Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich

Der Erste Weltkrieg - Dr. Karl Theodor Helfferich


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wollte. Am 5. Oktober 1908 proklamierte Österreich-Ungarn die Erstreckung seiner Souveränität auf die beiden Länder. Gleichzeitig erklärte Bulgarien, das bisher formell türkischer Vasallenstaat gewesen war, seine Unabhängigkeit, wie man in der Türkei annahm, auf Grund einer Verständigung mit Österreich -Ungarn.

      Die Erregung in der Türkei war ungeheuer. Obwohl de facto Bosnien und die Herzegowina seit dreißig Jahren von der Türkei losgetrennt waren und die Türkei seither niemals irgendwelche Souveränitätsrechte in diesen Ländern ausgeübt hatte, empfanden die Jungtürken die österreichisch-ungarische Proklamation als einen Faustschlag ins Gesicht, und von Seiten der den Mittelmächten nicht wohlgesinnten Mächte geschah natürlich alles, um Öl ins Feuer zu gießen. Deutschland als der Verbündete Österreich-Ungarns wurde für den der jungen Türkei zugefügten Affront mitverantwortlich gemacht. Der deutsche Botschafter Freiherr von Marschall, der von dem Schritt Aehrenthals genau so überrascht wurde wie die Türken, sah die durch den inneren Umschwung ohnedies bedrohten Früchte seiner langjährigen und erfolgreichen Arbeit in der Türkei durch das Vorgehen des Bundesgenossen, dessen Notwendigkeit er nicht anerkannte, ernstlich in Frage gestellt. Ich war damals von der Deutschen Bank nach Konstantinopel, meinem im Juli, kurz vor Ausbruch der Revolution, verlassenen früheren Wirkungskreis, gesandt worden, um unter den schwierig gewordenen Verhältnissen die Interessen des in der Türkei investierten deutschen Kapitals und der dort arbeitenden deutschen Unternehmungen wahrzunehmen. Herr von Marschall machte mir aus seinem Unmut und seiner abfälligen Beurteilung der Aehrenthalschen Politik kein Hehl und beauftragte mich, nach meiner Rückkehr nach Berlin dem Fürsten Bülow seine Befürchtungen eindringlich auseinanderzusetzen. Ich entledigte mich dieses Auftrages. Der Fürst hörte meine Darlegungen aufmerksam an und antwortete mir dann: "Sagen Sie dem Baron Marschall, wenn Sie wieder nach Konstantinopel kommen, dass es in der deutschen Geschichte keinen zweiten Basler Frieden geben darf, und dass ich jedenfalls einen Basler Frieden nicht machen werde." Er setzte mir dann auseinander, dass Österreich -Ungarn die großserbische Bewegung als eine vitale Gefahr für die Monarchie ansehe und wohl auch ansehen müsse; dass wir keine Möglichkeit hätten, Österreich -Ungarn bei seinen Abwehrmaßnahmen gegen diese Gefahr in den Arm zu fallen, dass uns vielmehr die politische Gesamtkonstellation nötige, uns ohne Wanken und Schwanken hinter unseren Bundesgenossen bei der Wahrung seiner Lebensinteressen zu stellen. Der Türkei gegenüber müsse sich unsere Hilfe darauf beschränken, dass wir ihr zu einem für Österreich-Ungarn annehmbaren Ausgleich verhülfen und ihr im Übrigen auf anderen Gebieten ihre schwierige Lage soweit wie möglich erleichterten.

      Nach diesem Programm wurde gehandelt. Unter Mitwirkung der deutschen Diplomatie kam im Februar 1909 eine Verständigung zwischen Österreich -Ungarn und der Türkei zustande.

