Leana. Conny Lüscher

Leana - Conny Lüscher


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Genauer gesagt in Form einer kleinen, schwarzen Pistole und einer Schachtel Munition. Der völlig durchgedrehte Besitzer des Wagens, ein Freak mit langen, weißen Haaren und fleckiger Haut, überreichte ihm die Waffe mit einem wissenden Grinsen. Auch er trug kein Band.

      „Nun“, sagte er, als er ihm die Pistole in einer fettigen Tüte überreichte, „wollen wir nicht grau werden? Wollen wir nicht sein?“

      Karl antwortete nicht und ehrlich gesagt fühlte er sich mit der Waffe auch nicht viel besser. Er wusste nicht einmal, ob er sie tatsächlich benutzen könnte.

      Es gab Zeichen. Eines Abends saß der kleine Alexander im winzigen Garten ihres Hauses, in dem ein paar spärliche Grashalme den grauen Sand verzierten, der über der ganzen Gegend lag. Er spielte mit den von Karl selbst gebastelten Autos. An die Hausmauer gelehnt beobachtete er seinen Sohn und trank sein fades Feierabendbier.

      Plötzlich war die Luft von einem drohenden Surren erfüllt. Karl richtete sich auf. Er spähte umher, aber in der tristen Umgebung des Hauses konnte er nichts entdecken. Als er sich umdrehte, stockte ihm der Atem.

      Ein Schwarm braunschwarzer Wespen hatte sich über dem Kopf seines kleinen Sohnes versammelt und schwebte wie eine mörderische Dornenkrone über seinen dunklen Haaren. Es mussten Hunderte sein!

      Voller Entsetzen sah Karl, wie Alexander den Kopf hob und mit seinen großen Kinderaugen verblüfft den Wespenschwarm anstarrte. Dann drehte er sich um und sah zu seinem Vater.

      „Sssssshhhh, ssssssssssuuuuuuhhm“, quäkte er vergnügt und fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum.

      Karl brach der kalte Schweiß aus. Er ließ seine Bierdose fallen und sprang auf.

      Er wollte losrennen, seinen Sohn packen und sich mit ihm im Haus oder Schuppen verschanzen. Ja bei Gott, wenn es einen gab, das wollte er. Aber er wusste, er würde es nicht schaffen.

      Denn der Schwarm begann sich zu senken. Es sah aus, als ob der kleine Junge nun jeden Moment eine monströse, tödliche Mütze tragen würde.

      „Nicht so, bitte nicht!“, flüsterte Karl.

      Wie unter Wasser watete er auf seinen Sohn zu. Viel zu langsam! Er würde zu spät kommen!

      In diesem Augenblick begann die Luft zu vibrieren. Karl fühlte einen sanften, leichten Lufthauch und direkt vor den Füßen seines Sohnes erschien ein Leuchten. Ein kleiner Punkt nur, nicht größer als eine Murmel, aber das bedrohliche Summen der Wespen verstummte. Sie wurden träge, als ob sie müde wären und orientierungslos.

      „Licht!“, jauchzte Alexander und griff mit beiden Händen nach dem Leuchten.

      Augenblicklich löste sich der Schwarm auf. Die Wespen verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Karl stolperte auf seinen Sohn zu und kniete sich zitternd neben ihm auf den Boden.

      „Guck Papa“, krähte der kleine Junge und streckte ihm die Hand entgegen.

      Auf seiner Handfläche saß ein gelber Schmetterling und bewegte schwach seine zarten Flügel. Karl lächelte erleichtert. Aber er konnte schon sehen, wie die leuchtende Farbe verblasste und die Flügel schwer zur Seite fielen. In diesem Land wurde alles Leben von der Finsternis verschlungen.

      Die Jahre vergingen und Alexander lernte schnell das Licht zu suchen. Meistens war es nur ein kleines, kurzes Flimmern. Aber manchmal auch ein helles Leuchten und er rannte durch seine ewig graue Welt, bis er es gefunden hatte. Und es war immer etwas da.

      Ein Apfel, der rot war und einen Geschmack hatte, den er sich nie hätte vorstellen können. Ein zerfranster Strohhut in einem so hellen Weiß, dass er glaubte, er könne ihn als Lampe benutzen. Und einmal ein kleiner, blauer Vogel.

      Er fand ihn am Ufer des trüben Flusses, wo er verwirrt umherflatterte. Es gelang ihm, ihn zu fangen. Behutsam hielt er ihn in seinen Händen und bewunderte das schillernde Gefieder. Er spürte das rasende Pochen des winzigen Herzens in seiner Handfläche und wurde unendlich traurig. Er wusste, wo immer dieses wundervolle Geschöpf auch herkam, in seiner Welt würde es nicht lange leben. Auch ohne das Band um den Hals würde alle Lebensenergie aus ihm fließen und es würde sterben.

