Chefarzt Dr. Norden Box 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Inhalt
»Das hätte nicht passieren dürfen, es tut mir leid.« Wasser spritzte in das Chromwaschbecken. Dr. Daniel Norden stellte den Wasserhahn ab. Benjamin Gruber stand in der Tür zum Operationsbereich. Er hatte die Hände in die Kitteltaschen gesteckt und wagte es kaum, den Rücken seines Chefs Dr. Norden anzusehen.
Daniel trocknete sich die Hände ab. Er warf das sonnengelbe Handtuch in den Wäscheeimer in der Ecke. Dann drehte er sich zu dem jungen Assistenzarzt um.
»Neulich haben Sie die Operationsassistenz auch dem Kollegen überlassen. Was ist eigentlich los mit Ihnen? Sie sind doch kein blutiger Anfänger mehr.«
Benjamin wusste genau, was los war mit ihm. Sagen wollte er es trotzdem nicht. Nicht, bevor er herausgefunden hatte, welche Ursache seine Beschwerden hatten. Er zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung.«
Daniel drückte auf den Spender mit der Handcreme. Sensitiv und entzündungshemmend. Mit dem frischen Duft nach Aloe Vera. Er verrieb die Creme auf der schrumpeligen Haut. Der allerschönste Moment – abgesehen vom erfolgreichen Verlauf eines Eingriffs – war das Gefühl frischer Luft auf den verschwitzten Händen. Der zweitschönste war die Creme. Wenigstens ein bisschen Trost in diesen schweren Zeiten.
»Also gut. Das ist Ihre Sache. Aber wenn es Ihnen jetzt wieder gut geht, können Sie sich am Operationsbericht versuchen. Die Kollegin Lektutat muss sich um die Patientin kümmern.«
»Natürlich. Ich erledige das. Sie werden keinen Grund zum Klagen haben.« Wie angewurzelt stand Benjamin immer noch in der Tür. Er dachte auch noch nicht daran zu gehen, als Daniel Norden an ihm vorbei den Operationsbereich verließ.
»Wirklich alles in Ordnung?«
»Ja, ja. Ich bin schon auf dem Weg.«
Daniel wartete darauf, dass ihm der junge Arzt folgte. Am Ende des Gangs trennten sich ihre Wege. »Bitte legen Sie mir den Bericht vor«, bat der Klinikchef noch. Erst dann ging er kopfschüttelnd davon.
Nur ein paar Schritte weiter hatte er Benjamin Gruber vergessen. Kein Wunder, gab es doch genug andere Dinge, über die er sich Sorgen machen musste. Zum Beispiel seine Frau Felicitas.
Nach einem Herzinfarkt und einer Kopfverletzung wusste sie nicht mehr, wer Freund und Feind war und glaubte ausgerechnet ihrem ärgsten Konkurrenten Volker Lammers. Seit Jahren trachtete er nach ihrem Posten. Diesmal standen die Zeichen wirklich günstig. Wenn Felicitas nicht bald ihre Erinnerung wiederfand, konnte Daniel Norden nichts mehr für seine Frau tun. Volker Lammers wäre am Ziel seiner Wünsche angelangt. Das war die eine Seite der Geschichte. Schlimm genug. Doch was aus seiner Ehe werden sollte, wenn Fee nicht wieder gesund wurde, darüber wollte Daniel gar nicht erst nachdenken.
Besser, sich auf den nächsten Patienten zu konzentrieren. Er besorgte sich die Akte aus dem Schwesternzimmer. Ein Auge auf den Flur gerichtet, überflog er die Informationen, die ein Kollege gesammelt hatte.
Tobias Lichte, 29 Jahre alt, am Vorabend eingeliefert. In den vergangenen Jahren litt er immer wieder unter stechenden Schmerzen im rechten Abdomen, die in den Rücken ausstrahlten. Er war fieberfrei, der Bauch weich und ohne tastbare Raumforderung, mit leichter Druckempfindlichkeit im rechten unteren Quadranten. Wegen des wiederholten Auftretens der Symptome war ein kontrastmittelverstärktes Computertomogramm angefertigt worden. Dabei hatte sich ein vergrößerter Blinddarm als Übeltäter gezeigt.
Daniel Norden klappte die Akte zu, klopfte und betrat das Zimmer.
