Leana. Conny Lüscher
sterbensmüde, entschuldige dieses Wort Felix, aber ich kann nicht mehr klar denken. Wollen wir nicht versuchen etwas zu schlafen? Es hat keinen Sinn, hier in der Dunkelheit herumzurennen. Sobald es hell wird, laufen wir los und finden dann sicher eine Erklärung für alles. Was meint ihr?“
„Oookeee“, sagte Felix.
Nina blickte sich misstrauisch um und klopfte auf den muffigen Moosboden. Aber schließlich zuckte sie mit den Schultern. Eine tiefe Erschöpfung hatte sich wie ein Mantel aus Blei um sie gelegt und sie gab auf. Eng aneinandergedrückt, lehnten sie sich an einen dicken Baumstamm.
„Hoffentlich gibt es hier keine Insekten“, schimpfte Nina, „ich hasse diese Krabbelviecher!“
„O o o ooder M mmooonster!“, sagte Felix.
„Licht aus“, sagte Leana und das Display erlosch.
Sie starrten mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Es war vollkommen still, außer ihren eigenen Atemzügen war nichts zu hören. Um sie herum schien alles tot zu sein. Angst kroch mit der Kälte aus dem Boden unter ihnen. Sie durften hier nicht schlafen, verwirrt und schutzlos! Aber noch während sie das dachten und sich dagegen wehrten, fielen ihnen die Augen zu.
TV-Show
Tim lag dösend auf dem Sofa. In seinem Unterbewusstsein sorgte er sich um Leana. Seine Stieftochter sollte eigentlich schon längst zu Hause sein! Seit die Siebzehnjährige vor drei Monaten mit ihrem Praktikum in einer Tierarztpraxis begonnen hatte, war sie nie mehr so spät nach Hause gekommen. Sie war immer viel zu müde, um, wie früher noch, mit ihren Freundinnen herumzuhängen oder auszugehen. Aber es war ihr egal, sie war glücklich und würde einfach alles tun für den Job in dieser Praxis.
Tim griff geistesabwesend nach seinem Rotweinglas, das neben einem halb leeren Teller Gemüseauflauf stand. Leana hatte ihn vorgekocht und er hatte ihn aufgewärmt, als er nach Hause kam. Wie lange war das her? Blinzelnd schaute er auf die Uhr. Ewig.
Er hatte sich mit seinem Teller und dem Glas auf das Sofa gefläzt und den Fernseher eingeschaltet. Mit dicken Backen blies er auf das dampfende Gemüse und kostete vorsichtig. Tim konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Das Zeug schmeckte toll!
Leana versuchte ihn mit allen Tricks dazu zu bringen, nicht dauernd nur Fleisch zu essen und es gelang ihr mit ihren Kochkünsten immer besser. Aber er würde sich hüten, das zuzugeben. Er schmunzelte, als er wieder ihr Bild vor Augen hatte, wie sie mit ernstem Gesicht die Aluminiumschale mit dem vorgekochten Gemüse füllte.
Sie sah genauso aus wie ihre Mutter. Leana hatte rotblonde, feine Haare, die in wilden Locken bis auf ihre Schultern fielen. Ihre grünen Augen mit den kleinen, goldenen Sprenkeln in der Iris blickten konzentriert auf ihre Hände. Ihre helle Haut war mit ein paar Sommersprossen getupft, die sich im Sommer extrem vermehrten. Sehr zum Ärger von Leana, die wie alle Siebzehnjährigen von einem perfekten Teint träumte. Jetzt im Oktober verblassten sie mehr und mehr.
Tims Gedankengang wurde unterbrochen. Auf dem Bildschirm – hatte er eigentlich umgeschaltet? – erschien wieder das Gesicht einer attraktiven, jungen Frau. Sie mochte etwas über dreißig sein. Lange, weißblonde Haare fielen über ihre Schultern bis fast zu den Hüften. Unter ihrem Pony blitzen Augen so hellblau wie Eiswasser. Sie trug eine elegante, hellgraue Tunika. Ein herrlicher, fließender Stoff und aus demselben Material war auch die weite Hose. Sie hatte eine tolle Figur, das konnte Tim, der mit seinen knapp fünfzig Jahren noch lange nicht seinen Blick für schöne Frauen verloren hatte, ganz deutlich sehen. Tunika hin oder her.
