Dr. Daniel Staffel 10 – Arztroman. Marie Francoise
und endlich war auch Mona am Ziel. Es ging bereits auf sieben Uhr abends, aber für ihre Verhältnisse würde sie heute sogar früh heimkommen. Sie blickte an der Fassade des Hauses empor, in dessen geräumigem Dachgeschoß sie und Dirk eine gemeinsame Wohnung hatten. Vor einem Jahr hatten sie sich verlobt und waren dann hier zusammengezogen. »Unser kleines Nest«, nannten sie die Wohnung, die früher einem Maler gehört hatte. Das, was einmal sein Atelier gewesen war, war jetzt das Schlafzimmer von Mona und Dirk… ein ganz außergewöhnlicher Raum, dessen Dachschräge fast vollständig von einem großen Fenster ausgefüllt war. Hier hatten Mona und Dirk die romantischsten Stunden verbracht, denn in sternklaren Nächten hatte man in diesem Zimmer das Gefühl, als würde man direkt im Himmel sein.
So schnell es die schweren Taschen erlaubten, stieg Mona die Treppe hinauf, dann drehte sie den Schlüssel im Schloß herum und betrat die gemütliche Wohnung. Während sie die Taschen abstellte, hatte sie das Gefühl, als würde aus dem Schlafzimmer gedämpfte Musik ertönen.
Erstaunt runzelte Mona die Stirn und ging auf die Tür zu. Ein Zweifel war ausgeschlossen. Der CD-Player lief, was an sich nicht außergewöhnlich gewesen wäre, wenn es nicht ausgerechnet die CD mit ihren gemeinsamen Lieblingsliedern gewesen wäre. Diese »Kuschel-CD«, wie sie sie nannten, hörte sich Dirk normalerweise nicht allein an.
Jetzt stand Mona vor der Tür und hörte die eigenartigen Geräusche, die aus dem Schlafzimmer drangen. Ein unangenehmes Gefühl ergriff sie, als sie die Klinke herunterdrückte und die Tür öffnete. Im nächsten Moment blickten ihr zwei Augenpaare erschrocken entgegen, doch auch Mona brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß Dirk mit ihrer Freundin Vera im Bett lag.
»Du bist schon… hier?« brachte Dirk mühsam hervor und wollte sich erheben, überlegte es sich dann aber anders. Unbekleidet wie er war, wollte er sich nicht vor Mona hinstellen… nicht unter diesen für ihn doch äußerst ungünstigen Umständen.
Währenddessen machte Vera den Eindruck, als wolle sie sich unter den Bettlaken verkriechen. Man merkte ihr an, wie peinlich ihr diese Situation war.
»Ich komme wohl ungelegen«, meinte Mona und wunderte sich, wie sie angesichts dieses Betrugs, den ihr Verlobter und ihre beste Freundin an ihr begangen hatten, überhaupt so ruhig bleiben konnte.
Dirk begann hilflos zu stottern: »Es ist nicht das, wonach es aussieht… das heißt… es ist schon, wonach es aussieht, aber ich kann’s erklären… besser gesagt, erklären kann ich es eigentlich auch nicht… es tut mir leid, Mona…«
»Dreckskerl!« zischte Mona, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ die Wohnung.
Mit einem Handtuch, das er sich eiligst um die Hüften geschlungen hatte, lief Dirk ihr hinterher. »Mona! Komm zurück! Bitte! Laß uns darüber reden! Bitte, Mona…«
Sie drehte sich um, ging auf ihn zu und verpaßte ihm eine gesalzene Ohrfeige.
»Es tut mir wirklich leid, Mona«, stammelte er. »Es war auch nur dieses eine Mal, und… es war ganz bedeutungslos…«
»Du Schuft!« erklang hinter ihm Veras aufgebrachte Stimme. »Zu mir hast du gesagt…«
Dirk fuhr herum. »Sei ruhig!«
Doch Mona hatte schon begriffen. Angewidert schaute sie ihn an. »Dafür hättest du eigentlich eine zweite Ohrfeige verdient, aber du bist es ja gar nicht wert, daß man sich an dir die Hände schmutzig macht.«
Damit ging sie endgültig. Sie hörte noch, wie Dirk und Vera zu streiten begannen und fragte sich, warum sie Dirks Seitensprünge nicht früher bereits bemerkt hatte. Offensichtlich ging das mit ihm und Vera ja schon länger.
Unschlüssig blieb Mona stehen. Wohin sollte sie sich jetzt wenden? In ihre Wohnung wollte sie nicht zurück. Das Allerletzte, worauf sie im Augenblick nämlich Lust hätte, wäre eine Diskussion mit Dirk, die ohnehin nichts fruchten würde. Schließlich konnte er seine Affäre mit Vera nicht ungeschehen machen und vielleicht wollte er das ja auch gar nicht.
