Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
und mehr, als er diesen sagen könne. Ein Vergnügen sei es nicht, an seiner Stelle zu stehen. Gott sei Dank habe er die nötigen Nerven, um die Partie durchzuhalten. Wenige Wochen später, am 30. Dezember 1912, erlag Kiderlen einem Schlaganfall. Die deutsche Diplomatie verlor mit ihm ihre stärkste Kraft.
Im Januar wurde zwischen den Balkanstaaten und der Türkei ein Waffenstillstand abgeschlossen. In London wurde unter Mitwirkung der Botschafter der Großmächte über den Frieden verhandelt, sehr zum Ärger Poincares, der die Friedenskonferenz gern unter seinem Vorsitz in Paris gehabt hätte und nun darauf bestand, dass die mit dem Balkanfrieden zusammenhängenden finanziellen und wirtschaftlichen Fragen in einer Sonderkonferenz in Paris behandelt würden. Diese Sonderkonferenz, zu der ich wegen meiner Vertrautheit mit den türkischen Finanz- und Eisenbahnfragen von der deutschen Regierung neben dem Pariser Botschaftsrat Freiherrn von der Lancken und den Herren Dr. Schwabach und Generalkonsul a. D. Pritsch, dem deutschen Delegierten bei der türkischen Staatsschuldenverwaltung, als Vertreter entsandt wurde, ist im Frühjahr 1913 zusammengetreten.
Inzwischen spitzte sich der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn einerseits, Serbien und Russland andrerseits in der albanesischen Frage weiter zu. Serbien verlangte große Teile rein albanesischen Gebiets ; Österreich-Ungarn setzte diesen Forderungen den stärksten Widerstand entgegen. Ich war mit meinem Kollegen von Gwinner am 31. Januar und 1. Februar 1913 zu wichtigen Verhandlungen über die Orientbahnen, für die sich die österreichisch-ungarische Regierung interessierte, in Wien. Der Staatssekretär von Jagow, den wir vor der Abreise besuchten, hatte uns auf den Weg gegeben: "Sagen Sie den Herren am Ballplatz, dass uns hier die albanesische Sache einige Sorge macht." Ich hatte zunächst Gelegenheit, mit dem Sektionschef im Auswärtigen Ministerium, Grafen Wyckenburg, über diese Dinge zu sprechen. Er sagte mir, die große Gefahr halte er eigentlich für überwunden, aber Österreich-Ungarn müsse jetzt in den sehr wichtigen Einzelheiten durchhalten. Man brauche Albanien als Damm gegen die wachsende südslawische Hochflut. Der Damm müsse so ausgestattet werden, dass er stehen könne. Das gelte namentlich auch für die Abgrenzungsfrage; aber gerade hier mache Russland die ärgerlichsten Schwierigkeiten und lasse sich jeden Fußbreit albanesischen Bodens abnötigen und abringen. Das müsse eben durchgefochten werden. Ich äußerte meine Zweifel an dem Wert des albanesischen Damms. Die Albanesen unterschieden sich nach meiner Kenntnis von den anderen Völkern dadurch, dass das Wort des Aristoteles, der Mensch sei ein "zoon politikon", auf sie nicht zutreffe; sie hätten niemals staatsbildende Kraft bewiesen, und ich könne die Besorgnis nicht loswerden, dass ein albanesischer Staat für seine Väter keine Sicherung, sondern eine Quelle von Unruhen und Sorgen sein werde. Mit dem Grafen Berchtold hatte ich am 31. Januar nach einem Frühstück bei dem Gouverneur der k. u. k. Bodenkreditanstalt, Herrn Sieghard, eine Unterhaltung, die folgendermaßen verlief: Graf Berchtold fragte mich ziemlich unvermittelt, was man in Deutschland eigentlich über die Situation denke, und ob man, wie es den Anschein habe, wirklich unter allen Umständen den Frieden durchhalten wolle. Ich antwortete, nach meiner Überzeugung wollten in Deutschland alle verantwortlichen Leute ernsthaft den Frieden. Graf Berchtold entgegnete, mit einem sehr ernsten Hinweis auf die immer stärkere Zuspitzung der Gefahr, die der Monarchie und damit dem Deutschtum vom Südosten her drohe: er besorge, dass auf die Dauer die große Auseinandersetzung zwischen Germanen und Slawen sich nicht werde vermeiden lassen. Ich erinnerte an Bismarcks Wort, dass man der Vorsehung nicht in die Karten sehen könne; aber auch wenn eine solche Auseinandersetzung sich als unvermeidlich erweisen sollte, so sei nach meiner Ansicht jedes Jahr, in dem der Friede erhalten bleibe, für Deutschland gewonnen, das fortgesetzt an Bevölkerung, wie an wirtschaftlicher und finanzieller Kraft zunehme. Es ist mir bei dieser Unterhaltung völlig klargeworden, wie sehr die großserbischen Bestrebungen in der Auffassung der Staatsmänner unseres österreichisch-ungarischen Verbündeten sich zu einer Lebensgefahr für die Monarchie zugespitzt hatten. Zwar ist bald darauf, im März 1913, der akute Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Russland beigelegt worden. Aber ich konnte in dieser Beilegung nur eine Atempause sehen. Ich habe seit jener Zeit die Vorgänge auf dem Balkan mit verdoppelter Sorge beobachtet , in der Überzeugung, dass die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien einer