Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
zu einer Verstimmung, als jenes bald nach Ausbruch des Tripoliskrieges den bisher zu Tripolitanien gehörigen Hafen von Solum, nahe der ägyptischen Grenze, kurzerhand besetzte. Dazu kam, dass auch zwischen Russland und England aus Anlass des Tripoliskrieges eine nicht unerhebliche Schwierigkeit entstand, über die bisher meines Wissens in der Öffentlichkeit nichts bekanntgeworden ist. Die türkische Regierung hatte aus Besorgnis vor italienischen Angriffen die Dardanellen gesperrt. Die sich daraus ergebende Behinderung der russischen Handelsschifffahrt wurde von der russischen Regierung benutzt, um die Dardanellenfrage aufzuwerfen. Der russische Botschafter Tscharikoff stellte bei der Pforte weitgehende Forderungen. Die englische Diplomatie hielt sich demgegenüber vorsichtig zurück, offenbar in der Hoffnung, dass Deutschland und Österreich-Ungarn gegen die russischen Forderungen, dem ihr bekannten Wunsch der Türkei entsprechend, Einspruch erheben würden. In der Tat wurde ein solcher die Türkei gegen Russland deckender Einspruch von den Botschaftern Österreich-Ungarns und Deutschlands bei ihren Regierungen dringend befürwortet. Freiherr von Marschall ging sogar so weit, die Kabinettsfrage zu stellen. Kiderlen, der keine Neigung hatte, den Engländern das Odium des Einspruchs bei Russland abzunehmen, setzte seinen Standpunkt durch, und Deutschland und Österreich-Ungarn blieben Gewehr bei Fuß. Die Wirkung war, wie Kiderlen mir erzählte, dass der russische Botschafter in London, Graf Benckendorff, den russischen Minister des Auswärtigen, Ssasonoff, kniefällig bat, im Interesse der Erhaltung der britisch-russischen Entente die in Konstantinopel gestellten Forderungen zurückzuziehen. Dies geschah, und Tscharikoff, der lediglich die ihm gegebenen Weisungen ausgeführt hatte, wurde geopfert.
So hat der Tripoliskrieg die Wirkung gehabt, einerseits in einem wichtigen Punkte ein gegensätzliches Interesse zwischen England und Russland zutage treten zu lassen, andrerseits die Freundschaft zwischen Italien und Frankreich-England wenigstens vorübergehend zu trüben und Italien seinen Verbündeten wieder näherzubringen. Die Erneuerung des Dreibundvertrags, die erst im Jahre 1914 erforderlich gewesen wäre, wurde unter diesen Verhältnissen schon im Frühjahr 1912 in Verhandlung genommen und im Dezember 1912 unterzeichnet. Es schien einen Augenblick, als ob die von König Eduard VII. eingeleitete Einkreisungspolitik nach dem Tode dieses Monarchen (Mai 1910) nun doch allmählich ihre Kraft verlieren sollte
Aber das Unheil war im Rollen.
Noch ehe es, unter wirksamer Förderung seitens der deutschen Regierung, zwischen Italien und der Türkei zum Frieden kam, zog sich auf dem Balkan ein neues Gewitter zusammen.
Die beiden Balkankriege
Schon im Februar 1912 war zwischen Serbien und Bulgarien unter nachdrücklicher Förderung Russlands ein geheimer Vertrag zustande gekommen, der im Laufe der nächsten Monate inhaltlich erweitert und durch einen bulgarisch-griechischen Vertrag, durch Militärkonventionen zwischen diesen Staaten, sowie durch Abmachungen mit Montenegro ergänzt wurde. Diese Verträge, die den sogenannten" Balkanbund" schufen, richteten sich in erster Linie gegen die Türkei, deren albanische und mazedonische Provinzen das Kriegsziel waren. Daneben aber enthielten die bulgarisch-serbischen Abmachungen die Verpflichtung zum gegenseitigen Beistand im Falle eines Angriffs Österreich-Ungarns; darüber hinaus verpflichtete sich Bulgarien zur Waffenhilfe für Serbien, falls dieses durch Österreich-Ungarn an einer Erweiterung seines Gebiets bis zum Adriatischen Meer durch Besetzung albanischer und mazedonischer Landesteile verhindert werden sollte. Der russische Zar war in den serbisch-bulgarischen Verträgen für den Fall von Meinungsverschiedenheiten als Schiedsrichter ausersehen.
Im August 1912 begann Bulgarien, seine Forderungen nach Reformen in Mazedonien bei der türkischen Regierung zu stellen. Ende September folgte ein einheitliches Vorgehen der sämtlichen Balkanmächte, und am 8. Oktober eröffnete Montenegro mit dem Einmarsch in türkisches Gebiet die Feindseligkeiten.
