DAS ORAKEL. Daphne Niko

DAS ORAKEL - Daphne Niko


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10

      «Es tut mit leid, Sarah.» Daniels Miene war hart wie der Basalt der Berge. «Ich hätte es dir früher sagen sollen.»

      Seine Bekanntmachung, dass er wieder nach Saudi-Arabien zurückkehrte – allein – erschütterte sie. Das hatte sie nicht kommen sehen. «Das verstehe ich nicht. Ich dachte, wir segeln dieses Schiff gemeinsam.»

      «Das hat nichts mit dir zu tun. Ich muss eine Weile allein sein, ein paar Dinge klären.» Er zog den Reißverschluss seines Rucksacks zu und hängte ihn sich über die Schulter, dann griff er nach seiner armeegrünen Reisetasche. «Mein Fahrer wartet.»

      «Ich schätze, dann solltest du einsteigen.» Ihre Stimme war schwach.

      Er berührte ihr Gesicht mit seiner kalten Hand und streichelte ihre Wange mit dem Daumen. Von der Scheinheiligkeit der Geste abgestoßen entzog sie sich ihm.

      Er starrte sie mit leerem Blick an, dann drehte er sich zur Tür um, zog sie auf und ließ sie hinter sich zufallen.

      Sarah erwachte mit einem Ruck. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie am Tisch in ihrer Hütte eingeschlafen war. Sie hatte bis spät in der Nacht die Bücher Pausanias' auf ihrem Laptop gelesen und musste eingeschlafen sein. Sie ging zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um sich von dem unerwünschten Traum zu befreien.

      Es half nicht. Ihr Instinkt sagte ihr, dass etwas nicht stimmte, und sie entschied, es diesmal nicht auf sich beruhen zu lassen. Sie musste mit ihm reden.

      Sie schloss den Reißverschluss ihrer Fleecejacke und machte sich durch das dunkle Wäldchen auf den Weg zu Daniels Hütte. Das fahle Mondlicht beleuchtete einen Schneeschleier, der zwischen den Kastanienblättern herabfiel und schmolz, sobald er den Boden berührte. Es schien, als sei der Winter vollkommen ins thebäische Bergland eingekehrt.

      Sarah blieb vor Daniels Tür stehen und klopfte. Sie wappnete sich für das, was auch immer kommen würde. Zitternd wölbte sie ihre Hände und blies hinein. Aus der Hütte kam keine Antwort. Sie klopfte erneut und rief diesmal seinen Namen.

      Wieder keine Antwort.

      Sie wollte den Türknauf drehen, hielt sich aber davon ab, da sie nicht in seine Privatsphäre eindringen wollte. Vielleicht konnte die Sache am Ende doch bis zum Morgen warten.

      Sie entschied sich für den langen Rückweg zu ihrer Hütte, am Parkplatz vorbei. Insgeheim wusste sie, dass der Rover nicht da sein würde. Und sie hatte recht.

      Lange stand sie unter den herabfallenden Schneeflocken und starrte das einzig auf dem Parkplatz verbliebene Auto an: Evans Land Cruiser. Daniel war fort.

      Sorge brannte in ihrem Gesicht. War es möglich?

      Sie warf einen Blick in Richtung des monolithischen Gebäudes jenseits des Wäldchens. Sie begann zu laufen, dann zu rennen, und sprang über freiliegende Wurzeln und knirschende, herabgefallene Blätter, während sie auf ihr Ziel zueilte.

      Als Sarah die Tür zum Labor erreichte, war sie außer Atem. Ihre Hände zitterten, als sie die Kombination eingab und die schwere Metalltür aufstieß. Sie schaltete das Licht ein und der Raum wurde von einem Schwall Neonlicht durchflutet. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich im hell erleuchteten Labor um. Als sie sich an das Licht gewöhnt hatte, war sie erleichtert, alles so vorzufinden, wie sie es etwa acht Stunden zuvor verlassen hatte, als sie ihre Studien am Rhyton beendete.

      Sie ging zum Tresor, gab die Kombination ein und hörte das vertraute pneumatische Seufzen. Langsam öffnete sie die Tür und überflog die gestapelten Schalen voller Artefakte. Ihr Blick blieb an der leeren Schale mit der Aufschrift Messingpfahl, Böotien hängen.

      Sie ballte die Fäuste. Wie konnte er nur?

      Sie schloss den Tresor und ging direkt zu den Haken bei der Eingangstür, wo der Schlüssel zum Land Cruiser hing. Sie nahm ihn und schrieb eine eilige Nachricht für Evan.

      Musste mit dem Cruiser in die Stadt fahren. Bin bald zurück.

       – Sarah

      Als sie das Labor verließ, schneite es stärker. Sie erwartete, dass es auf den Hochgebirgspässen, die Livadia und den Fluss Herkyna umschlossen, noch schlimmer sein würde. Um so mehr Grund, sich zu beeilen.

