Spannungsfelder der Krisenintervention. Claudius Stein

Spannungsfelder der Krisenintervention - Claudius Stein


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und über welche Bewältigungskompetenz er somit verfügen kann (»secondary appraisal«). Beides zusammen bestimmt dann darüber, ob durch ein momentanes Ungleichgewicht zwischen Belastung und Bewältigungsmöglichkeit Überforderung und unkontrollierbarer Stress entstehen und sich eine Krise entwickelt.

      Wieso der Betroffene die Situation aber kognitiv genau so und nicht anders begreift, ist oft nur aus seiner Persönlichkeits- und Lebensentwicklung und der sich daraus ergebenden Psychodynamik nachvollziehbar und verstehbar. Diese wird noch durch eine ganze Reihe von zusätzlichen Faktoren beeinflusst. Dazu gehören die Bindungserfahrungen, die mit den wichtigsten Bezugspersonen in der Kindheit gemacht wurden, die aktuellen Lebensumstände, das Lebensalter, die Vulnerabilität durch psychische oder körperliche Krankheit (image Kap. 2.2.3) und die Lebenseinstellung im Allgemeinen (image Kap. 2.6). So wird in aller Regel der Verlust eines Elternteils in der Kindheit eine vollkommen andere Bedeutung haben als in einem späteren Lebensalter und folglich wird mit der eventuell entstehenden Krise auch sehr unterschiedlich umgegangen.

      Fallbeispiel Anita

      Für Anita stellt vor allen Dingen der Vertrauensbruch ihres Mannes, der ihr nichts von seinen Schwierigkeiten erzählt hatte, eine große Kränkung dar. Sein Verhalten ist ihr umso unverständlicher, da sie bisher immer sehr vertrauensvoll miteinander umgegangen waren und Ehrlichkeit und Offenheit auch in ihrer Herkunftsfamilie einen hohen Stellenwert haben. Sie fühlt sich von ihm im Stich gelassen und empfindet tiefe Verlassenheit. Dieses subjektive Erleben spiegelt nur teilweise die äußere Realität wider, denn sie erhält von ihrer Familie und ihren Freunden sehr viel Unterstützung. Vielmehr hängt diese spezifische Art der Verarbeitung auch damit zusammen, dass sie sich für die Situation als Ganzes außerordentlich schämt, insbesondere auch dafür, dass sie die Anzeichen der sich anbahnenden Katastrophe nicht wahrgenommen hat.

      Frühere unbewältigte Krisen haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf, welche Bedeutung Betroffene einer neuerlichen Krise geben und können dadurch die aktuellen Bewältigungsprozesse erheblich beeinträchtigen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die neue Belastung mit einer ähnlichen Thematik zu tun hat wie die frühere Krise. Die Erfahrung, an der Lösung eines Problems bereits einmal gescheitert zu sein, stellt ein ernstes Hindernis für eine konstruktive Herangehensweise dar. Es kommt unter Umständen zur Aktivierung ungünstiger dysfunktionaler Grundmuster, die sich in der damaligen Situation entwickelt und verfestigt haben.

      Fallbeispiel Luise (image Kap. 2.1)

      Die Krise, die durch den Auszug der Tochter ausgelöst wird, aktiviert Erinnerungen und Gefühle, die mit dem frühen Verlust der Mutter zu tun haben. Erschwerend kommt hinzu, dass Luise damals im selben Alter wie die Tochter jetzt war. Diese Umstände stellen eine zusätzliche Erklärung dafür dar, warum die Reaktion auf die aktuelle Krise derart heftig ausfällt.

      Ebenso problematisch ist die rasche zeitliche Aufeinanderfolge mehrerer Belastungen. Hat der Betroffene eine aktuelle Krise noch nicht abgeschlossen und folgt ein weiterer Schicksalsschlag, kann ein gerade mühsam hergestelltes Gleichgewicht rasch wieder verloren gehen.

      2.2.4 Die Reaktion der Umwelt

      Beziehungen als Ressource in der Krise

      Ein tragfähiges soziales Netz wirkt sich üblicherweise äußerst positiv auf die Bewältigung einer Krise aus. Unterstützung durch Freunde und Angehörige trägt dazu bei, dass viele Krisen ganz ohne professionelle Hilfe gelöst werden können. Auch das zentrale Element professioneller Krisenintervention ist die Herstellung einer haltgebenden Beziehung (image Kap. 5.3.1).

