Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
entgegen, grüßte sie wie eine Hoffnung und flehte sie an, mich ihre Silberstimme hören zu lassen; dann erwachte ich weinend. Eines Tages, nachdem sie mir versprochen hatte, mit mir ins Theater zu gehen, weigerte sie sich plötzlich launisch, auszugehen, und bat mich, sie allein zu lassen. Verzweifelt über einen Widerspruch, der mich einen ganzen Arbeitstag und – soll ich es gestehen? – meinen letzten Taler gekostet hatte, begab ich mich dahin, wo auch sie hätte sein sollen, da ich das Stück sehen wollte, das sie zu sehen gewünscht hatte. Kaum hatte ich Platz genommen, als ich etwas wie einen elektrischen Schlag im Herzen fühlte. Eine Stimme sagte mir: Sie ist da! Ich drehte mich um, ich sehe die Comtesse im Hintergrund ihrer Parterreloge, im Schatten verborgen. Mein Blick zögerte nicht, meine Augen fanden sie sogleich mit ihrer fabelhaften Klarheit, meine Seele war ihrem Leben zugeflogen wie ein Insekt seiner Blume. Auf welche Weise hatten meine Sinne die Mitteilung empfangen? Sie rührt her von jenem inneren Erschauern, das oberflächliche Menschen überraschen mag; und doch sind diese Wirkungen unserer inneren Natur ebenso einfach wie die gewohnten Erscheinungen der äußeren Wahrnehmung; somit war ich nicht erstaunt, sondern ärgerlich. Meine Studien über die Macht unseres Geistes, über die man recht wenig weiß, dienten wenigstens dazu, mir in meiner Leidenschaft einige lebendige Beweise für mein System vor Augen zu führen. Diese Verbindung des Gelehrten mit dem Verliebten, einer wahrhaft abgöttischen mit einer wissenschaftlichen Liebe hatte etwas höchst Seltsames. Die Wissenschaft frohlockte oft, wenn der Liebende verzweifelte; und wenn er sich nahe dem Siege glaubte, jagte er frohen Herzens die Wissenschaft von dannen. Fœdora sah mich und wurde ernst, ich störte sie. In der ersten Pause ging ich zu ihr; sie war allein, ich blieb. Obwohl wir nie von Liebe gesprochen hatten, ahnte ich eine Erklärung. Ich hatte ihr mein Geheimnis noch nicht enthüllt, und doch herrschte zwischen uns eine Art Spannung; sie vertraute mir alle ihre Vergnügungspläne an und fragte mich am Abend mit einer gewissen freundschaftlichen Unruhe, ob ich am folgenden Tag kommen würde; sie befragte mich mit einem Blick, wenn sie etwas Geistreiches gesagt hatte, als ob sie ausschließlich mir hätte gefallen wollen; wenn ich schmollte, wurde sie zärtlich; wenn sie verärgert schien, hatte ich sozusagen das Recht, die Ursache zu erfragen; wenn ich ihr einen Fehler eingestand, ließ sie sich lange bitten, bis sie mir vergab. Diese Streitereien, an denen wir Gefallen fanden, waren voll Liebe. Sie entfaltete dabei so viel Anmut und Koketterie, und ich, ich fand so viel Glück darin! In diesem Augenblick war unsere Intimität vollständig aufgehoben, und wir saßen beieinander wie zwei Fremde. Die Comtesse war eisig; ich befürchtete ein nahendes Unglück.
