DAS ORAKEL. Daphne Niko

DAS ORAKEL - Daphne Niko


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quietschen. Die Bergstraße hatte keine Straßenlaternen, und die einzige Beleuchtung kam vom Mond, dessen Silhouette sich hinter einer Wolkenschicht undeutlich abzeichnete. Im Tal jenseits des Passes markierten winzige Lichtpunkte das Städtchen Livadia, dessen Gebäude sich trotz der Weite um sie herum in einer dichten Ansammlung zusammendrängten.

      Er umfuhr die Stadt und bog in eine schmale Straße ein, die durch steinige, mit Aleppo-Kiefern gesprenkelte Gebirgsvorläufer führte. Sein Ziel – das Quellgebiet der Herkyna, von wo aus er zu Fuß zu einem Wäldchen oberhalb des Flusses hinaufsteigen würde – war ungefähr zehn Kilometer entfernt.

      Er drückte das Gaspedal durch. Während er der Straße bergauf folgte, leuchtete plötzlich ein Augenpaar weiß in seinem Scheinwerferlicht auf. Er trat auf die Bremse, um dem Tier auszuweichen, das direkt vor dem Rover stand, und schlingerte auf den Standstreifen, wo er eine Kiefer streifte, ehe er das Auto wieder unter Kontrolle brachte.

      Das Tier jagte davon. Daniel stoppte den Wagen und lehnte sich im Fahrersitz zurück. Er nahm seine Hände vom Steuer und bemerkte ein leichtes Zittern. Er schloss sie zu festen Fäusten und schlug aufs Lenkrad, frustriert von diesen Panikreaktionen, die ihm so unähnlich waren und die er dennoch mit zunehmender Häufigkeit zeigte. Er sagte sich, dass es nur die Nachwirkungen des Flugzeugabsturzes waren, dass es alles nur in seinem Kopf geschah. Mit dem Handrücken wischte er den Schweißfilm von seiner Stirn und lenkte den Rover dann wieder auf die Straße.

      Es war zwei Uhr fünfundzwanzig, als Daniel das Quellgebiet der Herkyna erreichte. Die Quelle sprudelte aus einem Kalkstein heraus und tropfte in eine schmale Rinne, die sich auf ihrem Weg den Berg hinab verbreiterte.

      Er parkte an einem unauffälligen Platz und machte sich dann zu Fuß durch einen Kiefernbestand auf den Weg zum Ursprung der Herkyna. Obwohl er das Wasser nicht sehen konnte, hörte er das Zischen der Fälle, die den Fluss speisten. Er holte sein Nachtsichtfernglas aus seinem Rucksack und überprüfte den Olivenhain, der sich am Berghang ausbreitete, eine grüne Anomalie zwischen zwei kahlen Klippen, die sich darüber überhoben.

      Er ließ sich von Pausanias Beschreibung von einer Halbhöhle, aus der der Fluss entsprang, führen und erreichte schließlich eine Kalksteinvertiefung, die über dem Flussufer stand. Er richtete seine Taschenlampe in die Öffnung hinein und erblickte einen ausgehöhlten Felsen, der nirgendwo hinführte.

      Sich an den antiken Text haltend folgte Daniel einem Pfad bergaufwärts durch den Olivenhain. In der Ferne sah er die Überreste des unvollendeten Tempels für Zeus, den König – ein weiterer Hinweis. Angeblich befand sich die Orakelhöhle hinter den Ruinen und über dem Hain, von einer runden Marmormauer gekennzeichnet.

      Das Knirschen von Kieseln unter den leicht gehetzten Schritten seiner dicksohligen Wanderstiefel verletzte die Stille des Ortes. Er identifizierte den scharfen, grasigen Geruch von Bergthymian, der in den Spalten der felsigen Abhänge wuchs. In der Antike, erinnerte er sich, hatte man geglaubt, sein Duft verleihe denen Mut, die ihn einatmeten.

      Im Hain war der Wuchs so dicht und hoch, dass es den Bäumen eine gespenstische Wirkung verlieh. Ihre Zweige schienen sich wie dunkle Klauen auszustrecken, um Eindringlinge in ihrer Umarmung zu ersticken.

      Eine Säule aus Mondlicht kündigte die Lichtung an. Ich bin nah dran, dachte Daniel. Er hatte sich Pausanias Worte gemerkt: Und das Orakel liegt über dem Hain auf dem Berg. Und daherum steht eine runde Mauer aus Stein, deren Umfang sehr gering ist und deren Höhe weniger als zwei Ellen misst. Und es gibt Säulen und Balken aus Messing, die sie verbinden, und zwischen ihnen liegen Türen. Und darinnen ist eine Spalte in der Erde, nicht natürlich, sondern künstlich, und mit großer Fertigkeit gebaut.

      «Eine Einfriedung», murmelte er vor sich her, während er sich umsah. Ihm war bewusst, dass seit Pausanias Aufzeichnung achtzehnhundert Jahre vergangen waren. In dieser Zeit war das Bauwerk wahrscheinlich zu einer Ruine zerfallen.

