ALTE WUNDEN (Die Ritter des Vatikan 6). Rick Jones
Knochen, keine Organe, nichts.«
»Dann ist dieser Virus also einzigartig?«
»Absolut.«
»Es existiert kein Gegenmittel?«
»Wir beim CDC und auch die Leute in Galveston sind schon seit einiger Zeit damit beschäftigt, eine Lösung zu finden, um das Virus bekämpfen zu können. Doch in den letzten achtzehn Monaten hat sich noch kein Ansatz bewährt. Wir sind noch nicht einmal nahe dran.«
Das hörte Seymour gar nicht gern, denn wenn diese Terrorzelle beschloss, eine der Ampullen in einer dicht bevölkerten Gegend zu öffnen und der Natur einfach ihren Lauf zu lassen, hatte das CDC keine nötigen Antworten auf die zu erwartende Pandemie.
Er wandte den Kopf, wofür er seinen gesamten Oberkörper drehen musste, weil der Schutzhelm direkt mit seinem Anzug verbunden war und sich nicht separat bewegen ließ. Das Erste, was er sah, war das ausgeblichene Schild über dem Jimmy Ray’s. Er deutete darauf. »Wieso fangen wir nicht einfach dort nach?«
»Suchen Sie nach etwas Bestimmten?«, fragte sie ihn.
Er drehte ihr wieder den Oberkörper zu. »Nach Überlebenden. Ground Zero. Alles, was mir Antworten auf die Fragen geben kann, die mir der Präsident der Vereinigten Staaten mit einiger Sicherheit stellen wird.«
Mit diesen Worten gab Seymour den Soldaten ein Zeichen, voranzugehen. Mit ihren Waffen im Anschlag und auf alles vorbereitet, betraten sie das Jimmy Ray’s.
Melbourne und Kendrick folgten unterdessen ihrer zugewiesenen Einheit durch die staubigen Gassen von Bensenville. Die Häuser auf beiden Seiten der Straße waren grau überzogen, die Farben darunter kaum noch auszumachen.
Als sich das Team einem der Häuser näherte, erspähten sie ein Paar, das auf der Veranda saß und ebenso gallertartig wirkte wie die Leichen auf der quadratischen Fläche. Bei näherer Untersuchung stellten sie fest, dass in dem Vorgarten einmal eine große Pappel gestanden hatte, die nun aber so tot und deren Rinde so sehr verfallen war, dass der Stamm jeden Moment umzufallen drohte. Totes graues Laub zierte die ursprünglich dichte Baumkrone.
Kendrick lief daran vorbei, dicht gefolgt von Melbourne und dem Rest des Teams, und begann die Stufen der Veranda hinaufzusteigen. Die Körper waren so verfallen, dass man ihr Geschlecht nicht mehr erkennen konnte. Das Einzige, was einen Hinweis darauf gab, war das Kleid, welches die Leiche in dem Stuhl links von Kendrick trug, und die Stiefel und der Overall an der Leiche in dem Stuhl auf der rechten Seite. Beide trugen Eheringe, auch wenn diese ins Fleisch eingesunken waren, als würde die Haut lediglich aus weichem Gummi bestehen.
Unter den Stühlen hatten sich Lachen einer dunkelroten Flüssigkeit gebildet.
»Sehen Sie das?«, fragte Kendrick.
Melbourne nickte. Natürlich sehe ich das. »Ja.«
Kendrick deutete auf den Mann, der noch immer in einer vermeintlich entspannten Pose dasaß und die Beine verschränkt hatte. »Er ist genau in dieser Position gestorben«, sagte er. »Der Virus hat ihn so hart und so schnell getroffen, dass ihm noch nicht einmal die Zeit für einen Todeskampf geblieben ist. Er war in dem Moment tot gewesen, als das Virus ihn befiel. Sie wahrscheinlich ebenfalls.«
Melbourne schwenkte den Kopf hin und her und sah sich um. Es war unwahrscheinlich, dass sie hier Überlebende finden würden. Aber wenn die beiden Brüder offenbar immun gegenüber dem Virus gewesen waren, gab es ja vielleicht auch noch andere. »In Ordnung, suchen wir das Gelände nach Überlebenden ab«, befahl er. »Lebende Menschen zu finden ist unser vorderstes Ziel. Durchsucht deshalb jedes Haus, jedes Geschäft, jeden Schuppen und jedes Plumpsklo. Die Leute werden wahrscheinlich verängstigt sein, und verängstigte Menschen verhalten sich gern mal irrational. Also seid vorsichtig da draußen und haltet die ganze Zeit über Kontakt mit eurem Team-Captain. Ich kann die Wichtigkeit unseres Einsatzes nicht deutlich genug hervorheben.«
Die Einheit teilte sich daraufhin in zwei Gruppen auf, von denen jede jeweils eine der Straßenseiten übernahm, und begann dann diese wie eine langsame Prozession entlang zu patrouillieren.
