Leana. Conny Lüscher

Leana - Conny Lüscher


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einfach alles nicht wahr sein!

      „Nein, ich muss sie ablenken. Ich werde sie in einem weiten Bogen von euch fortlocken, aber dann komme ich wieder zu euch. Ich finde euch ganz bestimmt und wenn nicht, treffen wir uns bei Sina.“

      „In Ordnung, was bleibt uns schon übrig, wenn das alles stimmt, was du uns erzählt hast“, seufzte Leana.

      Nina schnaubte wütend.

      „Ka kaaan ich den Ka kaaatzenhund mitnehmen?“, fragte Felix erwartungsvoll. Dieser Gedanke schien ihn wieder aufzumuntern.

      „Bist du bescheuert? Kommt nicht in Frage, dass wir uns auch noch mit so einem stinkigen Bettvorleger abplagen!“, rief Nina.

      Felix funkelte sie böse an, aber bevor er loslegen konnte, sagte Alexander: „Noch niemand hat einen Seidenwer gezähmt. Er entscheidet ganz alleine, in welche Richtung er geht.“

      „Na hoffentlich in die entgegengesetzte“, grummelte Nina.

      Nun konnte auch Leana ein leises Motorengeräusch hören. „Gehen wir“, sagte sie resigniert und stopfte die Schachtel mit den Keksen in ihre Umhängetasche.

      „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“

      „Alexander.“

      Sie lächelte gequält. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mich deine Bekanntschaft wirklich freut. Also ich meine ... du verstehst schon?“ Sie wurde rot. „Also ich bin Leana und das sind Nina und Felix.“

      „Also, ICH freue mich außerordentlich.“ Er schenkte ihr ein Lächeln und sie spürte, dass sich ihre Wangen noch mehr verfärbten.

      Für weitere Peinlichkeiten blieb keine Zeit mehr, denn mit lautem Kreischen flogen die grauen Vögel aus den Bäumen und stiegen zum Himmel auf. Dort kreisten sie über ihren Köpfen, als wollten sie den Verfolgern den Weg weisen.

      „Lauft!“, schrie Alexander und rannte den Abhang hinauf. Voller Angst liefen sie hinunter zum Fluss, der sich wie ein schwarzes Reptil durch den Wald schlängelte.

      Trost

      Tim saß in der noch leeren Kantine des Zentralkrankenhauses. Er war völlig erschöpft. Seine Hände umklammerten einen Pappbecher mit kaltem Kaffee. Er hatte ihn aus dem Automaten geholt und das Gebräu schmeckte scheußlich. Um diese Uhrzeit gab es hier noch keine Bedienung. Ein paar Tische weiter diskutierten leise zwei übermüdete Ärzte. Die Beleuchtung im Raum war nur zur Hälfte eingeschaltet und in ihren weißen Kitteln sahen sie aus wie Gespenster.

      Er nahm noch einen Schluck und versuchte endlich einen klaren Gedanken zu fassen. Er war die ganze Nacht herumgerannt. Keine Spur von Leana. Als Erstes war er zu der Unfallstelle gelaufen. Der zerstörte Bus war inzwischen abgeschleppt worden, aber noch immer waren jede Menge Polizisten und Feuerwehrleute vor Ort. Tim packte den erstbesten Uniformierten am Ärmel.

      „Hören Sie “, keuchte er außer Atem. „Wurde eine junge Frau in den Unfall verwickelt? Das hier ist ihr Heimweg, wissen Sie! Sie ist siebzehn, hat rotblonde Locken und grüne Augen und sie trug …“ Er zerrte an der Uniform. „Verflucht, ich weiß nicht, was sie heute Morgen angezogen hat! Ich hab sie nicht gesehen!“

      Der Polizeibeamte löste Tims Hand von seinem Arm. Von seiner Mütze tropfte der Regen.

      „Beruhigen Sie sich“, sagte er, „so viel kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen, es befand sich wirklich niemand auf dem Gehsteig!“

      Tim starrte den Beamten an, als hätte er chinesisch gesprochen.

      „Ich weiß, dass sie hier war!“, schrie er.

      Er war völlig durchnässt in seinem dünnen Pullover und den verbeulten Trainingshosen, die er nur zu Hause trug. Aber das bemerkte er nicht einmal. Wie unter Schock war er losgerannt und immer noch nicht bei Sinnen. Er wusste nur eines: Leana war hier gewesen. Warum wollte dieser Mann das nicht verstehen? Als er den Blick des Polizisten sah, nahm er sich zusammen.

      Ich muss ruhig bleiben, dachte er, es nützt nichts, wenn er mich für verrückt hält.