»Sie werden mich begleiten«, sagte sie, als das Stück zu Ende war. Das Wetter war plötzlich umgeschlagen. Als wir ins Freie kamen, fiel ein mit Regen vermischter Schnee. Der Wagen Fœdoras konnte nicht bis an das Portal des Theaters fahren. Ein Dienstmann hielt sofort, als er die feine Dame sah, die genötigt war, den Boulevard zu überschreiten, einen Regenschirm über unsere Köpfe und verlangte, als wir eingestiegen waren, den Lohn für seinen Dienst. Ich hatte nichts; zehn Jahre meines Lebens hätte ich hingegeben, um zwei Sous zu haben. Alles, was den Mann ausmacht, all seine tausend Eitelkeiten, wurden von einem höllischen Schmerz in mir zermalmt. Die Worte: »Ich habe kein Geld, mein Lieber!« wurden in einem harten Ton gesprochen, der meiner gekränkten Liebe zu entspringen schien, gesprochen von mir, dem Bruder dieses Mannes, von mir, der das Elend so gut kannte, von mir, der einst 700 000 Francs leichten Herzens hingegeben hatte. Der Diener stieß den Dienstmann beiseite, und die Pferde zogen an. Während der Heimfahrt war Fœdora zerstreut oder gab sich den Anschein, anderes im Kopf zu haben, und antwortete einsilbig und geringschätzig auf meine Fragen. Ich verstummte. Es war ein schrecklicher Moment. Als wir bei ihr angelangt waren, setzten wir uns an den Kamin. Nachdem der Diener das Feuer geschürt und sich entfernt hatte, wandte sich die Comtesse mit einer undurchdringlichen Miene mir zu und sagte mit einer Art Feierlichkeit: »Seit meiner Rückkehr nach Frankreich hat mein Vermögen so manchen jungen Mann in Versuchung geführt; man hat mir Liebeserklärungen gemacht, die meinen Stolz hätten befriedigen können; ich bin Männern begegnet, deren Zuneigung so aufrichtig und so tief war, daß sie mich auch dann noch geheiratet hätten, wenn sie in mir nur das arme Mädchen gefunden hätten, das ich ehemals war. Lassen Sie sich weiterhin sagen, Monsieur de Valentin, daß man mir neue Reichtümer und neue Titel angeboten hat; doch merken Sie sich auch, daß ich diejenigen nie wiedergesehen habe, die so schlecht beraten waren, zu mir von Liebe zu sprechen. Wenn meine Zuneigung zu Ihnen oberflächlich wäre, würde ich Ihnen diese Warnung nicht erteilen, aus der mehr Freundschaft als Stolz spricht. Eine Frau setzt sich der Gefahr aus, beleidigt zu werden, wenn sie sich, in dem Glauben, daß man sie liebt, von vornherein einem doch immer schmeichelhaften Gefühl versagt. Ich kenne die Szenen von Arsinoë,31 von Araminte32 und bin folglich auch mit den Antworten vertraut, die ich unter solchen Umständen zu hören bekäme; doch heute hoffe ich, von einem überragenden Mann nicht mißverstanden zu werden, weil ich ihm meine Seele aufrichtig gezeigt habe.« Sie drückte sich mit der Kaltblütigkeit eines Advokaten oder Notars aus, der seinem Klienten das Für und Wider eines Prozesses oder die Artikel eines Vertrags auseinandersetzt. Der helle, bestrickende Klang ihrer Stimme verriet nicht die mindeste Erregung; nur ihr Gesicht und ihre Haltung, wenn auch wie immer vornehm und taktvoll, schienen mir von einer diplomatischen Kälte und Trockenheit. Sie hatte sich offenbar ihre Worte überlegt und den Ablauf dieser Szene geplant. Oh, mein lieber Freund, wenn gewisse Frauen eine Lust daran finden, uns das Herz zu zerreißen, wenn sie vorhaben, uns einen Dolch hineinzustoßen und ihn in der Wunde umzudrehen, so sind diese Frauen anbetungswürdig, denn sie lieben und wollen geliebt sein! Eines Tages werden sie uns für unsere Schmerzen belohnen, wie Gott, heißt es, uns unsere guten Werke anrechnen wird; sie werden uns das Hundertfache des Leides, dessen Tiefe sie erkennen, mit Freuden vergelten: ist ihre Bosheit nicht voller Leidenschaft? Aber von einer Frau gemartert zu werden, die uns mit Gleichgültigkeit tötet, ist das nicht eine wahnwitzige Qual? In diesem Augenblick trat Fœdora, ohne es zu wissen, alle meine Hoffnungen mit Füßen, zerbrach mein Leben und zerstörte meine Zukunft mit der kalten Unbekümmertheit und unschuldigen Grausamkeit eines Kindes, das aus Neugierde einem Schmetterling die Flügel ausreißt. ›Später‹, fügte Fœdora hinzu, werden Sie, hoffe ich, die Zuverlässigkeit der Neigung erkennen, die ich meinen Freunden entgegenbringe. Sie werden mich immer gütig und ergeben ihnen gegenüber finden. Ich könnte ihnen mein Leben weihen, doch würden Sie mich verachten, wenn ich ihre Liebe erduldete, ohne sie zu teilen.