      Aber die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina in die österreichisch-ungarische Souveränität war nicht nur gegenüber der Türkei durchzukämpfen, sondern in noch viel stärkerem Maße gegenüber anderen nicht unmittelbar beteiligten Mächten. Vor allem kam es in Serbien geradezu zu einem Wutausbruch ; man betrachtete dort Bosnien und die Herzegowina als großserbisches Gebiet und sah in der von Österreich-Ungarn ausgesprochenen Annexion eine gegen die großserbischen Aspirationen gerichtete Maßnahme. Die ganz offen zum Kriege treibende großserbische Partei fand Rückendeckung bei Russland, obwohl Iswolski, damals Minister der Auswärtigen Angelegenheiten in Petersburg, wenige Wochen vor der Verkündigung der Annexion von Baron Aehrenthal, allerdings ohne Terminangabe, über die österreichische Absicht verständigt worden war und keinen Widerspruch erhoben hatte. Bezeichnend war aber vor allem, dass fast noch mehr als Russland die britische Regierung sich entrüstete und Stellung gegen Österreich-Ungarn nahm. Die britische Regierung, die wenige Jahre zuvor mit Frankreich über die marokkanischen Angelegenheiten eine Abmachung getroffen hatte, die nicht nur eine formale sondern auch eine schwerwiegende materielle Verletzung der Madrider Konvention war, stellte sich jetzt gegenüber dem Vorgehen Österreich -Ungarns, das allerdings einen formalen Verstoß gegen den Berliner Vertrag bedeutete, materiell aber keine Änderung in dem bisherigen Zustande schuf, mit aller Strenge auf den an sich zweifellos berechtigten Standpunkt, dass internationale Verträge nur im Einverständnis der sämtlichen Unterzeichner abgeändert werden dürften. In Petersburg arbeitete die britische Diplomatie, vertreten durch den Botschafter Sir Arthur Nicolson, den Vater der britisch-russischen Entente, mit allen Mitteln auf eine Verschärfung des österreichisch-russischen Konflikts. Obwohl keinerlei britische Interessen im Spiel waren, sagte die britische Regierung der russischen die weitestgehende diplomatische Unterstützung zu. Es Hegen Anzeichen dafür vor, dass auch über die diplomatische Unterstützung hinaus die britische Regierung der russischen jede Aufmunterung zuteilwerden ließ, die für eine kriegerische Zuspitzung erforderlich war. Ebenso wie im Jahre 1905 der französischen Regierung für den Fall eines kriegerischen Austrages der Marokkofrage militärische Unterstützung angeboten worden war, wurde jetzt der russischen Regierung die Aussicht auf britische Waffenhilfe gezeigt. Späterhin ist eine Äußerung Sir Edward Greys bekanntgeworden, die dieser nach Russlands Einlenken zu dem russischen Geschäftsträger getan hat: Die Entscheidung über Krieg und Frieden hänge in England nicht von der Regierung, sondern von der öffentlichen Meinung ab; er habe aber das Gefühl gehabt, dass die öffentliche Meinung in England genügend vorbereitet gewesen sei, um der Regierung ein Eingreifen Englands an der Seite Russlands in den Krieg zu ermöglichen.

      Die deutsche Politik der " Nibelungentreue" erzielte damals einen vollen Erfolg, Trotz der englischen Aufstachelung zog es die russische Regierung vor, auf einen deutschen Vorschlag einzugehen, der ihr ermöglichte, bei der Aufgabe des Widerspruchs gegen den österreichisch-ungarischen Schritt einigermaßen das Gesicht zu wahren. Es ist kein Zweifel, dass die klare Bekundung der unbedingten Entschlossenheit des Deutschen Reichs, auf jede Gefahr hin zu dem österreichisch-ungarischen Verbündeten zu stehen, in erster Reihe dazu beigetragen hat, den Krieg zu vermeiden. Ein von Deutschland nicht unzweideutig gedecktes Österreich-Ungarn hätte entweder sich den lärmenden Forderungen der Serben und ihrer Hintermänner unterwerfen müssen, oder es wäre zum Krieg gekommen, den gegen Österreich-Ungarn und Deutschland zu führen man sich an der Newa nach der Schwächung durch den russischjapanischen Krieg und die inneren Wirren nicht stark genug fühlte.

      Verständigungsversuche mit

       Frankreich und Russland

      Frankreich zeigte, im Gegensatz zu England, in jener Krise eine bemerkenswerte Zurückhaltung. Diese mag verursacht gewesen sein einmal dadurch, dass man in Paris die mangelhafte Bereitschaft des russischen Bundesgenossen genau kannte; dann aber mag mitgewirkt haben, dass gerade in jener Zeit die deutsche Regierung Verhandlungen mit Frankreich über die Schaffung eines modus vivendi in Marokko einleitete, die am 9. Februar 1909 zu einem Abkommen führten, das man in Frankreich als weitherziges deutsches Entgegenkommen mit Fug und Recht betrachten konnte. Während die französische Regierung erneut die Unabhängigkeit und Integrität des Sultanats Marokko zu respektieren versprach, erkannte die deutsche Regierung die besonderen politischen Interessen Frankreichs an der Festigung des Friedens und der Ordnung im Innern Marokkos an und stellte ausdrücklich fest, dass sie selbst in Marokko lediglich wirtschaftliche Interessen verfolge. Dafür verpflichtete sich die französische Regierung, die kaufmännischen und industriellen Interessen Deutschlands in Marokko nicht zu beeinträchtigen. Schließlich kamen beide Regierungen dahin überein, keinerlei wirtschaftliches Vorzugsrecht in Marokko zu schaffen und dahin zu streben, ihre Staatsangehörigen in den Geschäften, deren Ausführung ihnen übertragen werden könnte, zu gemeinschaftlichem Vorgehen zu verbinden.

      Das Abkommen mit Frankreich war, ebenso wie die glückliche Beilegung des österreichisch-russischen Konflikts, im Wesentlichen das Werk des Gesandten von Kiderlen-Wächter, der damals in Vertretung des erkrankten Herrn von Schoen das Auswärtige Amt leitete.

      Kiderlens Absicht war, die marokkanische Streitfrage in einer für Deutschland erträglichen Weise zu liquidieren, dadurch das deutsch-französische Verhältnis von einer schweren Belastung zu befreien und darüber hinaus ein wirtschaftliches Zusammenarbeiten der beiden Nationen herbeizuführen und so auf einem nicht unwichtigen Gebiet, das bisher Reibungsfläche war, eine Interessensolidarität zu begründen. Es ist dies, in der Anwendung auf den marokkanischen Einzelfall, der Grundgedanke der Politik, die Kiderlen in


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