      „Der Busfahrer“, sagte er möglichst ruhig, „wo ist er? Der muss doch etwas gesehen haben! Er weiß es mit Sicherheit!“

      „Hören Sie“, sagte der Polizist, „der Fahrer liegt schwer verletzt im Krankenhaus und schwebt in Lebensgefahr. Es wäre ein Wunder, wenn er überlebt. Kommen Sie doch mit auf die Wache. Dort können Sie mir alles erzählen und wir werden der Sache nachgehen.“

      Nichts lag Tim ferner, als seine Zeit auf einer Polizeiwache zu verschwenden, um am Schluss vielleicht sogar noch eingesperrt zu werden. Der Blick des Polizisten verhieß nichts Gutes.

      Er hob abwehrend die Hände.

      „Nein, nein schon gut! Nicht nötig! Vermutlich habe ich mich geirrt und sie ist mit irgendwelchen Freundinnen unterwegs und steht womöglich schon schuldbewusst vor der Tür.“

      Er drehte sich um und rannte durch den Regen davon. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er sich so sicher war, dass Leana dort gestanden hatte, als der Unfall passierte. Aber irgendetwas weckte verdrängte Erinnerungen. Bilder von Isabell, Leanas Mutter, schwirrten in seinem Kopf. Wie er sie kennengelernt hatte, eine junge alleinstehende Mutter mit einem stillen, winzigen Baby. Er hatte sich sofort Hals über Kopf in sie verliebt.

      Ausgerechnet er! Er der nie heiraten und eine Familie haben wollte, wünschte sich nichts anderes mehr. Voller Angst, dass sie seinen Antrag ablehnen würde, hatte er nie nach dem Vater des Kindes gefragt. Ihre Vergangenheit war ihm egal, er liebte sie beide vom ersten Augenblick an. Sie waren so unglaublich schön, es war, als würde erst durch sie die Welt mit Leben erfüllt.

      Und dann verschwand Isabell! Einfach so. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet. Er war fast verrückt geworden. Kein Brief, kein Hinweis, keine Spur. Alle Suche war vergeblich, es war, als hätte sie nie existiert. Er blieb zurück mit Leana, sie war gerade vier Jahre alt und um ihretwillen blieb er am Leben.

      Und nun war sie weg! Genauso spurlos verschwunden wie ihre Mutter. Diesmal würde er das nicht überleben.

      Er musste weitersuchen. Tim stieg in ein Taxi und ließ sich zum Krankenhaus fahren. Wenn nötig würde er den Busfahrer aus seinem Koma prügeln. Aber er hatte keine Chance. Er war kein Verwandter und wurde von der Schwester der Notaufnahme schroff abgewiesen. Er hatte sich auf die Bank davor gesetzt in der Hoffnung, hier in Hörweite irgendwelche Neuigkeiten zu erfahren. Aber nichts. Die Zeit schien stillzustehen. Zwei Polizisten hatten noch einen völlig Betrunkenen angeschleppt und eine junge Mutter war mit einem schreienden Baby aufgetaucht und von einem Arzt weggeführt worden. Dann nichts mehr. Schließlich hatte er sich völlig übermüdet in die Cafeteria geschleppt. Die Zeiger der großen Uhr an der Wand bewegten sich langsam weiter und er starrte sie hilflos an.

      Er trank geistesabwesend seinen Becher leer. Was konnte er tun, wo sollte er suchen? Er hatte immer wieder zu Hause angerufen, aber natürlich hatte sich nur der Anrufbeantworter eingeschaltet. Und ihr Handy hatte sie wie schon so oft am Morgen auf ihrer Kommode vergessen.

      „Hallo“, sagte eine sanfte Stimme neben ihm.

      Er blickte auf. Eine junge Frau mit langen, weißblonden Haaren stand neben ihm und lächelte ihn aufmunternd an. Woher kannte er sie bloß?

      „Hallo“, erwiderte Tim. Er wollte nicht unhöflich sein.

      Die Frau setzte sich unaufgefordert zu ihm an den Tisch. Unter normalen Umständen hätte er jetzt sofort angefangen mit ihr zu flirten, es wäre ihm egal gewesen, dass sie so viel jünger war. Jetzt wollte er nur seine Ruhe, er wollte nachdenken. Leana, Isabell, es gab da irgendetwas, was er verdrängt hatte und er musste es herausfinden. Nur so konnte er Leana finden.

      „Kann ich Ihnen noch einen Kaffee bringen?“

      „Danke nein“, murmelte er, „schmeckt scheußlich.“

      Die junge Frau lachte hell. Er blickte sie an. Tief sah er in ihre eisblauen Augen und konnte gar nicht mehr verstehen, warum


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