neuen starken Belastung nicht gewachsen seien und dass bei der Haltung Russlands jeder österreichisch-serbische Konflikt die eminente Gefahr des Weltkriegs unmittelbar heraufbeschwören würde. Meine Wahrnehmungen bei der Pariser Konferenz zur Regelung der aus dem Balkankrieg erwachsenen finanziellen Fragen bestärkten diese Überzeugung. Die Konferenz übertrug mir den Vorsitz der Kommission, die über die Übernahme eines Teiles der türkischen Staatsschuld durch die Balkanstaaten, denen im Londoner Präliminarfrieden der größte Teil der europäischen Türkei zugesprochen worden war, beraten sollte. Ich hatte Gelegenheit, zu beobachten, bis zu welchem Grade der Überhebung und Herausforderung die kriegerischen Erfolge gegen die Türkei die serbischen Gemüter erhitzt hatten, wie der russische Botschafter Iswolksi nicht nur die Vertreter der Balkanstaaten dirigierte und aufreizte, sondern auch die französischen Vertreter an der Leine hielt. An einer gerechten Lösung gerade der in meiner Kommission zu entscheidenden Fragen war Frankreich, als weitaus größter Gläubiger der Türkei, weitaus am stärksten interessiert. Aber die französische Regierung und ihre Vertreter stellten selbst diese großen Interessen zurück, um nicht' mit Russland in Differenzen zu kommen. Der englische Vertreter, Sir Paul Harvey, der Berichterstatter in meiner Kommission war, verhielt sich sachlich und loyal. Dagegen erwies sich die italienische Vertretung, die hauptsächlich durch Herrn Volpi, den Unterhändler des Friedens von Lausanne, geleitet wurde, als unzuverlässig und hinterhältig und als stets geneigt, mit Serbien, Montenegro und Russland gemeinschaftliche Sache zu machen. Alles in allem wuchs bei mir in jenen Monaten die Gewissheit, dass Russland die Balkanstaaten in ihrer Begehrlichkeit nicht nur unterstützte, sondern anstachelte und damit den Herd der Weltkriegsgefahr fortgesetzt anheizte ; dass Frankreich gelegentlich mit ins Feuer blies und jedenfalls sich von Russland unter keinen Umständen trennen wollte, auch wenn große eigne Interessen auf dem Spiele standen ; dass England in äußerlich korrekter, aber undurchsichtiger Haltung abwartete ; dass auf Italien trotz der mit Österreich-Ungarn über Albanien erzielten Einigung, die übrigens sofort Sprünge und Risse zeigte, keinerlei Verlass war. Ein positives Ergebnis hatte die Pariser Konferenz nicht. Ehe sie ihre Beratungen dem Abschluss nahebringen konnte, führten die Streitigkeiten zwischen Bulgarien einerseits, Serbien und Griechenland andererseits über die Verteilung des von der Türkei nach dem Londoner Präliminarfrieden abzutretenden Gebiets zu dem zweiten Balkankrieg. Rumänien griff gegen Bulgarien ein. Die Türkei stieß unter Führung Envers nach Adrianopel vor. In kurzer Zeit sah sich Bulgarien genötigt, die Waffen zu strecken. Der Bukarester Friede ließ Bulgarien nur einen geringen Teil des ihm ursprünglich zugedachten Landgewinnes und nahm ihm zugunsten Rumäniens einen Teil der Süd-Dobrudscha, während Griechenland und vor allem Serbien eine gewaltige Vergrößerung erfuhren.
Die österreichisch-ungarische Diplomatie, die Serbien nicht zu groß werden lassen und sich in dem allerdings stark geschwächten Bulgarien ein Gegengewicht gegen Serbien sichern wollte, verlangte zugunsten Bulgariens eine Revision des Bukarester Friedens. Sie setzte sich dabei über die Tatsache hinaus, dass Bulgarien ein Jahr zuvor — trotz der Unterstützung, die es an Österreich-Ungarn bei seiner Unabhängigkeitserklärung erfahren hatte — jenen Vertrag mit Serbien abgeschlossen hatte, der letzterem auch gegenüber Österreich-Ungarn Waffenhilfe zusagte. Sie stellte ferner nicht genügend in Rechnung, dass angesichts der hervorragenden Beteiligung Rumäniens an dem Bukarester Frieden ein solcher Einspruch Rumänien vor den Kopf stoßen und die ohnedies starken entente-freundlichen Bestrebungen in Rumänien noch fördern und begünstigen musste. Die deutsche Politik trat in sichtbarem Gegensatz zur österreichisch-ungarischen für die Aufrechterhaltung des Bukarester Friedens ein, in der Absicht, die beiden nichtslawischen Balkanstaaten, Rumänien und Griechenland, für die Mittelmächte günstig zu stimmen. Österreich-Ungarn zog angesichts der Haltung Deutschlands verstimmt und grollend sein Verlangen nach Revision des Bukarester Friedens zurück.
Die großserbische Gefahr blieb für Österreich-Ungarn nach dem zweiten Balkankrieg nicht nur in vollem Umfang bestehen, sie war vielmehr größer geworden als je zuvor. Das auf nahezu das Doppelte seines bisherigen Umfangs vergrößerte Serbien war weit entfernt, gesättigt zu sein; im Gegenteil, mit dem durch seine kriegerischen Leistungen und Erfolge gesteigerten Selbstbewusstsein wandte es seine Augen nun erst recht gegen Westen, und lauter denn je verkündigte die großserbische