Der Gehülfe. Robert Walser
fünfunddreißig Jahre, und das ist ein Alter, wo gewisse Leidenschaften, wenn sie der Träger nicht vorher gelernt hat zu bezwingen, ein schreckliches Aussehen und eine furchtbare Ausdehnung anzunehmen pflegen. Der Alkoholgenuß machte jeweils, das heißt von Zeit zu Zeit aus diesem Menschen ein wildes, unvernünftiges Tier, mit dem begreiflicherweise nichts anzufangen war. Mehrfach wies ihm Herr Tobler auch die Tür und befahl ihm, seine Sachen zu packen und sich nie wieder blicken zu lassen. Wirsich ging dann auch, fluchend und Beleidigungen ausstoßend, zum Haus hinaus, kehrte aber jeweils, sobald er wieder er selber geworden war, mit einem zerknirschten Armesündergesicht zu der Schwelle zurück, die nie wieder zu betreten er ein paar Tage vorher im Unfug und Wahnsinn seiner Betrunkenheit heftig geschworen hatte. Und Wunder: Tobler behielt ihn immer wieder. Er hielt ihm bei solcher Gelegenheit je eine gesalzene Strafpredigt, wie man sie auch ungezogenen Kindern gegenüber anwendet, sagte ihm aber dann, er könne dableiben, man wolle über das Vergangene einen Schleier werfen und es nochmals mit ihm probieren. Das geschah vier oder fünf Male. Wirsich hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Dies trat besonders hervor, wenn er den Mund zu einer Bitte oder Abbitte auftat. Er erschien in diesem Fall so vollkommen reuig und unglücklich, daß es den Toblers warm und heiß wurde und sie ihm verziehen, ohne daß sie sich Rechenschaft gaben, warum eigentlich. Dazu kam noch der sonderbare, wie es schien, tiefgehende Eindruck, den es Wirsich verstand auf die Personen weiblichen Geschlechtes zu machen. Es ist als ziemlich sicher anzunehmen, daß auch Frau Tobler diesem fremdartigen Zauber, diesem Unerklärlichen, nicht widerstand. Sie respektierte ihn, solange er ruhig und vernünftig blieb, und mit dem Rohling und Wüstling hatte sie ein ihr selber ganz unerklärbares Mitleiden. Schon sein Äußeres war ja wie für das Urteil der Frauen geschaffen. Seine scharfen, männlichen Gesichtszüge, in der Schärfe und Sicherheit durch eine blasse Hautfarbe noch unterstützt, sein schwarzes Haar, seine tiefliegenden, großen, dunklen Augen gefielen ebenso unwillkürlich wie eine gewisse Trockenheit, die seinem ganzen sonstigen Auftreten und Wesen anhaftete. Eine solche Hausbackenheit macht in der Regel den Eindruck der Herzensgüte und der Charakterfestigkeit, zwei Erscheinungen, denen keine fühlende Frau widersteht.
Und so kam es, daß Wirsich immer wieder von neuem angenommen wurde. Was eine Frau beim Mittagstisch zu ihrem Mann in leichtem, lachendem, reichem Ton sagt, bleibt nie gänzlich ohne Einfluß, hier um so weniger als ja Tobler selber »diesen unglückseligen Menschen immer gern hatte leiden mögen«. Die Mutter des Wirsich kam regelmäßig bei Anlaß einer Wiederanstellung ihres Sohnes in die Villa hinauf, um für denselben zu danken. Auch sie mochte man gern leiden. Übrigens sind einem ja die Menschen, die man Macht und Einfluß hat fühlen lassen, immer lieb. Die Wohlhabenheit und Gutbürgerlichkeit demütigt gern, nein, vielleicht das nicht gerade, aber sie schaut doch ganz gern auf Gedemütigte hernieder, was eine Empfindung ist, der man eine gewisse Gutmütigkeit, aber auch eine gewisse Roheit nicht absprechen kann.
Eines Nachts nun trieb es Wirsich doch zu bunt. Er kam aus der an der Landstraße gelegenen, stark von allerhand vagabundierendem Volk, darunter unsaubern Weibern, frequentierten Wirtsstube zur »Rose« vollständig berauscht, schreiend und tobend, nach Hause und begehrte Einlaß. Da man ihm diesen verweigerte, zertrümmerte er mit Hilfe eines Hackenstockes, den er bei sich trug, die Haustürscheibe und dann das Gitter derselben, soweit ihm das gelang. Auch drohte er mit fürchterlicher und unkenntlicher Stimme mit »Anzünden des ganzen Nestes«, wie er sich in der Wildheit und Zerstörtheit seines Kopfes ausdrückte, brüllte, daß ihn nicht nur die Nachbarschaft, sondern auch die weiter in der Umgegend wohnenden Leute hören mußten, und gefiel sich in schmählichen Verwünschungen gegen seine Wohltäter. Schon hatte er, von den Körperkräften aller Besinnungslosen und Unempfindlichen unterstützt, beinahe die Türe eingeworfen, das Schloß und der Riegel wackelten schon bedenklich, als Herr Tobler, der, wie es schien, endlich die Geduld verloren hatte, die Türe von innen her aufriß und über den Trunkenbold mit einem Hagel von Stockschlägen herfiel, der denselben zu Boden auf den Kies warf. Auf den nicht zu mißverstehenden Befehl Toblers, sich sofort vom Platz wegzubegeben, da sonst weitere und ähnliche Hiebe seiner harren würden, erhob sich Wirsich auf allen Vieren, um aus dem Garten zu rutschen. Einige Male fiel die Gestalt des Säufers, vom Mond beleuchtet, so daß die Obenstehenden jede seiner ungeheuerlichen Bewegungen verfolgen konnten, wieder an die Erde, stund wieder auf und warf sich endlich, einem plumpen Bären ähnlich, vollends zum Garten an die Landstraße hinaus, worauf sie sich gänzlich verlor.
