Charleston, Jazz & Billionen. Walter Rauscher
Reigen
Rückbesinnung auf die »gute alte Zeit«
Englische Spektakel mit Tradition
Europa in einem labilen Jahrzehnt
Die Krise der parlamentarischen Demokratie
Der »Geist von Locarno« und ein Ende mit Schrecken
Literaturverzeichnis und Quellen
Die Sensation des Radios in einer Londoner Bar
Prolog: Ein Jahrzehnt findet sein Genie
Mit dem Jahr 1920 begann nicht nur ein neues Dezennium, es schien auch ein neues Zeitalter anzubrechen. Dieses, so herrschte die allgemeine Sehnsucht vor, sollte ganz anders als die Zeit davor werden, eine Epoche des Aufbruchs, des Abschieds von alten Konventionen, der Hoffnung nach so viel Elend. Nach dem Alpdruck eines verheerenden Krieges, der Heimsuchung durch die Spanische Grippe, jahrelanger Versorgungsnot in einer Zeit von Revolutionen und gewaltiger gesellschaftlicher Umbrüche wollten die Menschen das Leben endlich wieder genießen – wenn möglich in vollen Zügen, ohne Zurückhaltung und Zensur. Ein Musikstil gab einer ganzen, wenn auch kurzen Epoche seinen Namen: der Jazz. Man spielte und hörte ihn, man tanzte ihn als Charleston, man lebte ihn. Zunächst sprach man noch von einem »Jazzrummel«, doch nicht zuletzt F. Scott Fitzgerald (Der große Gatsby) schrieb sodann von einer »Jazzära«. Mit Bezug auf die Weimarer Republik und in erster Linie Berlin nennt man diese Zeit auch die »Goldenen Zwanzigerjahre«, im Englisch-Amerikanischen die »Roaring Twenties«. In Frankreich schließlich wird dieses ganz besondere Dezennium vor allem auf Paris bezogen »les Années folles« bezeichnet – die verrückten Jahre.
Stefan Zweig meinte in dieser Zeit eine Rebellion der Jugend gegen das Althergebrachte zu erkennen. Der desaströse Krieg, die innenpolitische Unruhe nach der Weltkatastrophe und die allgemeine wirtschaftliche Krise diskreditierten die in die Jahre gekommene Generation der Elite, die letztlich für all die Misere verantwortlich war, in den Augen der jungen Menschen völlig. Die Jugend verlor, in Die Welt von Gestern anschaulich geschildert, den Respekt, legte ihre Autoritätsgläubigkeit ab und wollte von traditionellen Werten nichts mehr wissen. Es schien, als beabsichtigte sie, regelrecht Rache zu üben und ihre Elternwelt sooft wie möglich vor den Kopf zu stoßen. Von der Zukunft erwartete sich die junge Generation »eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung«. Es war die Zeit der Extreme, in der Politik, in der Kunst, im Lebensstil. Grenzen wurden ausgelotet und überschritten, die Provokation sollte alte Verkrustungen aufreißen. »Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte«, erinnerte sich der österreichische Schriftsteller, der in jenen Jahren große Erfolge feierte.
Es war eine rastlose Zeit. In den Städten drängten sich die Menschen auf den Straßen und Plätzen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, auf dem Weg zum Arbeitsplatz oder am Wochenende überall dort, wo es Vergnügungen, Rummel gab. Massenveranstaltungen standen hoch im Kurs. Es regierte die noch durch die Medien befeuerte große Neugier, sodass sogar die Rolltreppen in Kaufhäusern als Novität ein interessiertes Publikum fanden. Maschinen faszinierten, innovative Technologie begeisterte. Der Glaube an den Fortschritt war im Zeitalter der Massenproduktion nicht zuletzt aufgrund der zunehmend stärker einsetzenden Werbung bei vielen ungebrochen.
Das Leben bot Verlockungen aller Art, und es wurde freizügiger. Es kam zu einer regelrechten Revolution der Moral und des sozialen Verhaltens, zu einer Erosion der Traditionen. Die Städter benahmen sich ungezwungener als in der alten Zeit. Die Kleider und Röcke der Frauen wurden nicht nur kürzer, in der Kunst und in der Unterhaltung war nun sogar viel nackte Haut zu sehen. Illustrierte brachten beinahe in jeder Ausgabe Nacktfotos von Tänzerinnen und Nachwuchskünstlerinnen, von turnenden oder badenden jungen Frauen. »Wir genieren uns nicht«, »Die Mode der Nacktheit« oder »Die gut ausgezogene Frau« betitelten selbst Kulturmagazine jene Abbildungen eines neuen, mutigeren und gar nicht mehr prüden Lebensstils. Dass es allein in Berlin 50 reine »Damen-Klubs« gab, gehörte zum modernen Selbstverständnis der urbanen Welt dazu. Dass entlassene Offiziere und vor der Revolution geflüchtete russische Aristokraten in Frack oder Smoking mit streng zurückfrisiertem, pomadisiertem Haar als Gigolos in Tanzpalästen ihr Auskommen suchten, zeigte wiederum, dass die gelockerten Sitten zuweilen mit wirtschaftlicher Not einhergingen.
Die laute, schrille, wilde Zeit war zudem ein Phänomen der Großstadt. Diese war schließlich auch das Zentrum des Massenkonsums. Auf dem Lande, in den Dörfern und kleineren Provinzstädten verlief das Leben unter den Vorgaben einer oft autoritären Kirche, dem Druck der einer alten strengen Tradition verbundenen Gesellschaft und als Folge eines entbehrungsreichen Alltags in der Landwirtschaft vollkommen anders. In der bescheidenen Nüchternheit einer lediglich auf den harten Broterwerb konzentrierten Existenz kannte man die Verrücktheiten der Jazzära höchstens vom Hörensagen. Hier ließ der Aufbruch in die Moderne noch lange auf sich warten. Selbst in der Stadt gab es naturgemäß große Unterschiede in der Lebensführung. Kleine Geschäftsleute, einfache Handwerker oder Arbeiterfamilien konnten sich die Ausschweifungen des Nachtlebens, den Erwerb eines Autos oder einen selbst noch so bescheidenen Urlaub außerhalb der eigenen vier Wände nicht leisten. Für sie standen das Auskommen mit dem wenigen, was man hatte, und die Sorge vor dem Abgleiten in die Armut im Vordergrund.
Darüber hinaus waren nicht alle Menschen den Neuerungen und dem Irrwitz des Jahrzehnts gegenüber aufgeschlossen. In seinem Roman Der Steppenwolf lässt Hermann Hesse seinen Protagonisten Harry