Leana. Conny Lüscher
war nicht nach Hause gekommen. Na und? Diese blöden jungen Dinger hatten doch nichts anderes als ihre Freundinnen und Partys im Kopf! Natürlich! Keinen Moment dachte sie an ihn und dass er sich Sorgen machte. Sie vergnügte sich mit irgendwelchen schmierigen Typen und er machte sich zum Affen und rannte durch den Regen und suchte sie. Nicht zu fassen! Aber er würde ihr gehörig die Meinung sagen, wenn sie auftauchte! Ja zum Teufel das würde er! Grün und Blau würde er sie prügeln, diese Schlampe und …
Die beiden Ärzte standen auf und schoben geräuschvoll ihre Stühle über den Steinboden. Das brachte ihn zu sich. Verwirrt und erschrocken starrte er die junge Frau an.
„Mein Name ist Cybill“, sagte sie und streckte ihm lächelnd ihre Hand entgegen. Zögernd griff er danach. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er war entsetzt, was war bloß los mit ihm? Wie konnte er so etwas nur denken?
„Hallo, ich bin Tim.“ Er stand hastig auf. Er musste hier raus, er musste dringend an die frische Luft!
„Tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.“ Er entzog seine Hand fast mit Bedauern. Ihre Hände, die seine umfassten, fühlten sich so gut an, es war, als könnten sie sprechen. Und sie sprachen über fantastische Dinge, die sie tun könnten.
Überstürzt lief er zum Ausgang.
„Tim!“, rief ihm Cybill nach, „ich bin immer für Sie da, wenn Sie mich brauchen. Ich kann Ihnen helfen, Sie brauchen mich nur zu rufen!“
Fast wäre er stehen geblieben, der Klang ihrer Stimme schien ihn festzuhalten, aber Isabells Bild schob sich vor seine Augen und er lief durch den beginnenden Morgen nach Hause.
Es war sieben Uhr, als er vor dem Mehrfamilienhaus stand, in dem er mit Leana lebte. Es war noch viel zu früh, der Postbote kam immer erst um neun, aber trotzdem öffnete Tim den Briefkasten. Er wusste nicht, was er erwartet hatte darin zu finden und natürlich war das Fach leer. Mit hängenden Schultern starrte er vor sich hin.
„Hallo Tim. Schon so früh auf?“
Eine Nachbarin – man hätte ihn jetzt schlagen können, aber er wäre nicht auf ihren Namen gekommen – sah ihn müde an. Sie war weit über achtzig und in diesem Haus wahrscheinlich die Einzige, die mit allen Bewohnern Kontakt pflegte. Sie musterte ihn stirnrunzelnd.
„Geht es Ihnen nicht gut? Hat es Sie jetzt auch erwischt?“
„Häh? Was, wieso?“ Tim konnte sich nicht konzentrieren.
„Das Haus! Es ist das Haus!“, mit verschwörerischem Blick schob sie sich näher zu ihm. Er blinzelte verständnislos.
„Nun sagen Sie bloß, dass Sie das nicht mitbekommen haben!“, rief sie empört.
„Was denn?“
„Seit ein paar Monaten geschehen in diesem Haus Dinge! Dinge, die einfach nicht normal sind und nur HIER, hier bei uns! Ich sage Ihnen: Dieses Haus ist verflucht!“
Tim wollte gerade etwas Belangloses erwidern, um sie loszuwerden, aber plötzlich verstand er, was sie meinte.
Sie hatte recht. Vor einem halben Jahr hatte es begonnen. Eine junge Frau, die im obersten Stockwerk wohnte, hatte sich eines Abends von der Terrasse gestürzt. Aus Liebeskummer, wie es hieß. Sie hatte überlebt, lebte aber seitdem vom Hals abwärts gelähmt in einem Heim. Zwei der Bewohner waren an Krebs erkrankt. Es war eingebrochen worden, aber das Schlimmste war ein junger Mann, der bei einem schizophrenen Anfall versucht hatte, seine Mutter zu ermorden. Und alles war hier, in ihrem Haus passiert. Als wäre es von einer Wolke des Unglücks vergiftet worden.
Er starrte sie an. Es stimmte! Wieso nur war ihm das vorher nie aufgefallen? Er versuchte sich zu erinnern. Wann hatte das begonnen?
Cybills Bild schob sich vor seine Augen und das eines großen, kräftigen Mannes mit schwarzen Haaren, dem er oft vor dem Haus begegnet war, ohne ihn weiter zu beachten.