Der junge Mann wartete im Bett auf den Besuch des Arztes und vertrieb sich die Zeit mit seinem Handy.
Dr. Norden kannte die Melodie des Computerspiels. Sein jüngster Sohn Janni spielte das Autorennspiel selbst. Einmal hatte er sich herabgelassen, seinem Vater die Strecken zu zeigen. Er hatte ihm erklärt, wie man mit den PS-starken Autos mächtige Sprünge machte, Überschläge hinlegen und sich in Wettbewerben mit anderen Spielern messen konnte. Seitdem hatte er seinem Vater kein Spiel mehr erklärt.
»Das Spiel kenne ich«, begrüßte Daniel Norden den jungen Mann und warf einen Blick über seine Schulter auf den kleinen Bildschirm. »Magic Cars.«
»Ich bin schon ganz schön weit.« Tobias Lichte starrte auf das Display, lenkte seinen Wagen mit angehaltenem Atem über den anspruchsvollen Parcours. Eine scharfe Kurve bereitete dem Vergnügen ein Ende. »Mist. Schon wieder rausgeflogen.«
»Sie hätten weiter ausholen müssen«, erklärte Daniel. »Darf ich mal?«
»Natürlich. Gern.« Sichtlich amüsiert reichte Tobi sein Mobiltelefon an den Klinikchef weiter.
»Dann wollen wir mal sehen.« Daniel startete das Spiel. Zehn Sekunden später war der Spaß auch schon wieder vorbei. »Es hat einen Grund, warum mein Sohn mir keine Spiele mehr zeigt.« Schmunzelnd gab Daniel das Gerät zurück. »Wie heißt es so schön: Schuster, bleib bei deinen Leisten.«
»Wenn Sie meinen Blinddarm genauso schnell entfernen, wie Sie das Auto an die Wand gesetzt haben, sind Sie mein Mann«, erwiderte Tobias.
Sein Lachen klang nicht echt.
*
Nach und nach erinnerte sich Felicitas. Wenigstens an gestern. Sie wachte auf und wusste: Sie lag in der Behnisch-Klinik, weil sie einen Herzinfarkt gehabt hatte. Infolgedessen war sie gestürzt.
Eine schwere Gehirnerschütterung, möglicherweise in Kombination mit der Herzattacke, war dafür verantwortlich, dass sie sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern konnte. Sie litt unter einer ausgeprägten retrograden Amnesie. Die jungen Menschen, die sie besuchten, waren ihre Kinder. Der Mann, der nicht mehr versuchte, sie zu küssen, ihr Ehemann Daniel. Er machte gemeinsame Sache mit einem Victor Lammers. Oder hieß er Volker? Egal. Jedenfalls hatte dieser Lammers ihr gesagt, dass Daniel schon eine neue Stelle in der Klinik für sie suchte. Eine, der sie in Zukunft gerecht werden konnte. Denn dass sie nicht mehr in der Lage sei, die Pädiatrie zu führen, sei ja wohl sonnenklar. Diesem Dr. Daniel Norden konnte sie also nicht mehr trauen. Aber auch bei Lammers hatte sie ein schlechtes Gefühl.
Felicitas saß am Tisch am Fenster ihres Krankenzimmers und fuhr sich über die Augen. Wenn sie sich nur erinnern könnte … Doch so sehr sie sich auch abmühte, die Türen in ihrem Kopf blieben verschlossen.
Es klopfte, und Fee drehte sich erleichtert um. Endlich musste das Gedankenkarussell einen Stopp einlegen.
»Frau Schramm!«
Sie erkannte die Psychologin, eine hagere Frau Anfang Vierzig mit einem Gesicht wie ein grob behauener Holzklotz.
Gerda Schramm reichte ihrer Patientin eine kühle Hand mit rauer Haut.
Wie Baumrinde, wusste Fee, noch bevor sie sie nahm und drückte. Wenn sie sich doch auch an den Rest ihres Lebens so gut erinnern könnte!
»Sie erinnern sich an mich! Das ist ein gutes Zeichen.«
»Ich erinnere mich an alles nach dem Unfall. Aber was ist mit dem Davor?«
Die Psychologin setzte sich und schlug ein Bein über das andere. Felicitas befürchtete, die Beine könnten bei dieser waghalsigen Bewegung abbrechen.