Charleston, Jazz & Billionen. Walter Rauscher

Charleston, Jazz & Billionen - Walter Rauscher


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      Wilson war der erste amtierende US-Präsident, der den alten Kontinent besuchte, und er war der erste, der dessen Geschicke maßgeblich beeinflusste. Der aus Virginia stammende Intellektuelle, der am Anfang des 20. Jahrhunderts Princeton zu einer bedeutenden Universität gemacht hatte und nun meinte, für die gesamte Menschheit zu sprechen, sah selbst den Moment gekommen, in dem die USA als mittlerweile mächtigste Nation eine neue Weltordnung errichten konnten. Und es sollte – nach amerikanischem Vorbild – eine Weltordnung des Friedens und der Sicherheit unter dem Vorzeichen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems sein. Wilson hielt es für »die heilige Pflicht«, dauerhafte Abmachungen im Sinne von Gerechtigkeit und Frieden zu treffen. Daher erklärte er die Errichtung eines Völkerbundes zur vordringlichsten Aufgabe, ja zu einer »Lebensfrage«.

      Der Präsident, der 1917 hart mit sich gerungen hatte, sein Land an der Seite der Entente in den Krieg zu führen, war jedoch auch von der Notwendigkeit überzeugt, die Deutschen für ihre Schuld am Ausbruch des Weltbrandes zu bestrafen. Eine solche Auffassung war durchaus ein Teil seines Sendungsbewusstseins, die Welt nach dem Vorbild der nach seinem festen Glauben friedliebenden, fortschrittlichen und uneigennützigen Vereinigten Staaten von Amerika zu bekehren. Für ihn hatte das alte System Europas, das schließlich auch die Katastrophe des Weltkrieges verschuldet hatte, total abgewirtschaftet. Aber, so entsprach es der bisweilen unduldsamen Engstirnigkeit Wilsons, die Alte, von den USA gerettete, Welt musste auch tun, was man ihr sagte. Ein gegen den Kommunismus immunes Europa sollte möglichst rasch ökonomisch wieder auf die Beine kommen, damit allen voran die Alliierten den USA ihre immensen Schulden zurückzahlen konnten. Dafür brauchte es nicht zuletzt eine intakte deutsche Wirtschaft.

      Doch nach den Erfolgen der republikanischen Opposition bei den letzten Kongresswahlen war die Position des gottesfürchtigen Moralisten, dem allgemein Züge eines protestantischen Predigers und selbstgerechten, ja tyrannischen Egoisten nachgesagt wurden, in Washington bereits nachhaltig erschüttert. Darüber hinaus war dem im persönlichen Umgang harten und bisweilen rücksichtslos dogmatischen Wilson klar geworden, dass er für die Zusammenarbeit mit seinen europäischen Verbündeten ohnehin Abstriche in Bezug auf seine idealistischen Pläne machen musste. Zu mehr Realismus gezwungen, blieben daraufhin seine Statements im Vorfeld der Friedenskonferenz bereits überaus vage.

      Die Besiegten des Krieges vermochten Wilsons Gedankenwelt nicht gründlich genug zu deuten und machten sich daher über den bevorstehenden Friedensschluss falsche Hoffnungen – gerade, was das Selbstbestimmungsrecht der Völker betraf. In Wien beispielsweise hatte am 12. November 1918 die Provisorische Nationalversammlung nach einstimmigem Beschluss die Republik Deutschösterreich vor einer großen Menschenmasse auf der Ringstraße ausgerufen – als demokratischen Bestandteil der Deutschen Republik. Außenstaatssekretär Otto Bauer beeilte sich, Wilson gegenüber bereits am Tag danach in einer telegrafischen Note die Hoffnung auszusprechen, »dass Sie, den von Ihnen so oft ausgesprochenen Grundsätzen entsprechend, diese Bestrebungen des deutschen Volkes in Österreich unterstützen werden«.

      Tatsächlich wurde von den Völkern Europas vielerorts Wilsons Reise zur Friedenskonferenz dem Kommen eines Messias gleichgesetzt. »Die Massen jubelten ihm zu wie Jesu beim Einzug in Jerusalem«, hieß es im Pester Lloyd. »In atemloser Spannung hängt die Menschheit in diesen Tagen an Ihren Lippen. Aus Ihrem Munde erwartet sie die Verkündigung der Heilsbotschaft«, schrieb ihm wiederum in einem Memorandum die Tiroler Landesregierung, die um ihren Landesteil südlich des Brenners bangte und seinen mächtigen Schutz erbat.