War das möglich? Hatten sie irgendetwas damit zu tun?
„Haaaallloooo?“, die alte Frau zupfte an seinem Ärmel. „Sind Sie noch da?“
Tim blockte die auf ihn hereinstürmenden Gedanken ab. Energisch knallte er das Türchen seines Briefkastens zu. Er konnte sich jetzt unmöglich mit dieser Frau befassen.
„Also schönen Tag noch“, murmelte er und verschwand im Treppenhaus. Beleidigt und kopfschüttelnd sah sie ihm nach.
Als er die Wohnungstüre aufschloss, keimte Hoffnung ihn ihm auf.
„Leana!“, rief er fragend in den Flur.
Natürlich kam keine Antwort. Oder doch? Was war das? Er hörte ein leises Gemurmel und stürmte aufgeregt ins Wohnzimmer. Der Fernseher. Er hatte ihn gestern Abend nicht ausgeschaltet, als er Hals über Kopf aus der Wohnung gelaufen war. Er ließ sich auf das Sofa fallen. Er war völlig am Ende und sein Kopf dröhnte. Seine Gedanken rasten darin wie kleine Tiere im Kreis. Er sah das umgefallene Weinglas, den vertrockneten Rest des Gemüseauflaufs und dann wanderte sein Blick zum Bildschirm.
Sie war da. Leise sprach sie zu ihm und lächelte ihn an. Er legte sich hin und entspannte sich. Ja Cybill war da, es war doch alles gut. Etwas in seinem Innersten bohrte qualvoll, aber er fühlte sich getröstet.
Cado
Sie folgten dem Flusslauf, wie Alexander es ihnen gesagt hatte. Nina stöckelte energisch voraus. Felix stapfte hinter ihr her und Leana folgte ihnen völlig in ihren Gedanken versunken. Sie suchte immer noch nach einer Erklärung. Das konnte doch alles nicht wirklich passiert sein. Wann würde sie endlich aufwachen? Felix drehte sich um.
„E eeer koommt m miiit uns!“, rief er.
Aufgeregt deutete er hinter sie. Nina und Leana drehten sich um. Tatsächlich, der Seidenwer lief hinkend ein paar Meter hinter ihnen her. Nun blieb er stehen und musterte sie aufmerksam mit seinen dunkelblauen Augen. Sein langer Schweif schwenkte langsam von einer Seite zur anderen.
„Auch das noch“, seufzte Nina.
Es war das Erste, was sie seit langer Zeit sagte. Genau wie Leana war sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
„K ko koooom heeer“, lockte Felix und ging in die Knie.
Der Seidenwer richtete seine runden Ohren steil in die Höhe und blieb abwartend stehen.
Leana betrachtete Felix. Der kleine Junge tat ihr leid. Wie musste er sich fühlen und wie schaffte er es, sich in diesem Albtraum so tapfer zu halten?
„Findest du nicht, wir sollten ihm einen Namen geben?“, sagte sie. Nina stöhnte genervt.
„Ooohh jaaaah!“, schrie Felix begeistert. „W w wiiiie s soool eeer h heiiißen?“
Leana lächelte, wie wenig es doch brauchte, um dieses Kind glücklich zu machen.
„Wie wäre es denn mit Cado?“, fragte sie.
Felix blickte stirnrunzelnd zum trüben Himmel, man konnte sehen, wie es in seinem kleinen Kopf arbeitete.
„Cado?“, brummte Nina. „Wie kommst du denn auf so was?“
„Nun ja“, sagte Leana. „Er hat etwas von einer Katze, aber auch etwas von einem Hund. Also Cat und Dog. Zusammengefasst Cado! Versteht ihr?“
„Suuuuuper!“, rief Felix begeistert. „Ca cadooo hiiiiierher!“
Der Seidenwer näherte sich ein wenig, ganz so als ob er mit der Namensgebung einverstanden wäre. Dann setzte er sich würdevoll ins trockene Gras.
„Pfffhhh“, machte Nina und schüttelte den Kopf.
„E eeees k k köööönnte aber auch Cadeau h heiiißen, f f französisch, G g ggeeescheeenk!“ Felix war vor Aufregung ganz aus dem Häuschen.
„Ich fass es nicht“, rief Nina, „der Zwerg spricht französisch!“ Sie gab ihm einen liebevollen Klaps und drehte sich um. Als sie weitergingen, folgte Cado ihnen humpelnd dicht auf den Fersen.