Der Trotzkopf. Emmy von Rhoden

Der Trotzkopf - Emmy von Rhoden


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      "Du bist unausstehlich!" entgegnete Flora aufgebracht. "Du freilich hast keine Ahnung von meiner Poesie, verstehst du doch nicht einmal deutsch zu sprechen!"

      "Das ist wahr," meinte Nellie lachend und verließ mit Ilse die schwerbeleidigte Dichterin.

      Melanie und Grete kamen ihnen jetzt entgegen. In ihrer Mitte führten sie ein junges Mädchen, sie mochte in Melanies Alter sein, mit lieben, sanften Gesichtszügen. Das braune Haar trug sie einfach und glatt gescheitelt, kein Härchen sprang widerspenstig hervor. Freundlich lächelte sie Ilse und Nellie an, die beiden Schwestern dagegen musterten im Vorübergehen die Neuangekommene mit spöttischen Blicken.

      "Die Schwestern kennst du," bemerkte Nellie, "sie sitzen dich gradeüber bei Tisch, aber unsre ›Artige‹ ist dich noch unbekannt. O, ich sage dich, Ilse, sie ist so artig wie eines ganz wohlgezogenes Kind. Sie ist immer der erste in alle Stunden und macht nie eine dummer Streich, kurz, Rosi Möller ist eines Musterkind."

      "Was sagst du von unsrem Musterkinde?" rief plötzlich eine fröhliche Mädchenstimme. "Nellie, Nellie, dein böses Zünglein geht sicher mit dir durch!"

      "Du irrst dir, liebes Lachtaube," entgegnete Nellie, "Ilse ist noch so fremd, ich mache ihr bekannt."

      "Wer war das?" fragte Ilse, als die kleine, runde Mädchengestalt, die an Orlas Arme hing, vorüber war.

      "Das ist Annemie von Bosse, genannt Lachtaube. Sie lacht sehr viel, eigentlich immer, und sie kann keine Ende davon finden. Man muß mitlachen, sie steckt an. – Nun habe ich dich aber alle Mädchen gezeigt, die in unsre Alter sind, die anderen sind zu jung oder es sind Engländerinnen. Von die ist nicht viel zu sage, sie sind alle langweilig und sie sprechen noch viel weniger gut deutsch als ich." –

      Mit dem Schlage neun begaben sich sämtliche Pensionärinnen zurück in das Haus. Bevor sie zur Ruhe gingen, war es Sitte, daß sich alle erst in das Zimmer der Vorsteherin begaben, um ihr gute Nacht zu wünschen. Dieselbe reichte jeder einzelnen einen Kuß auf die Stirn. Zuweilen ermahnte, lobte oder tadelte sie diese oder jene dabei, wenn sie den Tag über etwas gut oder schlecht gemacht hatten, alles geschah aber in liebevollem Tone, nicht anders als wie eine Mutter zu ihrem Kinde spricht.

      "Ich möchte noch mit dir sprechen, liebe Ilse," sagte Fräulein Raimar, als Ilse ihr gute Nacht bot. "Verweile noch einen Augenblick hier."

      Und als sämtliche Mädchen das Zimmer verlassen hatten, ermahnte sie Ilse, etwas manierlicher zu essen.

      "Du darfst die Tasse nicht mit beiden Händen fassen und die Ellbogen dabei aufstützen, Kind, du glaubst nicht, wie unschön das aussieht. Achte auf deine Mitschülerinnen, du wirst sehen, daß keine einzige es wie du macht. Und dann, weißt du, stecke nicht wieder so große Bissen in den Mund. Die kleinen Kinder machen es zuweilen so, aber dann nennt die Mama sie: Nimmersatt!"

      Ilse war dunkelrot geworden vor Aerger über die erhaltene Ermahnung. Trotzig biß sie die Lippen aufeinander und unterdrückte eine ungezogene Antwort.

      "Geh nun zu Bett, mein Kind, und schlafe gut."

      Sie war im Begriffe, Ilse einen Kuß auf die Stirn zu reichen, als diese mit einer heftigen Bewegung den Kopf zurückbog. Es war ihr unmöglich, sich von der Vorsteherin küssen zu lassen, die sie in diesem Augenblicke geradezu haßte.

      Fräulein Raimar wandte sich unwillig von dem Trotzkopfe ab, ohne noch etwas zu sagen, und Ilse verließ das Zimmer.

      Sie lief die Treppe hinauf und trat atemlos zu Nellie in das Zimmer. Die Thüre warf sie heftig in das Schloß und schob auch noch den Riegel vor, was in der Pension streng untersagt war.

      "Mach nicht der Riegel zu," sagte Nellie, "wir dürfen das nicht thun. Wenn wir in die Bett liegen, kommt Fräulein Güssow bei uns nachsehen."