Zwei Wochen nach diesem nächtlichen Vorfall hielt Tobler ein umfangreiches Entschuldigungsschreiben Wirsichs in der Hand, worin der Übeltäter in scheinbar geradezu klassischem Stil Besserung versprach und bat, Herr Tobler möchte ihn doch noch ein einziges Mal anstellen, da sich Wirsich sonst der bittersten Not preisgegeben sähe. Beide, er sowohl als seine alte Mutter, bäten inständig um eine nochmalige, wenn auch letzte Zuwendung der alten, wohltuenden Gunst, die er, er bekenne es schmerzhaft und aufrichtig, nun schon so oft verscherzt habe. Wirsich, hieß es in dem Schreiben zum Schluß, sehne sich so sehr nach dem Haus, nach der ganzen ihm lieb und wert gewordenen Familie, nach der Stätte der früheren Wirksamkeit zurück, daß er sich sagen müsse, entweder er dürfe auf eine Neubelebung all dieser Dinge hoffen und darüber froh sein, oder der Riegel sei ihm ein für allemal zugeschoben und für ihn bleibe nur noch die Verzweiflung, die Reue, die Scham und die Bitternis übrig.
Es war indessen zu spät. Der Riegel war in der Tat schon vorgeschoben, es war schon ein Ersatz im Haus. Gleich am nächsten Morgen nach jener wüsten Nachtszene hatte sich Tobler nach der Hauptstadt in das Bureau für Stellenvermittlung begeben und hatte dort Joseph verpflichtet. Das obige Schreiben gelangte an demselben Tage wie Joseph ins Toblersche Haus.
Die sonntäglichen Gäste aber waren niemand anders als Wirsich und seine Mutter.
Von der Bewegung des Badens erfrischt begrüßte Joseph seinen Vorgänger herzlich. Vor der alten Frau machte er eine leichte Verbeugung. Er sah wohl auf den ersten Blick, daß die Stimmung am Mittagstisch eine ziemlich gedrückte war. Man sprach wenig, und das Wenige der Unterhaltung war allgemeiner Natur. Etwas Klägliches, Zimperliches hatte sich rund um das weiße Tischtuch und um die dampfenden und duftenden Speisen und um die Menschengesichter herum breit gemacht. Herr Tobler machte »seine größten Augen«, im übrigen war er fröhlich und freundlich und ermunterte seine Gäste in wohlwollend-herablassendem Ton, zuzugreifen. Jedes Essen schmeckt nach jedem Baden, auch im Freien, unter solch einem blauen Himmel, will fast jedes Essen schmecken, dieses heutige Essen aber fand Joseph geradezu herrlich, so einfach es auch war. Auch den andern schien es zu munden, nicht zum mindesten der alten Frau Wirsich, die sich heute mit einem Schein von feinerem Weltgebaren umgeben hatte. Wo mochte diese ärmliche Dame sonst wohnen, und wie? In welchen Zimmern und in was für Umgebungen? Wie dürftig und mager sie aussah! Gleichsam sparsam oder gespart oder spärlich sah sie aus, besonders neben dieser üppigen, bürgerlichen, in Fülle und Wärme geborenen und erzogenen Frau Tobler. Frau Wirsich und Frau Tobler. Ja, das waren, wenn es in der Welt irgendwie Differenzen gab, Unterschiede vom klarsten, reinsten Wasser.
Immer ein bißchen hochmütig sieht Frau Tobler aus, aber wie gut steht zu den Linien ihres Gesichtes und Körpers diese beständige, zarte Spur von Hochmut. So etwas will man von ihrer Figur gar nicht wegwünschen, denn es gehört ganz einfach dazu, wie der tönende, unaussprechliche Zauber zu einem Volkslied. Dieses Lied klingt fein und in den allerhöchsten Tönen, Frau Wirsich verstand und empfand es gar wohl. Wie kläglich das eine Lied ertönte und wie voll das andere. Herr Tobler schenkte Rotwein ein. Er wollte auch Wirsich einschenken, aber die Mutter verdeckte rasch das Glas ihres Sohnes mit der alten, verknöcherten Hand.
»Ah bah, warum denn jetzt nicht? Er muß doch auch etwas trinken,« rief Tobler.
Da stürzten plötzlich Tränen in die Augen der alten Frau. Alle sahen es und erbebten. Wirsich wollte seiner Mutter irgend etwas zuflüstern, aber eine steife, steinerne Macht, deren er sich nicht zu erwehren vermochte, lähmte ihm den Gebrauch der Zunge. Er saß da wie ein Stockfisch und schaute auf sein eigenes, zaghaftes Essen hinab. Frau Wirsich hatte die Hand zurückgenommen, gleichsam erklärend, es sei ihr nun gezwungenermaßen ganz gleichgültig, ob jetzt ihr Sohn trinke oder nicht. Ihre Bewegung sagte: Ja, schenkt ihm nur ein. Es ist ja doch alles verloren! Wirsich nippte ein wenig an dem Glas, er schien eine unwiderstehliche Scheu zu haben vor dem Genuß des Dinges, das ihn von einer in der Tat für ihn gemütlichen Weltposition herabgestürzt hatte.