Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
alle solche launenhaften Gefühle im jugendlichen Alter entstehen, diese süßen und doch so bitteren Irrtümer, die einen so unheilvollen Einfluß auf die Existenz junger Mädchen ausüben, die so unerfahren sind, daß sie die Sorge für ihr zukünftiges Glück allein auf sich nehmen. Am andern Morgen, während Emilie noch schlief, begab sich ihr Onkel eiligst nach Chevreuse. Hier fand er auf dem Hofe einer eleganten Villa den jungen Mann vor, den er am Abend vorher so rücksichtslos beleidigt hatte; mit der liebenswürdigen Höflichkeit der alten Herren am früheren Hofe ging er auf ihn zu.
»Mein verehrter Herr, wer hätte gedacht, daß ich im Alter von dreiundsiebzig Jahren noch in eine Affäre mit dem Sohne oder dem Enkel eines meiner besten Freunde verwickelt werden könnte! Ich bin Vizeadmiral, mein Herr. Das darf wohl heißen, daß mich ein Duell so wenig bekümmert wie das Rauchen einer Zigarre. Zu meiner Zeit konnten zwei junge Leute erst intime Freunde werden, nachdem sie die Farbe ihres Blutes gesehen hatten. Aber gestern, beim heiligen Kreuz, hatte ich etwas zu viel Rum geladen und bin an Ihnen gekentert. Merken Sie sich: ich würde mich lieber hundert Zurechtweisungen von seiten eines Longueville aussetzen, als seiner Familie den geringsten Kummer bereiten.«
Wie kühl sich auch der junge Mann gegen den Grafen Kergarouet zu benehmen suchte, lange konnte er doch nicht der freimütigen Herzlichkeit seines Gegners widerstehen und ließ sich von ihm die Hand drücken.
»Sie wollten ausreiten,« sagte der Graf, »lassen Sie sich nicht stören. Wenn Sie aber nichts anderes vorhaben, dann begleiten Sie mich, ich lade Sie heute zum Essen in die Villa Planat ein. Mein Neffe, der Graf von Fontaine, ist ein Mann, den Sie kennenlernen müssen. Potz Wetter, ich habe die Absicht, Sie zur Entschädigung für meine Grobheit fünf der hübschesten Frauen von Paris vorzustellen. Ha, ha, junger Mann, Ihre Stirn glättet sich. Ich liebe die Jugend und freue mich, wenn ich sie glücklich sehe. Das ruft mir die schönen Jahre meiner Jugend zurück, der weder Abenteuer noch Duelle gefehlt haben. Wie war man damals lustig! Heute seid ihr Klugredner geworden, man sorgt sich um alles, als ob es niemals ein fünfzehntes und sechzehntes Jahrhundert gegeben hätte.«
»Aber, verehrter Herr, haben wir nicht recht damit? Das sechzehnte Jahrhundert hat Europa die Religionsfreiheit geschenkt, das neunzehnte wird ihm die politische Frei …«
»Ach, reden wir nicht von Politik. Ich bin ein hartgesottener Reaktionär, wissen Sie. Aber ich hindere die jungen Leute nicht, Revolutionäre zu sein, wenn sie nur dem König gestatten, ihre Aufläufe zu zerstreuen.«
Einige Schritte weiter, als der Graf und sein junger Begleiter mitten im Gehölz waren, sah der Seemann eine junge, ziemlich schlanke Birke, hielt sein Pferd an, zog eine seiner Pistolen heraus und schoß auf fünfzehn Schritt Entfernung eine Kugel mitten in den Baum.
»Sie sehen, mein Lieber, ich brauche ein Duell nicht zu scheuen,« sagte er mit komischer Würde und sah Herrn Longueville an.
»Ich auch nicht,« erwiderte dieser, zog schnell seine Pistole, zielte auf das Loch, das die Kugel des Grafen gemacht hatte, und plazierte die seinige dicht daneben.
»Das nenne ich einen wohlerzogenen jungen Mann,« rief der Seemann mit einer gewissen Begeisterung.