      Er folgte der Kante, an der sich das Massiv über dem Hain erhob, und richtete seinen Blick durch das Fernglas von der Erde zur Bergflanke. Selbst nachdem er über einen halben Kilometer weit gegangen war, hatte er keine Öffnungen gefunden, keine Risse, keine Anzeichen einer eingestürzten Wand.

      Er hatte nicht erwartet, dass es offensichtlich wäre. Immerhin war es Wissenschaftlern und Entdeckern jahrzehntelang entgangen. Aber diejenigen, die vor Daniel hier gewesen waren, hatten nicht das, was er bei sich trug: den Messingpfahl.

      Er leuchtete mit seiner Taschenlampe über die Erde und suchte jeden Quadratzentimeter nach Hinweisen ab. Einen Moment lang stand er still, betrachtete den Schneeschauer bei seinem Tanz im leichten Wind und der Landung auf dem frostverdorrten Gras.

      Es gab eine Stelle, ungefähr vier Meter von seinem Standort entfernt, wo sich kein Schnee niederließ. Könnte dort eine Öffnung sein? Daniel ging hinüber und bemerkte eine Senke im Boden. Auf Knien befühlte er das Gestrüpp und hielt den Atem an, als seine Hand auf etwas Hartes und Gleichmäßiges stieß.

      Er teilte das Gras, und ein Stück weißen Marmors kam zum Vorschein, das unschwer als Stein hätte übersehen werden können. Dies war ein Teil der Einfriedung; er war sich ganz sicher. Auf der Suche nach etwas, in das der Pfahl hinein passen würde, tastete er den Bereich vorsichtig ab. Als er ein zweites Marmorstück mit einer Vertiefung in dessen Mitte spürte, schlug sein Herz schneller.

      Er öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks und holte den Messingpfahl heraus, den er aus schützenden Schaumstoffplatten auspackte. Wenngleich von der Patina des Alters getrübt, glänzte der Gegenstand im bleichen Licht des Dreiviertelmonds. Daniel stand auf und stieß das scharfe Ende in den Marmor. Als nichts geschah, drehte er den Pfahl nach rechts, dann nach links. Es funktionierte nicht.

      Die Baumeister dieser Höhle hätten es nicht so leicht gemacht. Er durchforstete sein Gedächtnis nach Pausanias Worten und einem weiteren Hinweis. Der Chronist der Antike, der von sich behauptet hatte, die Höhle des Trophonios aus Erster Hand erlebt zu haben, beschrieb die Aushöhlung als «Brotofen» – vermutlich ein Zylinder – von vier Ellen Breite und acht Ellen Tiefe.

      Hinter allem, was die alten Griechen getan hatten, steckte Intention, und diese Maße könnten sehr gut durch mathematische Grundsätze bestimmt sein. Daniel hatte gelesen, dass sich Trophonios zur Buße der pythagoreischen Lehre verschrieben hatte und seinen Lebensabend damit verbrachte, nach der esoterischen Weisheit zu streben, die Pythagoras formuliert hatte, dessen Weltbild sich auf die Göttlichkeit von Zahlen stützte.

      Die für Pythagoras heiligste Zahl, erinnerte Daniel sich, war die Zehn: Die Dreieckszahl und metaphysisches Symbol, das die Ordnung des Universums kennzeichnet. Dann überdachte er die Anordnung der Zahlen, die zehn ergaben. Einen Versuch ist es wert, dachte er.

      Er drehte den Obelisken viermal im Uhrzeigersinn herum, dann dreimal in der Gegenrichtung, dann zweimal, dann einmal.

      Daniel hörte ein leises Grollen und spürte, wie sich die Erde unter seinen Füßen bewegte. Als er begriff, dass sich ein Abgrund auftat, sprang er zurück. Er versuchte, festen Boden zu erreichen, aber er wurde in die Tiefe gezogen.

      Daniel landete so hart auf seiner Seite, dass es ihm die Luft aus der Lunge presste. Während er dort lag, nach Atem ringend, füllte sich sein Geist mit dem vertrauten, rotblinkenden Licht. Es war nur ein Sturz, sagte er sich im Versuch, die Ruhe zu bewahren. Nichts, weswegen du dir Sorgen machen musst.

      Während sich seine Lunge wieder mit Sauerstoff füllte, bemerkte er, dass seine Taschenlampe zerbrochen war. Auf allen vieren umherkriechend suchte er nach seinem Nachtsichtfernglas, aber es war nicht da. Wie auch sein Rucksack lag es wahrscheinlich auf der Erde oberhalb des Höhlenbodens.

      Verhängnisgedanken unterwanderten Daniels Verstand. Er hockte auf den Knien und packte sich mit beiden Händen in die Haare, um das Gefühl abzuschütteln. Er hatte zwei Möglichkeiten: Den innersten Bereich von Trophonios Höhle zu erkunden und nachzusehen, was dort verborgen war, oder einen Weg aus dem zylindrischen Hohlraum heraus zu finden.

      Daniel sah flüchtig zur runden Öffnung hinauf, die den Eingang zur Höhle kennzeichnete, und begutachtete das verfallene Wandgemäuer des Baus. Es wäre schwer, ohne Seil heraus zu gelangen, aber nicht unmöglich.


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