      Kapitel 11

      Die schmale Straße, die sich um den Berg Helikon wand, war am Tag tückisch genug. In der Dunkelheit, und dank der zusätzlichen Beeinträchtigung durch den Schnee, konnte sie tödlich sein.

      Während er sich den Berg hinab auf die Stadt im Tal zubewegte, lenkte sich Daniel damit ab, die mondbeschienene Landschaft zu betrachten. Die Felswände des Helikons waren kahl, abgesehen von vereinzelten Büschen, die aus dem Stein sprossen, ein bloßes Wispern der Fruchtbarkeit in diesem sonst dürren Landstrich. Vor diesem zerklüfteten Hintergrund tauchten hier und da bescheidene Häuser auf, vielleicht die Heime von Schafhirten und anderen Hütern des Landes, Beweis für den Durchhaltewillen des Menschen selbst an den unwahrscheinlichsten Orten.

      Die Griechen hatten schon seit ewigen Zeiten so gelebt. Seit sich die griechische Zivilisation nach den dunklen Jahrhunderten im Jahr achthundert vor Christus erhob, hatten Sippen ihren Besitz auf unfruchtbaren Landstücken abgesteckt und Wege ersonnen, das Unmögliche möglich zu machen. In der ganzen Antike gab es kein klügeres und produktiveres Volk. Bis zu diesem Tag besaßen die Griechen diese Fähigkeit, setzten sie aber nicht ein, sondern wählten stattdessen den trügerischen Weg von Anspruch basierend auf einem glanzvollen Erbe.

      Er warf einen Blick auf den Beifahrersitz, wo eine Hardcover-Ausgabe von Pausanias' Beschreibung Griechenlands aufgeschlagen lag. Er hatte sie früher am Tag in einem Buchladen in Theben gekauft, begierig, den Text im originalen Griechisch zu besitzen, anstatt in einer englischen Übersetzung. Bisher war seine Hilfe unbezahlbar gewesen. Er hoffte nur, dass die Hinweise akkurat genug waren, um ihn in die Nähe der lange verschollenen Höhle zu führen. Einmal dort würde ihm der Obelisk Zugang gewähren – zumindest in der Theorie. Daniel hoffte, es würde schnell gehen, damit er nach Theben zurückfahren konnte, bevor jemand das Fehlen des Objektes bemerkte.

      In der Ferne glühten schneebedeckte Gipfel unter den Mondstrahlen. Der Parnass. Herrschaftsbereich Apollons und seines Halbbruders Dionysos, welche die beiden gegensätzlichen Charakterzüge der menschlichen Natur symbolisierten und das Reich der Musen. Dort hatten Trophonios und sein Bruder Agamedes ihre unglückselige Reise begonnen.

      Daniel ging Pausanias' Worte gedanklich durch. Trophonios und Agamedes waren damit beauftragt gewesen, den Apollon-Tempel in Delphi zu bauen, das wichtigste Heiligtum der Antike. Nachdem sie das Kultdenkmal fertiggestellt hatten, war König Hyprieius von Livadia so beeindruckt von ihrer Arbeit, dass er die Brüder anheuerte, um eine Schatzkammer für seinen Palast zu bauen.

      Sie errichteten eine absolut sichere Kammer samt einer geheimen Einstiegsrinne, von der nur der König wusste. Hyprieius bezahlte sie großzügig, aber wie es nun mal in der menschlichen Natur liegt, wurden sie gierig. Im Schutz der Nacht betraten sie den Geheimgang und stahlen den Schatz Stück für Stück.

      Der König fand das natürlich heraus – und stellte den Dieben eine unentrinnbare Falle. Auf einem ihrer nächtlichen Raubzüge wurde Agamedes von den Fängen jener Falle gepackt und konnte sich nicht befreien. Er befahl seinem Bruder, zu fliehen und sich selbst zu retten. Trophonios willigte ein, tat aber, bevor er ging, das Undenkbare: Er schlug seinem Bruder den Kopf ab, damit Agamedes nicht in einem Augenblick der Schwäche die Wahrheit preisgeben konnte.

      Seine Hände mit Agamedes Blut befleckt und sein Herz von Reue gebrandmarkt lief Trophonios in die Berge und versteckte sich in einer Höhle, wo er den Rest seiner gequälten Tage in Isolation und Angst verlebte.

      Die Geschichte von Trophonios war eine Moralgeschichte über Verrat und die Tortur, die sie dem menschlichen Geist bescherte. Nach Trophonios Tod wurde seine Höhle zum Symbol dieses dunklen Seelenmoments. Ein Abstieg in die Höhle des Trophonios war eine Reise ins Selbst, mit allen Dämonen und allen Wirren, die sie mit sich brachte.


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