Während des Rittes, den er mit dem Manne machte, den er schon als seinen Neffen ansah, fand er tausend Anlässe, ihn über all die Kleinigkeiten auszufragen, deren genaue Kenntnis, nach seinem besonderen Kodex, ihn erst zu einem vollkommenen Gentleman machte.
»Haben Sie Schulden?« fragte er seinen Begleiter schließlich nach vielen andern Fragen.
»Nein.«
»Wie, Sie bezahlen alles, was Sie kaufen?«
»Pünktlich, mein Herr. Sonst würden wir jeden Kredit und jede Achtung einbüßen.«
»Aber Sie haben doch wenigstens mehr als eine Geliebte? Was, Sie werden rot, Kamerad? … Wie haben sich die Sitten geändert. Mit diesen Ideen von gesetzmäßiger Ordnung, mit dem Kantismus und der Freiheit ist die Jugend verdorben worden. Ihr habt weder eine Guimard, noch eine Duthé, noch Gläubiger, und ihr versteht nichts von Heraldik; aber, junger Freund, dann habt ihr ja gar keine ›Erziehung‹ genossen! Merken Sie sich; wer seine Dummheiten nicht im Frühling macht, der macht sie im Winter. Wenn ich mit siebzig Jahren achtzigtausend Franken Rente habe, so ist das wahrscheinlich deshalb, weil ich mit dreißig Jahren das Kapital aufgezehrt hatte … oh, in allen Ehren, mit meiner Frau. Aber Ihre Unvollkommenheiten werden mich nicht hindern, Ihren Besuch in der Villa Planat anzukündigen. Denken Sie daran, daß Sie mir versprochen haben, hinzukommen, ich erwarte Sie dort.«
»Was für ein merkwürdiger kleiner Alter,« sagte sich der junge Longueville, »wie ein junger Teufelskerl; aber wenn er sich auch den Anschein eines Biedermannes gibt – ich traue ihm nicht.«
Am andern Tage gegen vier Uhr, als die Gesellschaft sich in den Salons und im Billardzimmer aufhielt, meldete ein Diener den Bewohnern der Villa Planat »Herrn von Longueville«. Beim Namen des Günstlings des Grafen von Kergarouet strömte die ganze Gesellschaft, bis auf den Billardspieler, der im Begriff war, einen Fehlstoß zu machen, zusammen, um Fräulein von Fontaines Haltung zu beobachten und den Phönix in Menschengestalt zu prüfen, der, im Gegensatz zu so vielen Rivalen, sich eine ehrenvolle Erwähnung verdient hatte. Seine ebenso vornehme wie einfache Kleidung, seine liebenswürdigen Manieren, sein höfliches Wesen, seine weiche Stimme, deren Klang zu Herzen ging, gewannen Herrn Longueville das Wohlwollen der ganzen Familie. Die Pracht der Wohnung des reichen Generaleinnehmers schien ihm nichts Ungewohntes zu sein. Seine Unterhaltung war die eines Mannes von Welt, aber jeder konnte leicht merken, daß er eine vorzügliche Erziehung genossen hatte und die besten und ausgedehntesten Beziehungen besaß. Er zeigte sich bei einem harmlosen Gespräch über Schiffsbauten, das der alte Seemann begonnen hatte, in der Materie so bewandert, daß eine der Damen bemerkte, er müsse die polytechnische Schule besucht haben. »Gnädige Frau,« antwortete er, »ich glaube, man kann es als einen Ruhmestitel ansehen, wenn man dort aufgenommen wird.«
Trotz lebhaften Drängens lehnte er höflich aber bestimmt die Bitte ab, zum Essen dazubleiben, und schnitt die Gegengründe der Damen mit der Bemerkung ab, daß er der Hippokrates seiner jungen Schwester sei, deren zarte Gesundheit seine besondere Sorgsamkeit erfordere.
»Der Herr ist wohl Arzt?« fragte eine Schwägerin Emilies ironisch.
»Der Herr hat die polytechnische