»In solchen Situationen vertraut man sich eigentlich seiner besten Freundin an«, murmelte Mona niedergeschlagen. »Aber wenn diese Freundin gleichzeitig zur ärgsten Rivalin wird… was tut man dann?«
Langsam ging sie weiter… ohne Ziel, einfach nur geradeaus. Noch immer trug sie die elegante Kombination, mit der sie ihre neue Stellung als Managerin angetreten hatte. Auch ihre Handtasche hatte sie dabei, nur die feinen Köstlichkeiten und den Champagner hatte sie in der Wohnung zurückgelassen, aber was hätte sie damit jetzt auch anfangen sollen? Sollten Dirk und Vera das Zeug doch essen. Ihr – Mona – hätte es nach dem eben Erlebten ohnehin nicht mehr geschmeckt.
»Hoffentlich wird ihnen schlecht darauf«, stieß Mona bitter hervor.
Sie ging wieder zur U-Bahn hinunter. Eigentlich hätte sie das Auto mitnehmen sollen, aber so weit hatte sie im Moment gar nicht gedacht. Sie war es auch nicht gewohnt, weil sie viel lieber auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgriff. Wenn sie zur Arbeit fuhr, war sie mit der U-Bahn ohnehin besser dran.
Mona stieg in die nächste einfahrende Bahn und ließ sich auf einen freien Sitz fallen. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte ja schlecht die ganze Nacht durch München gehen und fahren. Vielleicht sollte sie in ihr Büro zurückkehren und die Nacht dort verbringen. Unwillkürlich schüttelte sich Mona. Sie liebte ihre Arbeit sehr und freute sich unsagbar über den neuen Posten, aber deshalb wollte sie nicht unbedingt auch gleich die Nacht im Büro verbringen.
Die U-Bahn hielt am Marienplatz. Mona stieg aus und fuhr mit der Rolltreppe nach oben. Ohne genau zu wissen, weshalb, schlug sie den Weg zur S-Bahn ein. Sie fuhr weiter Richtung Hauptbahnhof, und dann wußte sie plötzlich, welches Ziel sie ansteuern würde: Steinhausen!
Bis vor einigen Jahren hatte sie dort gelebt – zusammen mit ihren Eltern. Doch diese waren kurz nacheinander verstorben, und dann hatte Mona es in der Wohnung, wo alles an Mama und Papa erinnert hatte, nicht mehr ausgehalten und war nach München gezogen. Hier hatte sie Dirk kennengelernt, und nach der Verlobung…
Mona schüttelte die Gedanken ab. Sie wollte sich nicht mehr an Dirk erinnern! Unwillkürlich schluchzte sie auf. Es tat weh! Sie hatte ihn so sehr geliebt… und liebte ihn immer noch. Auch wenn dieser Mistkerl es nicht verdiente.
Der Zug nach Steinhausen fuhr langsam in den Hauptbahnhof ein. Mona löste eine Fahrkarte und stieg ein, aber als sich der Zug in Bewegung setzte, bereute sie ihren Entschluß schon fast wieder. Was sollte sie denn mitten in der Nacht in Steinhausen? Ihre Eltern waren tot, sie hatte keinerlei Verwandtschaft, und die wenigen Freundschaften, die sie in dem kleinen Ort gehabt hatte, waren mit den Jahren zerbrochen. Kein Wunder. Mona hatte sich damals mit aller Kraft auf ihre angehende Karriere gestürzt – zum einen, um den Tod ihrer Eltern zu verdrängen, zum anderen, weil sie nicht als Verkäuferin hatte enden wollte. Sie wollte nach oben… ganz an die Spitze, und nun hatte sie es geschafft – beinahe jedenfalls. Erst wenn ihre Maßnahmen Erfolg haben würde, würde ihr der Platz als Managerin wirklich sicher sein. Vorerst war sie nur ein weiterer Versuch, das Kaufhaus aus den roten Zahlen zu bringen. Würde ihr das nicht gelingen, dann würde schon bald ein anderer ihren Platz einnehmen.
Der Zug hielt mit einem Ruck an. Erschrocken blickte Mona auf und erkannte, daß sie schon in Steinhausen angelangt war. Rasch griff sie nach ihrer Handtasche und verließ den Zug, dann stand sie ein wenig verloren am Bahnsteig. In der Dunkelheit konnte man von dem idyllischen Vorgebirgsort nicht viel sehen, trotzdem atmete Mona jetzt tief durch. Das war der Duft der Heimat, und plötzlich merkte sie, wie sehr sie das ruhige Steinhausen vermißt hatte.
Allerdings merkte Mona rasch, daß Steinhausen nicht mehr so klein und beschaulich war wie noch vor einigen Jahren. Überhaupt hatte sich hier vieles verändert – das bemerkte sie trotz einfallender Dunkelheit. Sicher, die schmucken Vorgebirgshäuschen waren noch da, aber es waren etliche hinzugekommen, die Mona nicht kannte.
»Dr. Markus Leitner, Kinderarzt«, las sie auf einem Praxisschild und zog überrascht die Augenbrauen hoch. Steinhausen hatte jetzt sogar einen Kinderarzt.
Unwillkürlich lenkte sie ihre Schritte zum Ortsausgang und wandte sich dann nach links.