Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
Desinteressement an den balkanischen Dingen erklären, konnte man deshalb in diesem Vorschlag nur einen bewussten und gewollten Vorstoß gegen Österreich-Ungarn erblicken.
Der Vorstoß wurde abgeschlagen. Ebenso wie die österreichisch-ungarische Regierung war die italienische Regierung entschlossen, sich bei Veränderungen des territorialen Status auf der Balkanhalbinsel nicht beiseiteschieben zu lassen. In Unterhaltungen mit San Giuliano, dem italienischen Minister des Auswärtigen, der in jenen Novembertagen zur Besprechung über die Erneuerung des Dreibundes in Berlin weilte, gelang es, eine einheitliche Politik der Dreibundmächte in der Balkanfrage festzulegen. Vor allem einigte man sich über die Schaffung eines autonomen Albaniens, das unter österreichisch-ungarischem und italienischem Schutze stehen sollte.
Das geschlossene Auftreten der Dreibundmächte tat seine Wirkung. Vor allem rückte die britische Regierung von dem Vorstoß Poincarés ab. Kiderlen erzählte mir am 9. November, England zeige uns gegenüber eine auffallende Beflissenheit. Der britische Botschafter sei in seiner ganzen Amtszeit noch nie so häufig unaufgefordert zu ihm gekommen und habe sich noch nie so eingehend mit ihm ausgesprochen wie in den letzten acht Tagen; und ebenso lasse Sir Edward Grey fortgesetzt den deutschen Geschäftsträger zu sich bitten. Das Ergebnis dieser deutsch-englischen Konversationen kam zum Ausdruck in einer Rede des britischen Premierministers Asquith beim Lordmayorsbankett am 9. November, in der er sagte: England sei an den Veränderungen auf dem Balkan nicht unmittelbar interessiert; es seien aber andere Mächte vorhanden, von denen nicht erwartet werden könne, sie würden nicht verlangen, dass ihre Stimme gehört werden müsse, wenn die Zeit für die endgültige Regelung gekommen sei. Solange der Kriegszustand andauere, lehne es die britische Regierung ab, einzelne Fragen zu behandeln, die getrennt und sogleich aufgeworfen wahrscheinlich nicht wieder gutzumachende Differenzen hervorrufen würden, die aber wohl ein besseres Aussehen annehmen würden, wenn man sie zurückstellte, um sie dann unter dem weiteren Gesichtspunkt des allgemeinen Ausgleichs zu behandeln.
Also im Gegensatz zu dem Vorschlag Poincarés eine glatte Anerkennung der Berechtigung des österreichisch-ungarischen und italienischen Verlangens, bei der Neuregelung der territorialen Verhältnisse auf dem Balkan mitzureden; aber im Einverständnis mit der deutschen Politik Zurückstellung der Einzelfragen bis zu dem Zeitpunkt, der eine Gesamtregelung gestatten würde.
Auffallend, aber bezeichnend für die englische Politik, ist die Tatsache, dass jenes Abrücken der britischen Regierung von dem von der französischen Regierung unklugerweise eingenommenen Standpunkt und ihre Zusammenarbeit mit der deutschen Diplomatie zeitlich fast zusammenfiel mit einer starken formellen Bekräftigung der diplomatischen und militärischen Entente mit Frankreich. Am 22. und 23. November 1912, also vierzehn Tage nach der Guildhall-Rede des Herrn Asquith, wurde der Schriftwechsel zwischen Sir Edward Grey und M. Paul Cambon ausgetauscht, der zum ersten Mal die seit 1906 getroffenen mündlichen Abreden über eine englisch-französische Kooperation im Falle eines " nicht herausgeforderten Angriffs" schriftlich niederlegte. Die Vermutung eines ursächlichen Zusammenhangs liegt nahe. Die französische Regierung fühlte sich durch das englisch-deutsche Zusammengehen in den Balkanfragen zweifellos beunruhigt, und die leitenden britischen Staatsmänner hielten es für angezeigt, diese Beunruhigung dadurch zu beheben, dass sie dem französischen Ententegenossen ein stärkeres formelles Pfand, als es bisher gegeben worden war, in die Hand drückten und ihm dadurch die Gewissheit gaben, dass durch eine gelegentliche Meinungsverschiedenheit in Fragen der diplomatischen Taktik an dem britisch-französischen Bundesverhältnis nichts geändert werde.
Während England auf diese Weise Wasser auf beiden Schultern trug, kam die deutsche Regierung in die Lage, einen ernstlichen Druck auf die verbündete Donaumonarchie auszuüben.
Der Vormarsch der Serben durch albanisches Gebiet nach der Adria und die Nachrichten über entsetzliche Gräuel, die von der serbischen Armee in Albanien begangen wurden, weckten in Wien starke Erregung und die Neigung zu einem sofortigen Eingreifen. Russlands Haltung, das unter dem Titel der Probemobilmachung starke Streitkräfte an der galizischen Grenze zusammenzog, war nicht geeignet, diese Erregung zu mildern.
