ausgebildetem Fachpersonal, und diejenigen, die er einstellt, »wollen viel verdienen und immer weniger leisten«. »Aber«, sagt er, »uns fragt niemand, ob wir nach siebzig, achtzig Stunden mal Freizeit haben oder nicht.«
Michael hält die Veränderungen der letzten dreißig Jahre für eine große Errungenschaft, glaubt, die Dritte Generation Ost habe unglaublich davon profitiert. Doch wie auch vor dreißig Jahren gibt es noch und wieder die Diskrepanz zwischen Stadt und Land. Wie sieht die Berliner Politik aus der Prignitzer Perspektive aus? Michael und Gerd können nicht mehr erkennen, wer dort die gesellschaftliche Mitte vertritt, der sie sich mit ihrem Betrieb zugehörig fühlen.
»Du wählst alle vier Jahre, inzwischen haben aber viele das Gefühl, es ändert sich