      Von einer Krise Betroffene sind aber nicht immer in der Lage, sich Unterstützung zu organisieren, bzw. diese entsprechend zu nutzen. Ein wesentlicher Faktor dafür sind die frühen Bindungserfahrungen eines Individuums. Konnte sich der Mensch in der Kindheit Schutz und Halt gebender Beziehungen sicher sein und sich in schwierigen Situation auf die Hilfe seiner wichtigsten Bezugspersonen verlassen, wird er auch im späteren Leben das Vertrauen haben, dass Probleme oft gemeinsam besser gelöst werden können. Haben ihn die Eltern gleichzeitig darin unterstützt, sich in einem für das jeweilige Alter adäquaten Ausmaß Problemen zu stellen und eigene Bewältigungsstrategien zu entwickeln, trägt dies auch später dazu bei, neue Lebenssituationen nicht als Bedrohung sondern als zum Leben gehörige Herausforderungen zu verstehen. So kann sich auch die Metaressource der Selbstwirksamkeit herausbilden (image Kap. 2.3 und image Kap. 2.6). Menschen, die derartige Erfahrungen von Gehaltenwerden und Sicherheit nicht gemacht haben, entwickeln oft ein Grundgefühl, dass sie ganz auf sich selbst gestellt sind und daher Probleme in jedem Fall allein lösen müssen. Sie erleben Beziehungen grundsätzlich als unzuverlässig. Eine zu protektive Haltung der Eltern wiederum behindert die Autonomieentwicklung, verhindert wichtige Lernerfahrungen und begünstigt später unter Umständen eine passiv-vermeidende Herangehensweise an Krisensituationen.

      Fallbeispiel Anita

      Anita erhält durch ihr Umfeld sehr viel Unterstützung. Anfänglich hat sie allerdings aufgrund ihrer Scham Schwierigkeiten, diese Hilfe anzunehmen. Ihre Kindheit war sehr behütet und die Beziehung zu ihren Eltern ist sehr gut. Sie borgen ihr Geld, damit sie die Kreditraten abdecken kann, und kümmern sich rührend um Anitas Sohn. Freundinnen betreuen den Jungen an jenen Nachmittagen, an denen bisher der Vater auf ihn aufgepasst hat. Luise kann sogar das Angebot ihres Chefs annehmen, mehr Stunden zu arbeiten, wodurch sich ihre finanzielle Situation etwas entspannt. Sehr kränkend ist, dass die Familie ihres Mannes sich distanziert, worunter auch er sehr leidet. Naturgemäß sind auch die Erfahrungen mit der Polizei unerfreulich. Die Beamten wollen ihr zunächst nicht glauben, dass sie nichts von den Problemen des Mannes wusste. Dies intensiviert ihre Schuldgefühle.

      Verstrickungen des sozialen Umfelds in das Krisengeschehen

      Häufig kommt es aber auch vor, dass die wesentlichen Bezugspersonen zu sehr in das Krisengeschehen verstrickt sind oder sich überfordert fühlen. Sie tragen dann eher zur Verschärfung der Situation bei. In solchen Situationen sollte der Krisenhelfer die Distanznahme fördern und gemeinsam mit den Betroffenen entsprechende entlastende Maßnahmen für alle Beteiligten erarbeiten.

      Das soziale Umfeld als Auslöser einer Krise

      Schließlich kann es vorkommen, dass Menschen durch ihre Handlungen gewollt oder ungewollt krisenauslösend für ihre Mitmenschen wirken. Im privaten Umfeld ist dies naturgemäß im Zuge von Trennungen der Fall. Im professionellen Kontext können z. B. die Mitteilung einer Krankheitsdiagnose durch einen behandelnden Arzt oder die Abnahme eines Kindes durch das Jugendamt Krisen auslösen. Krisenintervention durch eine an der Krisenentstehung mitbeteiligte Person ist meist sehr kompliziert, da die Herstellung einer vertrauensvollen Beziehung durch die Umstände erheblich erschwert wird. Es ist dann meist sinnvoller, eine klare Rollentrennung vorzunehmen und andere Berater zur Krisenhilfe beizuziehen.

      2.2.5


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