Kiderlen hatte sich nach Kräften bemüht, eine Einigung zwischen Österreich-Ungarn und Russland zum Zwecke der Verhinderung des Kriegs oder — wenn sich das als unmöglich erweisen sollte — zum Zwecke der Lokalisierung des Kriegs herbeizuführen. Das Petersburger Kabinett war scheinbar auf diese Bemühungen eingegangen, aber seine Vertreter in Belgrad, Herr Hartwig, und in Paris, Herr Iswolski, arbeiteten mit Erfolg im entgegengesetzten Sinn. Das Verhalten der französischen Regierung war undurchsichtig. Angesichts der großen französischen Interessen, die sowohl in der Türkei wie in den Balkanstaaten auf dem Spiel standen, schien sie Neigung zu haben, im Sinne der Erhaltung des Friedens zu wirken; andrerseits war der Einfluss Iswolskis unverkennbar. London hüllte sich in den kritischen Tagen in völlige Zurückhaltung; Sir Edward Grey blieb trotz der Zuspitzung der Lage in seinem Landaufenthalt, und Sir Arthur Nicolson, der ihn vertrat, gab auf die Sondierungen über das Verhalten der britischen Regierung keine Antwort. Am 8. Oktober meldete das Reutersche Telegraphenbureau die Kriegserklärung Montenegros an die Türkei. Das Wiener amtliche Telegraphenbureau brachte zunächst ein Dementi, meldete aber dann noch an demselben Tage die Abberufung des montenegrinischen Gesandten in Konstantinopel und die Zustellung der Pässe an den türkischen Gesandten in Cetinje.
Am gleichen Tage passierte der russische Minister des Äußeren auf der Durchreise von Paris nach Petersburg Berlin. Ich sah Kiderlen am Abend, nachdem er vorher eine lange Unterredung mit Ssasonoff gehabt hatte. Kiderlen hat Ssasonoff auf den Kopf zugesagt, dass Russland die Balkanstaaten zum Krieg gegen die Türkei zusammengebracht habe. Ssasonoff leugnete die russische Vaterschaft am Balkanbund nicht, behauptete aber, Russland habe den Bund lediglich zu defensiven Zwecken ins Leben gerufen. Kiderlen antwortete: " II y a quelqu'un a Paris qui pourrait vous renseigner la-dessus." Gemeint war der Botschafter Iswolski, Kiderlen brachte außerdem bei dieser Gelegenheit die Inspektion der französischen Grenzfestungen durch den Großfürsten Nicolai Nicolajewitsch zur Sprache, ferner die zwischen Russland und Frankreich damals abgeschlossene Marinekonvention, den von der russischen Flotte gleichzeitig mit der britischen m Kopenhagen geplanten Besuch, die von Russland damals vorbereitete Probemobilmachung. Das sei etwas viel auf einmal und könne von uns nicht unbeachtet bleiben.
Auch in den folgenden Tagen geschah weder von Russland noch von England oder Frankreich ein wirksamer Schritt, der den Krieg hätte verhindern können.
In rascher Folge erlitt die türkische Armee in Mazedonien und Thrazien schwere Niederlagen. Das ganze Gebiet der europäischen Türkei bis auf das unmittelbare Vorgelände von Konstantinopel ging im Verlauf weniger Wochen verloren. Erst an der Konstantinopel schützenden Tschataldjalinie vermochte die Türkei einen wirksamen Widerstand zu organisieren.
Die Großmächte, deren Vertreter auf Anregung Kiderlens beim Ausbruch des Krieges in London zu einer ständigen Konferenz zusammengetreten waren, hatten zunächst die Aufrechterhaltung des Status quo auf dem Balkan ohne Rücksicht auf den Gang, den die militärischen Operationen nehmen sollten, proklamiert. Dieser Standpunkt wurde angesichts der großen und raschen Erfolge der Balkanstaaten unhaltbar. Die Balkanfrage war jetzt in vollem Umfang und in ihrer ganzen Gefährlichkeit aufgerollt.
Das Bestreben der deutschen Politik war, einmal zu verhindern, dass Österreich-Ungarn in den Konflikt hineingezogen würde, ferner die österreichisch-ungarischen und die italienischen Interessen in Einklang zu bringen; schließlich England und womöglich auch Frankreich gegenüber dem russischen Ungestüm für eine Politik des kalten Blutes zu gewinnen.
Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges hatte die türkische Regierung das sofortige Eingreifen Österreich-Ungarns durch das Angebot des Sandschaks Novibazar herbeizuführen versucht. Kiderlen setzte sich in Wien für die Ablehnung dieses verlockenden Angebotes ein, dessen Annahme wohl den sofortigen Krieg mit Russland zur Folge gehabt hätte. Nachdem der status quo unwiederbringlich verloren schien, nahm Österreich-Ungarn das lebhafteste Interesse daran, dass Albanien nicht unter serbische Herrschaft komme und dass Serbien sich nicht bis zur Adria ausdehne. Gegenüber den teilweise römisch-katholischen Albanesen hatte Österreich sich schon seit längerer Zeit als Schutzmacht gefühlt und war in diesem Sinne für dieses Bergvolk bei der Pforte eingetreten. In einem Vordringen der Serben über albanesisches Gebiet bis zum Meer sah die österreichisch-ungarische Politik eine nicht erträgliche Steigerung der großserbischen Bedrohung vom Südosten her.
Über ihren Standpunkt in dieser Frage hatte die Wiener Regierung von Anfang an keinen Zweifel