      Ilse rührte sich natürlich nicht, und Nellie mußte das selbst besorgen. Ungestüm warf sie sich auf ihr Bett und brach in Thränen aus.

      "O, was ist dich?" fragte Nellie erschrocken.

      "Hier bleibe ich nicht! – Ich reise morgen fort! Wenn das mein Papa wüßte, wie sie mich behandelt hat!" rief Ilse aufgeregt.

      Durch viele Fragen bekam Nellie in einzelnen abgerissenen Sätzen von Ilse heraus, was Fräulein Raimar gesagt hatte.

      "Ich esse ungeschickt, – ich nehme zu große Bissen – und ich bin ein Nimmersatt! Zu Hause darf ich essen, wie und was ich will! – Ich will wieder fort! Morgen reise ich! –"

      "Du mußt dir nicht so viel grämen um so kleine Sach’," sagte Nellie sanft und strich liebkosend Ilses lockiges Haar. "Fräulein Raimar ist sehr gerecht, sie meint es gut und will dir nicht beleidigen. Mit uns alle macht sie es so. Wir sind doch jung und dumm und müssen noch lernen. – Nun komm, wir legen uns jetzt in die Bett und später, wenn Fräulein Güssow bei uns eingesehen hat, stehen wir ganz leise wie die Mäuschen wieder auf und packen deiner kleine Koffer leer."

      Aber so leicht war Ilse nicht zu beruhigen. "Nein!" rief sie und sprang auf, "der kleine Koffer bleibt verschlossen! Ich reise wieder fort!"

      Hastig zog sie sich aus, warf ihre Kleidungsstücke drunter und drüber und legte sich schluchzend in ihr Bett. Schweigend ordnete Nellie die zerstreuten Sachen, sie hing das schöne Kleid an einen Nagel, Ilse hatte dasselbe auf einen Stuhl geworfen, und legte alles übrige glatt und ordentlich zusammen. Dann ging auch sie zur Ruhe.

      Bevor sie indes ihr Lager bestieg, kniete sie vor demselben nieder, faltete die Hände und betete leise ein kurzes Gebet.

      "Gut’ Nacht, Ilse," sagte sie dann und gab ihr einen Kuß. "Du mußt nun nicht mehr weinen, – alle Anfang ist schwer."

      Aber Ilse weinte noch lange. Ihre Gedanken kehrten zum Vater zurück und begleiteten ihn auf seiner Rückreise. In wenigen Stunden mußte er die Heimat erreicht haben. Ach, wenn er wüßte, wie sein einziges Kind behandelt wurde! Sie fühlte sich zu unglücklich in der Gefangenschaft! – Wie ein Kind weinte sie sich in den Schlaf, aber böse Träume schreckten sie mehrmals auf. Bald hielt sie eine mächtige Theetasse in der Hand und ließ sie zur Erde fallen, bald hielt ihr die Vorsteherin im grauen Kleide ein heimatliches Butterbrot dicht vor den Mund, wollte sie aber zubeißen, war es verschwunden.

      III.

      Um sechs Uhr am andern Morgen hieß es: Aufgestanden! Da galt kein langes Besinnen, und wenn die jungen Glieder noch so sehr vom Schlafe befangen waren, es wurde keine Gnade geübt. Ilse pflegte daheim bald früh, bald spät aufzustehen, wie sie gerade Lust hatte. Einer bestimmten Ordnung, wie sie die Mama so sehr gewünscht, hatte sie sich nicht fügen wollen. Es wurde ihr denn auch nicht wenig schwer, so auf Kommandowort sich erheben zu müssen, gerade heute hatte sie den Wunsch, noch einigemal sich im Bette herumzudrehen, sie war so spät erst eingeschlafen. Aber daran war nicht zu denken, Nellie stand schon da und wusch sich. Mit einem Sprunge war sie Schlag sechs Uhr aus dem Bette gewesen.

      "Wach auf, Ilse," sagte sie, "um halb sieben trinken wir Kaffee."

      "Schon aufstehen," antwortete die Verschlafene, "aber ich bin noch so müde."

      "Thut nix, du darfst nicht mehr schlafrig sein."

      Aber Ilse zögerte noch. Nellie stand schon fertig da, ja hatte schon alles, was sie zur Nacht- und Morgentoilette nötig hatte, beiseite geräumt, als sie sich langsam erhob.

      "O Ilse, eile dir, du hast nur zehn Minuten Zeit! Schnell, schnell, ich will dich helfen! Wo sind dein Kamm?"

      Ilse zeigte auf ein Papier, das im Fenster lag. "Dort liegen sie eingewickelt," gab sie zur Antwort.


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