Für die Haltung des Deutschen Kaisers in dieser für die deutsche Politik schwierigen Lage, die eine große Ähnlichkeit mit der Lage vom Juli 1914 hat, ist ein Telegramm bezeichnend, das Wilhelm II. damals an den Reichskanzler richtete, des Inhalts: Der Bündnisvertrag mit Österreich-Ungarn zwinge uns, zu marschieren, wenn Österreich-Ungarn von Russland angegriffen werde. Dann werde auch Frankreich hineingezogen werden, und England werde unter solchen Umständen wohl auch nicht ruhig bleiben. Die jetzt schwebenden Streitfragen ständen zu dieser Gefahr in keinem Verhältnis. Es könne nicht der Sinn des Bündnisvertrages sein, dass wir, ohne dass Lebensinteressen des Verbündeten bedroht seien, für eine Laune des Verbündeten in einen Kampf auf Leben und Tod gehen müssten. Wenn sich allerdings zeigen sollte, dass die andere Seite einen Angriff beabsichtige, dann werde man jede Gefahr auf sich nehmen müssen.
Dieser ruhige und feste Standpunkt, der allein den Frieden erhalten konnte, war für die deutsche Politik auch in der weiteren Entwicklung maßgebend. Er wurde durchgehalten sowohl gegenüber einem starken russischen Druck wie auch gegenüber anders gerichteten Tendenzen und vorübergehenden Verstimmungen in Wien.
Russland suchte in Berlin mit Drohungen zu wirken. So sagte mir am 18. November der erste Sekretär der russischen Botschaft, Herr Botkin, den Serben könne der Zugang zur Adria unmöglich verweigert werden; wenn Österreich-Ungarn sich dagegenstelle, werde Russland in Rücksicht auf seine öffentliche Meinung gezwungen sein, einzugreifen, und das bedeute den Weltkrieg. Zwei Tage später hatte ich den Besuch des Herrn Davydoff , früher Chef der russischen Reichsrentei und rechte Hand des Herrn Kokowzoff, jetzt Präsident der Russischen Bank für auswärtigen Handel. Er kam aus Paris, wo er eine Anleihe zugunsten von Bulgarien durchgesetzt hatte. Er erzählte mir viel von dem großen wirtschaftlichen und finanziellen Aufschwung Russlands ; allein in Deutschland habe Russland jetzt Guthaben in Höhe von 700 Millionen Mark. Dann sprach er über die politische Lage und fragte mich, ob ich glaube, dass es wegen der serbischen Aspirationen zum europäischen Krieg kommen werde. Ich antwortete, das müsse er besser wissen als ich, denn die Entscheidung Hege bei Russland. Er entgegnete, Deutschland müsse Österreich zur Vernunft bringen; wenn die Lage sich weiter zuspitze, müsse er sich als Finanzmann mit seiner Verantwortlichkeit abfinden und sich fragen, ob es richtig sei, so viel Geld im Ausland stehenzulassen. — Also ein deutlicher Wink, dass uns im Falle einer weiteren Komplikation die russischen Millionen abgezogen werden würden, deren Höhe Davydoff übrigens beträchtlich übertrieben hat. Ich stellte damals fest, dass die Deutsche Bank an Russland weit größere Forderungen hatte, als umgekehrt Russland bei ihr an Guthaben verfügte. Die Summe der russischen Guthaben bei sämtlichen deutschen Banken war zweifellos erheblich geringer als die von Davydoff genannte Ziffer, und von dieser geringeren Summe waren die sehr erheblichen kurzfristigen deutschen Forderungen an Russland abzusetzen. Die deutsche Politik ließ sich durch solche Bluffversuche nicht beirren.
In Wien war man mit der deutschen Unterstützung keineswegs ganz zufrieden. Gegenüber den beunruhigenden Gerüchten über ein österreichisch-ungarisches Ultimatum an Serbien, bevorstehende österreichisch-ungarische Mobilmachung usw., die von Wien aufflatterten, brachte die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" am 26. November ein energisches Dementi, dem ein Zusatz beigefügt war, die Mächte seien sich einig, die albanische und adriatische Frage erst im Verein mit den anderen aus den Vorgängen am Balkan entstandenen Fragen zu diskutieren und zu regeln. Das war die gleiche Richtlinie , wie sie Asquith in seiner Guildhall-Rede verkündigt hatte. In Wien war man über die ausdrückliche Festlegung dieses Standpunktes in dem offiziösen Organ der deutschen Regierung nicht sehr erfreut. Das Echo in den Wiener offiziösen Blättern war, die k. u. k. Regierung behalte völlige Freiheit in der Wahl des Zeitpunktes, der ihr zur Regelung der albanischen und adriatischen Frage gut scheine. Kiderlen sagte mir am nächsten Abend: Graf Berchtold wisse nie, was er wolle. Die Wiener Regierung könne sich nicht entschließen, die Besetzung Albaniens und der adriatischen Häfen durch Serbien zu verhindern; sie könne sich aber auch nicht dazu entschließen, klar zu sagen, dass die Regelung dieser Fragen für später vorbehalten bleiben solle. Wir seien bereit, uns hinter Österreich-Ungarn zu stellen ; aber gerade deshalb hätten wir ein Recht, zu hören, was die Wiener eigentlich wollten. Er fürchte sich nicht vor dem Krieg;