»Uns bleiben nur noch etwa vier Stunden, bevor die Sonne untergeht«, erklärte Kendrick. »Das wird nicht ausreichen, um die ganze Stadt nach Überlebenden durchkämmen zu können.«
Was Kendrick zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wusste, war, dass bereits Lastwagen aus einer Militärbasis weitere Ressourcen wie Flutlichtmasten in die Stadt brachten. Der Plan sah vor, kurz vor der Stadt einen Stützpunkt zu errichten, über den die Lichtbänke in der Stadt mit Strom versorgt werden sollten.
Das würde allerdings kein Blitzeinsatz werden, denn Bensenville war in Rekordzeit entvölkert worden. Es galt also, unzählige Proben zu nehmen und von führenden Medizinern und Virologen Autopsien vornehmen zu lassen, deren Ergebnisse die Wissenschaftler wohl für Wochen, wenn nicht sogar für Monate beschäftigen würden.
Bensenville war innerhalb kürzester Zeit zu einer überdimensionalen Petrischale geworden.
Kendrick trat von den Leichen zurück, nachdem er etwas von der wie Traubensaft aussehenden Flüssigkeit in ein Fläschchen gefüllt hatte. Dann legte er dieses in eine Kühlbox, die nicht größer als eine Brotdose war.
Melbourne warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Sie scheinen mehr über dieses Virus zu wissen als ich«, sagte er an Kendrick gewandt. »Verraten Sie mir also, wie hoch stehen die Chancen, hier noch jemanden zu finden, der am Leben ist?«
»Am Leben?« Er sah, wie Kendrick in seinem Helm den Kopf schüttelte. »Normalerweise würde ich diese Frage mit sehr gering beantworten. Aber nicht dieses Mal, nicht bei diesem Virus. Jeder, der sich im Umkreis von einer oder zwei Meilen befand, als die Kappe geöffnet wurde, ist definitiv tot. Daran besteht kein Zweifel.«
Melbourne blickte auf die Leichen hinunter. Zweiundachtzig Menschen, die in wenigen Minuten ihr Leben gelassen hatten, während sich der Virus wie Wellen in einem Teich ausbreitete, dachte er. Die beiden Brüder hatten das Glück gehabt, sich weit genug entfernt zu befinden, als der Virus von dem Land und seinen Bewohnern Besitz ergriffen hatte.
Es gab noch so viel zu tun und so viel zu sehen, während die Sonne langsam tiefer wanderte. Er würde Zeuge widerlicher, furchtbarer Dinge werden. Dinge, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, die nun aber Realität geworden waren, und das alles nur durch die dunkelste Seite im Menschen.
Er drehte sich um und betrachtete die Landschaft, sah das Grau, die Farbe trostloser Gedanken und Emotionen, und hätte sich in diesem Moment selbst kaum grauer und trostloser fühlen können. Wenn es sich bei diesem Virus tatsächlich um den Omega-Erreger handelte, dann würde ihn nichts und niemand aufhalten können.
Er seufzte leise.
»Melbourne«, sagte Kendrick und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir müssen jetzt gehen.«
Melbourne nickte und gab Kendrick zu verstehen, dass dieser vorausgehen sollte.
Und das tat Kendrick, er übernahm die Führung und verließ zusammen mit Melbourne die Veranda.
Das Innere der Bar muss auch schon vor dem Ausbruch der Infektion trostlos ausgesehen haben, dachte Seymour, als er den Hauptbereich betrat. Die Lichtverhältnisse waren äußerst dürftig, es war düster, aber nicht dunkel genug, um den grauen Schleier verdecken zu können, der sich auf den Boden, die Bar und die Tische herabgesenkt hatte. An einem Tisch hockten drei Körper. Zwei von ihnen hatten ihre scheinbar knochenlosen Hände um ihre Bierkrüge gelegt. Der Dritte verwelkte einfach auf seinem Stuhl, mit herabhängenden Armen, den Kopf leicht zu einer Seite geneigt. Das Fleisch hing in Falten an ihnen herab, als wäre es geschmolzen, ihre Augen waren asymmetrisch und ihre Kleidung war von den Flüssigkeiten durchnässt, die aus ihren Körpern gedrungen waren.
Hinter der Bar fanden sie noch einen vierten Leichnam, der mit dem Gesicht nach unten in einer Lache aus seinen eigenen Körperflüssigkeiten lag, die dunkel und zähflüssig wie Sirup waren. Unter seinen Kleidungsstücken zeichnete sich ein Körper ab, der seltsam entstellt wirkte, als würde etwas mit seinem Knochenbau