Aber seltsamerweise interessierte ihn das jetzt nicht besonders. Er konnte auch kaum verstehen, was diese Frau – sie hieß Cybill, oder nicht? – eigentlich erzählte. Er hatte sie schon oft gesehen. In letzter Zeit erschien sie, egal, um welche Uhrzeit er den Fernseher einschaltete oder welchen Kanal er wählte, immer öfter. Und er schaffte es einfach nicht, nach der Fernbedienung zu greifen und umzuschalten. Er starrte wie hypnotisiert auf ihre Halskette. Es war doch eine Kette? Sie musste wohl aus Platin sein, sie schillerte in einem hellen Grau und war ganz sicher von einem außergewöhnlichen Künstler gefertigt worden. Wie sonst wäre es wohl möglich gewesen den Anschein zu erwecken, dass sie sich bewegte? Dass sie sich um Cybills zarten Hals schlängelte und auch noch die Farbe wechselte?
Jedes Mal wurde er, während er auf den Bildschirm starrte, von einer bleischweren Müdigkeit erfasst. Seine Gedanken wurden träge und Cybills Worte zu einem eintönigen Gemurmel, das ihn einschläferte. Er wollte etwas tun. Aber was und war es nicht eigentlich egal?
Wie in Trance griff er nach seinem Weinglas. Er verfehlte es und es kippte um. Mit einem leisen Klingen schlug es auf das Glas des Couchtisches. Das brachte ihn halbwegs zu sich. Er richtete sich auf und sah auf seine Armbanduhr.
Halb zwölf. LEANA!
Nun war er sich ganz sicher, dass etwas nicht stimmte. Er schüttelte den Rest seiner Benommenheit ab und im selben Moment wechselte das Programm auf den Regionalsender.
Verblüfft blickte er auf den Bildschirm. Hatte er umgeschaltet? Noch während er zögernd nach der Fernbedienung griff, erschien das Bild des bekannten Regionalreporters. Er stand mit hochgezogenen Schultern unter einem großen, schwarzen Schirm, das Mikrofon fest umklammert. Es regnete in Strömen, die Szene wurde von den transportablen Scheinwerfern seines Teams hell erleuchtet.
„Guten Abend meine Damen und Herren“, sagte er, „ich berichte hier vom Schauplatz eines schrecklichen Unfalls, der sich heute Abend kurz nach neunzehn Uhr an dieser Kreuzung ereignet hat.“
Im Hintergrund konnte man die Mauer eines Lokals sehen. Ein Linienbus klebte mit eingedrückter Front daran wie eine zerquetschte Raupe. Polizisten und Feuerwehrleute waren immer noch damit beschäftigt, Details zu untersuchen und Notizen zu machen. Der Reporter drehte sich unter seinem tropfenden Schirm um und deutete auf die gespenstische Szene.
„Wie wir erfahren konnten, ist heute Abend aus noch immer nicht geklärten Gründen der Bus der Linie 8 mit völlig überhöhter Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen und quer über den Gehweg direkt bei der Fußgängerampel in diese Hausmauer gerast. Der Fahrer und die Fahrgäste im vorderen Teil des Busses wurden durch den ungebremsten Aufprall schwer verletzt. Nach unseren letzten Informationen besteht für einige von ihnen Lebensgefahr. Sie wurden alle ins Zentralkrankenhaus gebracht. Wie es zu diesem schrecklichen Unfall kommen konnte, ist noch völlig unklar. Ob es sich um ein technisches Problem oder menschliches Versagen handelt, werden erst die weiteren Untersuchungen zeigen.“
Der Reporter drehte sich wieder zurück und blickte nun direkt in die Kamera.
„Glücklicherweise standen im Augenblick des Unfalls keine Passanten an dieser Ampel. Ein Umstand, der um diese Uhrzeit an dieser Stelle äußerst selten ist und …“
Tim verstand kein einziges, weiteres Wort mehr.
LEANA! Er konnte es sich nicht erklären, aber er wusste mit entsetzlicher Gewissheit, dass sie dort gewesen war! Er sprang auf und rannte am ganzen Körper zitternd aus der Wohnung, während der Reporter weitere schreckliche Details bekannt gab.
Krank
„Milar mein Engel“, sagte der Greis, „du bist da, wie schön!“
Der junge Mann, der wie aus dem Nichts in seinem Zimmer aufgetaucht war, lächelte ihn an.
Agor lag in einem Krankenhausbett und seine fahle, vertrocknete Haut hob sich kaum vom Weiß des Bettbezuges ab. Er war sehr groß und mager. Ungepflegte graugelbe Haarsträhnen hingen in sein knochiges Gesicht mit der markanten Hakennase. Er packte den Haltegriff über seinem Kopf und zog sich daran hoch. Als er Milars Begleiterin sah, funkelten seine trüben Augen spöttisch.
„Ah, Cybill meine geliebte Tochter!“
Die junge Frau kam hinter Milars breitem Rücken hervor und niemand bemerkte mehr den angewiderten Gesichtsausdruck, mit dem sie das Krankenzimmer betreten hatte.
„Guten Abend Vater“, sagte sie und ihr Gesicht strahlte, als sie sich zu ihm herunterbeugte.
Der