      Die Menschen ersehnten eine neue Weltordnung, einen gerechten Frieden, einen »Wilson-Frieden«. Aber all die Begeisterung, die ihm von der Bevölkerung der Verbündeten bei seinen Besuchen Großbritanniens, Frankreichs und Italiens entgegenbrandete, das Blumenmeer, die Beflaggung der Häuser und Straßen, der überbordende Vertrauensvorschuss selbst der Politik, gaben dem US-Präsidenten zu denken. Wilson war bei all seinem missionarischen Habitus keineswegs blind. Schon bald begann er die Komplexität der Probleme im Nachkriegseuropa zu erkennen, ihm dämmerte die Sorge, den hohen Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Zudem wurden Wilson zunehmend die unterschiedlichen Interessen der Sieger bewusst: Ging es ihm selbst vorrangig um den Völkerbund, war Clemenceau in erster Linie um den Schutz Frankreichs vor Deutschland und Lloyd George um die britische Vorherrschaft zur See besorgt.

       Die Pariser Friedenskonferenz

      Die Friedenskonferenz begann am Nachmittag des 18. Jänner 1919 im französischen Außenministerium am Quai d’Orsay eigentlich bloß als eine Konferenz der siegreichen Alliierten. Die Franzosen hatten dieses Datum bewusst gewählt, handelte es sich doch um den Jahrestag der für sie so demütigenden Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Schloss Versailles im Jahr 1871. Damals hatte Frankreich den Krieg gegen Deutschland verloren, nun waren die Vorzeichen umgekehrt.

      In der Eröffnungsansprache bezeichnete Staatspräsident Raymond Poincaré den Ersten Weltkrieg als einen »Kreuzzug der Menschheit für das Recht.« Die Alliierten, so das französische Staatsoberhaupt, hatten sich 1914 dem Drang der von Deutschland angeführten Mittelmächte nach Hegemonie in Europa und schließlich sogar nach der Weltherrschaft entgegenzustellen. Den Sieg der Alliierten nannte Poincaré nun einen »Sieg des Rechts«, die Friedenskonferenz einen »großen Gerichtshof«. Nach der Einstellung der Feindseligkeiten sei nach Gerechtigkeit zu suchen. »Was aber die Gerechtigkeit zuerst fordert, nachdem sie verletzt worden ist, sind Wiederherstellungen und Wiedergutmachungen für jene Völker und Menschen, die beraubt oder misshandelt worden sind.«

      Wilson schlug Poincarés alten politischen Gegner, den linksbürgerlichen französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, als Vorsitzenden der Friedenskonferenz vor; nicht bloß aus Gründen der Tradition und Höflichkeit oder weil Frankreich »durch die Leiden und Opfer, die es während des Krieges gebracht hat, einen besonderen Tribut« verdiene, sondern vor allem als Huldigung des Mannes, der ein »großer Diener« seines Landes sei. Gleich nach seiner Ernennung kündigte Clemenceau an, dass die Friedenskonferenz dem Programm Wilsons folgen würde, wonach sie einen »Frieden der Völker« schaffen wolle. Doch dieses Statement war bloß Höflichkeit. Der erfahrene Politiker hatte wenig übrig für Idealisten, »die die internationalen Kriege unterdrücken wollen, um uns in Frieden den Annehmlichkeiten des Bürgerkrieges auszuliefern«.

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       Die »Großen Drei« mit Zylinder: David Lloyd George, Georges Clemenceau und Thomas Woodrow Wilson

      Entgegen den von Wilson genährten Erwartungen blieb es schließlich im weiteren Verlauf bei der Geheimdiplomatie. Die Öffentlichkeit wurde doch nicht zu den Sitzungen zugelassen, denn die Alliierten waren sich – allem voran in der Frage der Behandlung Deutschlands – keineswegs einig. Die zahlreichen Kommissionen und Arbeitsgruppen trafen insgesamt 1646 Mal zusammen und verhedderten sich dabei zunehmend in Detailfragen, anstatt das große Ganze zu sehen. Auch wenn noch so viele Expertenkommissionen tagten und es formal – mit Italienern und Japanern – den aus den Regierungschefs und Außenministern der Großmächte gebildeten Rat der Zehn gab, lag die wahre Macht doch in den Händen der »Großen Drei«, den Vertretern der USA, Großbritanniens und Frankreichs: Woodrow Wilson, David Lloyd George und Georges Clemenceau. Wenn auch der Oberste Rat offiziell das höchste Gremium darstellte, war es doch eine schlichte Tatsache, dass der Vierte im Bunde, der Ministerpräsident aus Rom, Vittorio Orlando, bei den informellen Gesprächen, die für gewöhnlich in der amerikanischen Privatresidenz stattfanden, von den drei anderen führenden Staatsmännern nie als politisch ebenbürtig behandelt wurde. Als er dann am Ende über die Frage eines italienischen Fiumes (Rijeka) gar zu weinen begann, war er für seine Gesprächspartner endgültig nur noch mühsam. Doch selbst die oft autoritär agierenden »Großen Drei« ließen bisweilen den gegenseitigen Respekt vermissen: als etwa Lloyd George bei einem der manchmal chaotisch verlaufenden Treffen im Zuge einer hitzigen Diskussion aufsprang und seinen französischen Gesprächspartner beim Genick packte, bis Wilson endlich die beiden Streithähne trennen konnte. Aber auch der als kontrolliert geltende US-Präsident verlor während der Pariser Friedenskonferenz


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