      Karl wunderte sich, dass der Junge in all den Jahren kein einziges Mal nach seiner Mutter fragte. Er schien die gleiche, instinktive Furcht vor den Grauen zu verspüren wie er selbst. An seinem dreizehnten Geburtstag passierten zwei Dinge, die ihr Leben für immer verändern sollten: Alexander verliebte sich zum ersten Mal und die meisten Lehrer seiner Schule verschwanden. Die, die noch da waren, erschienen alle am selben Tag mit dem Band um ihren Hals. Karl vermochte nicht zu sagen, was schlimmer war. Alexander schlich jeden Morgen niedergedrückt aus dem Haus. Es gab nichts mehr zu lernen, sondern nur noch die immer gleichen Predigten, Drohungen und Verheißungen, um die Kinder dazu zu bringen, das Band anzunehmen. Und es gelang ihnen. Täglich wurden es mehr. Als Alexanders junge Freundin ebenfalls dazugehörte, brach seine Welt zusammen. Er und ein paar wenige, die sich weigerten, wurden schikaniert und zu Außenseitern. Alexander wollte nicht mehr zur Schule gehen. Karl ließ ihn gewähren, denn er begann, um das Leben seines Sohnes zu fürchten.

      Sie waren jetzt überall. Selbst hier in der Vorstadt, wo es außer halb zerfallenen Häusern und leer gefegten Straßen kaum etwas gab. Sie lungerten um ihr Haus und seine kleine Werkstatt, wo Alexander nun mithalf und begierig alles lernte, was sein Vater ihm beibringen konnte.

      Eines Tages stand Luisa wie ein Schatten in ihrem Wohnzimmer. Sie hatten sie nicht kommen gehört. Sie stand einfach da auf dem abgewetzten Teppich und trug das Gewand einer Priesterin. Eine lange, weich fallende Tunika aus einem edlen, dunkelgrauen Stoff verhüllte ihren abgemagerten Körper. Alles an ihr wirkte fahl. Auch ihre einst so schönen, dunkelbraunen Haare hingen in matten, verwaschenen Strähnen von ihrem gesenkten Kopf. Als sie aufblickte, zuckte Karl zusammen.

      Das war nicht mehr seine Frau. In ihrem ausdruckslosen Gesicht loderten ihre Augen im Wahn. Das Band, das sie trug, schien zu leben. Es bewegte sich wie eine träge Schlange an ihrem Hals und er glaubte Schuppen zu erkennen, die schillernd ihre Farben wechselten.

      „Meine Liebsten“, flüsterte sie mit leerer Stimme, „meine geliebte Familie!“

      Karl erschauerte und aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Alexander sich tiefer in seinem Sessel verkroch. Luisa drehte sich zu ihrem Sohn und verzog ihren Mund zu einem Lächeln. Ihre Augen waren wie Kieselsteine.

      „Kommt mit mir! So lange waren wir getrennt, doch nun werde ich euch zum Vater führen und wir werden eine Familie sein! Eine große Familie, denn nicht nur der Vater, nein auch eure Schwestern und Brüder warten auf euch! Wir werden euch vor dem Licht beschützen. Nichts kann euch jemals verletzen, ihr werdet für immer glücklich sein!“

      Karl wollte aufstehen, sie packen, schütteln und aus dem Haus werfen, bevor das lähmende Gefühl, das von ihrem Halsband ausging, von ihnen Besitz ergreifen konnte. Doch Alexander kam ihm zuvor. Der Junge sprang auf. Er trat mit geballten Fäusten und zusammengekniffenen Augen vor seine Mutter. Seine dunklen Haare standen wirr um seinen Kopf. Wutentbrannt blickte er sie an.

      „Du bist nicht meine Mutter!“, schrie er. „Meine Mutter ist schon lange tot! Du bist genauso falsch wie diese Schlange, die du um den Hals trägst. Spar dir deine verlogenen Worte, ich glaube dir nicht! Ich weiß nicht, wer oder was du bist, aber ich weiß, IHR habt alles zerstört!“

      Luisas Augen weiteten sich. Einen Moment dachte Karl, dass sein Sohn es geschafft hätte, diesen schrecklichen Bann, der sie umhüllte, zu durchbrechen. Aber im selben Moment verfärbte sich ihr Band und zog sich zusammen. Luisa keuchte, er wusste nicht, ob es wahrer Zorn war oder ob sie einfach keine Luft bekam. Ihre Augen funkelten bösartig. Sie hob die Arme und fing an zu kreischen.

      „Ihr Idioten, ihr Ungläubigen! Ihr wisst gar nichts! Glaubt ihr wirklich, dass ihr ohne uns überleben könnt? Das Licht wird euch verbrennen! VERBRENNEN WERDET IHR!“

      Ihr Band wurde heller, die schlängelnden Bewegungen verlangsamten sich. Sie ließ die Arme sinken und sagte völlig ruhig, fast beiläufig:

      „Wenn ihr nicht nachgebt, töten wir euch!“ Damit drehte sich die


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